Liebe Studierende hier in der Staatsbibliothek in Berlin und in ganz Deutschland, für Sie alle hat in diesen Tagen das Sommersemester begonnen. Dieses Sommersemester 2021, es ist schon das dritte Semester in der Pandemie, in dem die Hochschulen geschlossen sind, das dritte, das fast ausschließlich digital stattfinden wird. Was das für Ihr Studium heißt, das hat sich vermutlich niemand von Ihnen vor einem Jahr auch nur im Entferntesten vorstellen können. Und auch wenn es nach diesem furchtbar langen Jahr Hoffnung gibt, Hoffnung vor allem durch eine Impfkampagne, die spürbar Fahrt aufnimmt in diesen Tagen – jetzt stehen wir erst einmal vor der Herausforderung, die dritte Welle zu brechen.
Ich freue mich sehr, dass ich heute hier sein kann, hier in diesem so wunderbar restaurierten Treppenhaus der Staatsbibliothek Unter den Linden in Berlin. Ihnen, liebe Frau Schneider-Kempf, danke ich, dass Sie dieses Treffen möglich gemacht haben, auch wenn wir es uns ein wenig anders gewünscht hätten: in einem großen Saal, mit möglichst vielen Studentinnen und Studenten und möglichst lebendigen Diskussionen.
Stattdessen sitzen nur ein paar wenige heute vor mir auf dieser Treppe, einzeln und mit großem Abstand, alle anderen sind an den Bildschirmen zugeschaltet. Den offenen und regen Austausch, den ich mir mit vielen von Ihnen gewünscht hätte, können wir im Anschluss an meine Rede nur im kleinen Kreis führen. Und die Bibliothek da oben am Ende der Stufen, dieser Hort des Wissens, ist geschlossen, wie die meisten anderen in Deutschland auch.
Aber vielleicht beschreibt all das Ihre Lage ja ganz gut. Sie sind, wie so viele andere junge Leute in unserem Land, in einer ganz entscheidenden Phase: in der Ausbildung. In einer Phase, in der man normalerweise nach oben stürmt, die Treppe hinauf, raus ins Leben, oft zwei Stufen auf einmal nehmend oder auch drei.
Sie aber sitzen fest. Weit entfernt voneinander. Und meistens vor dem Bildschirm. Sie sitzen fest auf der Lebens- und Karrieretreppe und fragen sich, wohin sie führt. Nach oben? Oder nach unten? Sie fühlen sich in Ihren Plänen und in Ihrem Leben ausgebremst, so haben es mir junge Leute, Schüler, Studentinnen, Auszubildende geschildert, mit denen ich gerade in den vergangenen Wochen und Monaten oft und immer wieder gesprochen habe.
Ja, gerade Sie, die Jungen, die unser Land für seine Zukunft so sehr braucht, trifft die Pandemie besonders hart. Und trotzdem bestimmen Ihre Sorgen, Ihre Probleme, ja auch Ihre Not nicht die Themen der Talkshows und der inzwischen zahllosen täglichen Sondersendungen. In der falschen Erwartung, diese Pandemie schnell hinter uns zu lassen, hatten wir als Gesellschaft gemeinsam vielleicht zu wenig im Blick, was dieser harte und tiefe Einschnitt, dieses Ausgebremstsein für junge Menschen bedeutet, junge Menschen, die voller Lust und Energie am Anfang ihres Lebens stehen, am Fuße der Treppe sozusagen.
Wir sind davon ausgegangen, dass das schon irgendwie klappen wird in dieser schwierigen Zeit, auch an den Universitäten. Und es stimmt ja: Sie alle – die Verwaltungen, die Lehrenden und die Lernenden – haben Enormes geleistet im vergangenen Jahr. Es ist Ihnen gelungen, den Lehrbetrieb trotz aller Hindernisse weitgehend aufrechtzuerhalten, obwohl er praktisch komplett auf digitale Formate umgestellt werden musste, einschließlich der Prüfungen. Das war und ist eine riesige Kraftanstrengung von Ihnen allen – und ich schließe ganz explizit die administrativen und technischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hochschulen mit ein, die fast nie auf der großen akademischen Bühne zu sehen, aber gerade in einer solchen Ausnahmesituation besonders wichtig sind. Ihnen allen möchte ich heute ganz herzlich danken!
