Danke für die Einladung zur re:publica 2019! Über diese Einladung habe ich mich sehr gefreut! Ich sage Ihnen auch gleich, warum. Aber vorher muss ich eine Antwort auf die Frage geben, die sich vielleicht der eine oder die andere hier im Saal stellt: Was hat eine so analoge Institution wie der Bundespräsident auf einer so digitalen Veranstaltung wie der re:publica zu suchen? Und die besonders Kritischen fragen vielleicht: Wie weit ist es eigentlich mit dieser freigeistigen, ungebundenen, nicht-hierarchischen Konferenz gekommen, dass sie das Staatsoberhaupt zur Eröffnung bittet? Müssen wir am Ende noch die Nationalhymne mit ihm singen?
Nein, meine Damen und Herren, ich kann Ihnen versichern: Es ist nicht die Etikette, die uns heute zusammenbringt, sondern es ist die Sache! Ich glaube, dass es tatsächlich eine gemeinsame Sache ist. Denn das Motto der diesjährigen re:publica, das Lob des langen Arguments
, das Bekenntnis zu Recherche, Differenzierung und Abwägung, gegen Unwissen, Grobschlächtigkeit und falsche Vereinfachung, dieses Motto ist ein Weckruf an die politische Debattenkultur – nicht nur im Netz, füge ich hinzu, sondern ganz allgemein: ein notwendiger Weckruf gegen den Zeitgeist von Verkürzung und Vereinfachung!
Deshalb bin ich gerne gekommen. Über kaum ein anderes Thema habe ich in meiner bisherigen Amtszeit so häufig gesprochen wie über die Bedeutung einer Debattenkultur für unsere Demokratie. Ja, wer Differenzierung, Abwägung und Zwischentöne schätzt, wer Ambiguitäten zulässt und aushält, wer die Dinge von verschiedenen Standpunkten aus betrachten will und dafür auch bereit ist, manchmal mehr als eine Minute zuzuhören, kurzum: wer Nebensätze nicht zum Feind erklärt, der hat in diesem Bundespräsidenten einen natürlichen Verbündeten!
Da Sie Ausführlichkeit auf dieser re:publica so ausdrücklich befürworten, werden Sie es mir sicher nicht übelnehmen, wenn ich zu Beginn meiner Rede etwas weiter aushole – 200 Jahre, um genau zu sein. Vor wenigen Wochen haben wir in Neuruppin an den 200. Geburtstag von Theodor Fontane erinnert – auch so ein Verfechter der Langform übrigens. Den ein oder anderen wird er in der Schule noch geplagt haben. In der Vorbereitung auf die Fontane-Feier stieß ich auf eine wunderbar ironische Episode in seinem späten Meisterwerk Der Stechlin
. Da geht es um den Verfall der alten Welt und ihrer Sitten, und natürlich wird – vielleicht kommt Ihnen das bekannt vor? – der nahende Untergang des Abendlandes beschworen. Warum? Weil eine Innovation in der Kommunikationstechnologie das Königreich Preußen im Mark erschüttert: das Telegramm!
Es ist das mit dem Telegraphieren solche Sache…
, lässt Fontane den alten Dubslav von Stechlin sagen. Kürze soll eine Tugend sein; aber sich kurz fassen, heißt meistens auch, sich grob fassen. […] Die feinere Sitte leidet nun schon ganz gewiss.
Was ich sagen will: Dass Technologie Kulturpraxis verändert und manche dann prompt den Sittenverfall beklagen, das ist nicht neu. Mit dem Abstand der Geschichte wissen wir: Am Telegraphieren ist Preußen jedenfalls nicht zugrunde gegangen. Kulturpessimismus müssen Sie von mir heute also nicht befürchten. Genauso wenig allerdings naive Euphorie. Ich bin der Überzeugung: Weder Telegramme noch Tweets können aus sich heraus die Demokratie zersetzen. Aber ersetzen kann Technologie die Demokratie schon lange nicht!
Hype Cycles
kennen wir eigentlich aus der Marktforschung, von neuen Technologien und Produkten. Ich fürchte, Hype Cycles gibt es auch in der politischen Debatte, gerade wenn es um Demokratie und Digitalisierung geht.
Ich erinnere mich an eine Zeit, nicht lange ist das her: Der Kommunismus war zusammengebrochen und der weltweite Siegeszug der liberalen Demokratie schien unaufhaltsam. Vom Ende der Geschichte
war allenthalben die Rede. Die Pioniere des Internets, gerade der Sozialen Medien, sah man an der Spitze des Wagenzuges dem Sonnenuntergang entgegenreiten. Grenzenlos, hierarchiefrei, rasend schnell sollte die Digitalisierung der Demokratisierung auf die Sprünge helfen – Hoffnungen, die damals ganz besonders in den sogenannten Arabischen Frühling projiziert wurden.
Und heute? Heute sind wir in der Umkehrung gelandet. Die liberale Demokratie wird angefochten. Autoritäre Herrschaftsformen treten immer selbstbewusster auf die Weltbühne – und machen sich digitale Technologien und digitale Effizienzgewinne skrupellos zunutze, von Big-Data-Überwachung bis zu Troll-Armeen. Die westlichen Demokratien hingegen scheinen digital verwundbar, ihre Wahlkämpfe erschüttert von Manipulation, Desinformation und Polarisierung. Heute also vergeht kaum eine Woche, in der nicht ein neuer Abgesang auf die liberale Demokratie erscheint – und in dem die Sozialen Medien als Sargnagel herhalten müssen.
Es wird Sie nicht überraschen, dass ich weder das eine noch das andere Extrem dieser Erzählung jemals überzeugend fand noch finde.
Ich wünsche mir – und so verstehe ich