Trotzdem: Es hat an vielen Stellen gehakt und geklemmt – und dieses Haken und Klemmen, es ist eben nicht allein der Politik vorbehalten; auch die Universitäten waren längst nicht überall für das digitale Zeitalter gerüstet. Es fehlt an starken Datenleitungen, es fehlt an Ausrüstung, Experimente und Praktika finden nicht statt. Und mitunter haben einige von Ihnen sicher auch die Bereitschaft vermisst, in der Krise auch einmal ganz schnelle, unkonventionelle Lösungen zu suchen und zuzulassen.
Ja, auch an den Hochschulen hat die Corona-Krise unserem Land den Spiegel vorgehalten: unzureichende technische Ausrüstung, zu viele starre Regeln, zu wenig Flexibilität. Daraus müssen wir lernen: Unser Land muss mutiger, muss zukunftsfähiger werden – und wie so vieles hier beginnt, so sollte auch dies an den Universitäten beginnen!
Ich vermute aber, die wichtigste Erkenntnis nach einem Jahr digitalen Studierens ist für die meisten von Ihnen wohl diese: wie unentbehrlich die Hochschule als Ort der Begegnung ist!
Wilhelm von Humboldt, der große preußische Gelehrte, ohne dessen Ideen unser Bildungssystem und unsere Universitäten gar nicht denkbar sind, dieser Wilhelm von Humboldt war überzeugt, dass die Universitäten Orte des Lernens und Orte der Freiheit sein müssen. Und er war überzeugt, dass Lehrende und Lernende dafür ein Höchstmaß an Einsamkeit und Freiheit
brauchen. Nach über einem Jahr sagen vermutlich viele von Ihnen: So viel Einsamkeit war nie, und so wenig Freiheit auch – es reicht uns!
Ja, Universitäten sind öffentliche Räume. Wenn sie geschlossen sind, dann fehlen sie Ihnen, aber dann fehlen sie auch der demokratischen Gesellschaft. Viele, gerade kleine Universitätsstädte fühlen sich in der Pandemie an wie verwaist, und viele von Ihnen fühlen sich geradezu unsichtbar in der Lockdown-Gesellschaft, wie verschluckt von der Vergangenheit, oftmals zurück im Elternhaus, vielleicht sogar im ehemaligen Kinderzimmer.
Ich bin überzeugt: Die Universität als öffentlicher Raum wird durch Digitalisierung niemals überflüssig, niemals obsolet! Ein Präsenzstudium, das von der Begegnung, vom Austausch lebt, können auch noch so viele Zoom-Konferenzen niemals ersetzen. Der Splitscreen, die Verkachelung
der Universitäten, wie es der Berliner Historiker Paul Nolte formuliert hat, die darf nicht zur Normalität werden.
Es leidet ja nicht nur die Qualität der Ausbildung. Nein, es fällt so vieles weg, was ein Studium ausmacht, übrigens auch in meiner eigenen Erinnerung an die Unizeit in den 70er Jahren: der kurze Wortwechsel mit dem Professor, der Professorin auf dem Gang nach der Vorlesung, die spontane Begegnung in der Mensa, die hitzige politische Diskussion abends in der Kneipe, die – je länger der Abend – auf wundersame Weise immer fröhlicher wird. Und vor allem dies: die Neugier, das Ungeplante, das Fachfremde – ein Abstecher mal ins Geschichtsseminar, mal in die Philosophie, die Architektur oder – wenn ich mich mal so richtig doof fühlen wollte – sogar in die Biochemie. Sie staunen. Ja, selbst wir Juristen sind nicht immer so stromlinienförmig, wie Sie vielleicht denken. Und wenn Sie es Ihrem Kommilitonen mit der gebügelten Hose aus der Rechtswissenschaft nicht glauben, dann glauben Sie es wenigstens Ihrem Bundespräsidenten.
Natürlich leiden wir unter dieser Pandemie nicht nur als Lernende oder Lehrende. Sondern wir leiden als Menschen, als soziale Wesen. Die meisten von Ihnen haben die Kontaktbeschränkungen mit bewundernswerter Disziplin und Rücksichtnahme eingehalten. Gerade Sie, die jungen Leute, sehnen sich nach Ihren Freundinnen und Freunden, nach Ihren Familien, Sie wollen ausgehen, Sie wollen zusammen feiern, Musik machen oder Sport treiben, zusammen verreisen, die Welt entdecken. Zusammen die Treppe hinaufstürmen.
All das fehlt. Sie vermissen es jeden Tag.
Aber noch etwas fehlt: Auslandsaufenthalte; auch sie sind fast unmöglich. Wer das als verzichtbaren Luxus abtut, dem möchte ich entgegenhalten, wie wichtig diese Erfahrung ist – auch für die europäische Idee! Europa lebt von offenen Grenzen, vom Austausch in Wissenschaft und Forschung, es lebt davon, dass junge Leute in andere Länder gehen und andere Kulturen kennenlernen. Und umgekehrt studieren derzeit viel weniger junge Menschen aus dem Ausland bei uns. Auch sie fehlen! Ich finde, diese lebenswichtige Erfahrung darf nach der Pandemie nicht einfach wegfallen, und ich fände es gut, wenn Europa Ihnen dieses Signal senden würde und Ihnen allen zusichert, dass Sie Ihre Erasmus-Erfahrung ohne akademische oder finanzielle Nachteile nachholen können!
Zu alldem kommt: Viele von Ihnen haben bedrückende finanzielle Sorgen, weil sie wegen der Pandemie ihren Job verloren haben. Der Staat hat geholfen, hat versucht, die Belastungen abzufedern mit Bafög, mit Nothilfen, mit finanzieller Unterstützung für die Universitäten. Das war und ist auch alles weiterhin wichtig. Aber manche, wie ich weiß, mussten das Studium trotzdem aufgeben, und das sorgt mich.
Und deshalb überrascht mich nicht, dass Sie ungeduldig sind und dass Sie Ängste haben. Angst, wie der Studienabschluss, der Wechsel ins Berufsleben klappen soll, Angst, welche Zukunft auf Sie wartet nach der Pandemie.
Sie wissen so gut wie ich, dass Ihnen der Bundespräsident auf viele dieser Fragen nicht die schnelle, erlösende Antwort liefern kann – aber mindestens dies will ich Ihnen versichern: Ich verstehe Ihre Ungeduld, ich verstehe Ihre Ängste! Die Pandemie hat gravierende soziale und ökonomische Folgen für viele von Ihnen, und diese Folgen treffen vor allem die, die es schwer haben, überhaupt zu studieren. All jenen Studentinnen und Studenten, die durch die Pandemie in eine Notlage geraten sind, muss schneller geholfen werden – und unbürokratischer, so fordern es auch die Studentenwerke. Gut ist, dass die Bundesregierung die Überbrückungshilfen jedenfalls für das Sommersemester 2021 verlängert hat.
Es geht mir heute aber nicht nur um Verständnis für Ihre Lage. Es geht mir auch um eine Erwartung an die Gesellschaft. Es ist doch so: Sie, die jungen Menschen, haben in der Pandemie enorme Solidarität gezeigt mit den Älteren und den besonders Gefährdeten. Sie haben verantwortlich gehandelt und auch Verantwortung übernommen. Auch das ist viel zu wenig wahrgenommen worden, und ich habe ungeheuren Respekt davor! Aber meine Erwartung ist diese: Jetzt ist es umgekehrt auch an uns, den Älteren, Solidarität mit Ihnen zu zeigen! Die Gesellschaft darf nicht darüber hinwegsehen, wie die junge Generation aus dieser Jahrhundertkrise hervorgeht. Ich finde: Bildung gehört – auch in der Pandemie – ganz oben auf die Tagesordnung. Wenn das nicht gewährleistet ist, dann macht das nicht nur die Gegenwart für junge Menschen besonders schwer, sondern das ist auch kein gutes Omen für die Zukunft.
Der Hochschulstandort Deutschland ist in den Jahren vor der Pandemie stärker und sicher attraktiver geworden, auch dank großer öffentlicher Investitionen. Aber machen wir uns nichts vor: So wie die Gesellschaft nach der Pandemie nicht dieselbe sein wird, so wird auch die Hochschullandschaft eine andere sein. Die Universität wird nach Corona nicht mehr so sein, wie sie einmal war. Sie wird hohe digitale Standards dauerhaft erfüllen müssen und zugleich die Formen von Präsenzlehre und Forschung neu bestimmen. Das wird Kraft und Engagement kosten – aber vor allem auch Geld! Nun mag es durch die hohe öffentliche Verschuldung infolge der Pandemiebekämpfung vielleicht eine politische Versuchung werden, bei Bildung und Wissenschaft zu sparen. Umso mehr sollten wir schon heute sagen: Das wäre fatal!
Was meine ich, wenn ich von Solidarität mit den Jungen spreche? Eins ist auch mir klar: Die Zeit, die Sie in der Pandemie verloren haben, kann nicht einfach zurückgedreht werden. Aber es müssen die Voraussetzungen dafür her, dass Sie möglichst bald wieder loslegen können! Wie sehr sie sich genau das wünschen, das habe ich von jungen Leuten in den letzten Wochen immer wieder gehört. Viele haben mir gesagt: Wir lassen uns keinen Stempel aufdrücken als sogenannte Generation Corona. Wir sind gebremst, wir sind vielleicht ausgebremst, das ja. Aber wir sind keine verlorene
Generation. Das sind wir nicht und wollen es nicht sein. Im Gegenteil: Nie war Zukunft so kostbar wie jetzt!
Diese Haltung beeindruckt mich wirklich sehr. Und vor allem beeindruckt mich, wie dieser Geist auch Ihr Handeln prägt. Viele von Ihnen waren und sind in der Krise nicht nur solidarisch, sondern unglaublich kreativ und erfinderisch. Sie basteln an Apps, um Kontakte besser nachverfolgen zu können, Sie haben Verfahren entwickelt, um Desinfektionsmittel herzustellen, Sie haben Masken entworfen. Sie packen an, wo Not herrscht, und das gilt nicht nur für die Studentinnen und Studenten, die im ganzen Land im Einsatz sind in Krankenhäusern, Impfzentren und Pflegeheimen. Sie helfen Älteren und Geflüchteten, Sie teilen Essen aus, Sie organisieren Crowdfundings für Tafeln und Obdachlose und vieles, vieles mehr. Mich beeindrucken Ihr Ideenreichtum, Ihr Engagement und Ihre Energie, und ich glaube, davon werden wir sehr viel brauchen, um nach der Pandemie die drängenden Zukunftsaufgaben zu meistern.
Vielleicht sagen Sie jetzt: Der Bundespräsident hat leicht reden. Und das stimmt ja auch. Es sind Ihre Träume, Ihre Hoffnungen, Ihre Wünsche, die sich immer weiter verzögern und für manchen vielleicht schon in weite Ferne gerückt sind.
Aber eines weiß ich sicher: Unsere Unternehmen, unsere öffentlichen Verwaltungen, unsere Schulen, unsere Universitäten, unsere Krankenhäuser brauchen Sie – und das nicht nur, weil die geburtenstarken Jahrgänge nach und nach aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Sie werden gebraucht gerade wegen der Erfahrungen, die Sie aus dieser Krise mitbringen. Wir brauchen Sie! Unser Land braucht Sie!
Wir brauchen digitale Profis, die in der Lage sind, sich blitzschnell zu vernetzen und auf neue Situationen einzustellen. Wir brauchen Ingenieure, die neue Technologien austüfteln, um den Klimawandel abzubremsen und die Antriebssysteme der Zukunft zu entwickeln. Wir brauchen Ärztinnen und Pfleger, um unser Gesundheitssystem besser aufzustellen, um neue Therapien für schwere Krankheiten zu erforschen und um besser auf die nächste Pandemie vorbereitet zu sein. Wir brauchen Geistes- und Sozialwissenschaftler, die analysieren, wo unsere Gesellschaft steht, und die Ideen haben für ihre Zukunft: Wie wollen wir zusammenleben? Wie wollen wir nachhaltig wohnen, arbeiten, reisen? Wir brauchen Architekten, Stadtplanerinnen, Soziologen, um die Städte der Zukunft zu entwerfen. Wir brauchen Informatikerinnen, Programmierer, Physikerinnen, um Künstliche Intelligenz verantwortungsvoll weiterzuentwickeln. Mehr denn je brauchen wir Erzieher und Lehrerinnen, die Kindern und Jugendlichen gute Bildungschancen eröffnen – und die wissen, wie man Digitalisierung dafür sinnvoll nutzen kann. Und das sind nur einige Beispiele.
Wir brauchen wirklich exzellente, innovative Forscherinnen und Wissenschaftler, das hat sich in dieser schweren Zeit der Pandemie wie unter einem Brennglas gezeigt. Selten war Politik so sehr auf Erkenntnisse der Wissenschaft angewiesen wie in dieser Krise – und auf wissenschaftlichen Fortschritt, um aus der Krise herauszukommen. Zu welch beflügelnden, herausragenden Leistungen Forscherinnen und Forscher in unserem Land fähig sind, das haben uns Özlem Türeci und Uğur Şahin gezeigt, die in Mainz den ersten Impfstoff gegen Covid-19 entwickelt haben. Vor wenigen Wochen durfte ich die beiden mit dem Bundesverdienstkreuz ehren. Das scheinbar Unmögliche möglich zu machen – das ist es, was Özlem Türeci, ihren Mann, ihr ganzes Team angetrieben hat, so hat sie es im Schloss Bellevue formuliert.
Das scheinbar Unmögliche möglich machen – das klingt erstmal wie ein schöner Slogan für eine Rede wie heute. Ich fürchte nur: Das wird schlicht und einfach notwendig sein in den Jahren, die vor uns liegen. Viele der großen Zukunftsaufgaben sind in der Pandemie in den Hintergrund gerückt, und ich weiß, wie sehr das viele von Ihnen umtreibt. So drängende Fragen wie die Bekämpfung des Klimawandels und der Schutz unserer Lebensgrundlagen dulden keinen Aufschub – und sie verlangen ein Umdenken von uns allen, ein mutiges Umdenken. Sie verlangen, kurzum, das scheinbar Unmögliche möglich zu machen.
Manche unter Ihnen mögen meine Worte hören und sich denken: Da steht vor mir der Bundespräsident, sozusagen der oberste Vertreter der weißhaarigen Generation
, und sagt durch die Blume: Entschuldigung, dass wir euch Jungen die Gegenwart so schwer machen. Und übrigens: Die Zukunft sollt ihr bitte auch noch retten!
Nicht gerade ein guter Deal, oder?
Und wissen Sie was? Diese Sicht hat ihre Berechtigung, ich kann sie nicht rundheraus widerlegen. Aber ich kann zumindest versuchen, Ihnen eine etwas andere Perspektive anzubieten, und das ist meine Perspektive als Bundespräsident: Wir stehen – alle miteinander – vor einer noch ungewissen Zukunft. Die Pandemie ist eine historische Zäsur. Die Welt, Europa, dieses Land, diese Gesellschaft, sie werden nach der Pandemie anders sein als zuvor.
Viele Länder sind von der Pandemie und ihren Folgen noch deutlich härter getroffen als wir. Es geht dort ums nackte Überleben. Wir in Europa, auf der Nordhalbkugel der Erde, sind in einer vergleichsweise privilegierten Lage. Wir sind auf einem zwar langen und steinigen, aber auf einem durch starke Forschung, durch starke Gesundheits- und Sozialsysteme abgesicherten Weg heraus aus der Pandemie.
Und doch spüren wir schon heute: Es wird nach der Pandemie nicht mit allen Gewissheiten weitergehen, mit denen wir jahrzehntelang gelebt haben. Wie unsere Gesellschaft nach Corona aussehen wird, aussehen kann, das weiß auch ein Bundespräsident nicht oder jedenfalls nicht genau. Wir gehen miteinander ins Offene.
Aber eines weiß ich: Wenn eine Generation für diese offene Zukunft gewappnet ist, dann Ihre! Denn Sie alle haben in einer jungen und prägenden Lebensphase etwas Entscheidendes gelernt: Sie haben den Ernstfall erprobt
. So hat es ein befreundeter Hochschullehrer kürzlich in einem Gespräch formuliert. Sie haben den Ernstfall erprobt – und Sie haben, neben allen Härten und Entbehrungen, die Ihren Alltag bis heute prägen, durch diese Pandemie etwas erfahren, das wie ein Schlüssel für die Zukunft ist: Sie haben gelernt, wie verletzlich das ist, was wir Individualität nennen, und wie verwundbar wir auch als Gesellschaft sind.
Diese Erfahrung mag eine große Enttäuschung, eine große Kränkung unseres jahrzehntelang gepflegten und gehegten Individualismus sein. Aber sie könnte, auf lange Sicht, vielleicht auch eine heilsame Erfahrung sein. Dahin ist die seit Jahren gegeißelte Spaßgesellschaft
, die schier grenzenlose Selbstoptimierung
. Die Pandemie ist auch in dieser Hinsicht eine Zäsur. Sie führt uns jeden Tag, jede Stunde vor Augen, wie existenziell wir doch aufeinander angewiesen sind, auf die Rücksicht auf und das Vertrauen in andere. Diese Erfahrung werden Sie Ihr Leben lang mit sich tragen, und diese Erfahrung kann auch die Gesellschaft prägen, in der Ihre Zukunft liegt.
Das ist der Grund, warum – auch mitten in der dritten Welle – Hoffnung am Ende meiner Rede steht. Es geht voran. Die Impfstofflieferungen ziehen in den kommenden Wochen kräftig an, die Produktion in Europa wird ausgebaut, die niedergelassenen Ärzte sind mit Wucht ins Impfen eingestiegen. Die Zahl der täglichen Impfungen hat in der vergangenen Woche Rekordniveau erreicht, und sie wird weiter steigen.
Mit jedem solchen Tag dringen wir weiter vor in jene noch schemenhafte Zukunft nach Corona
. Die Spielregeln für diese Zukunft, die werden neu geschrieben, an den Hochschulen wie auch in der Gesellschaft. Und Sie schreiben diese Spielregeln mit!
Deshalb bin ich überzeugt, gerade wegen der Erfahrungen, der guten wie der schlechten, die Sie in der Pandemie gemacht haben: Die Treppe Ihres Lebens wird eine andere sein, als Sie erwartet haben. Aber hinaufstürmen werden Sie sie in jedem Fall!
Ich freue mich mit Ihnen auf jenen hoffentlich nicht fernen Tag, an dem der Campus sich wieder füllt mit jungen Menschen aus aller Welt, an dem im Seminarraum wieder von Angesicht zu Angesicht gestritten und in Clubs und Kneipen die Nacht zum Tage wird.
Heute sind die Tage nicht einfach, aber bessere sind auf dem Weg! Ich bin sicher, ganz sicher, und Sie können es auch sein. Ich danke Ihnen fürs Zuhören und wünsche Ihnen von Herzen alles Gute für dieses hoffentlich letzte vollverkachelte Semester
, das Sommersemester 2021!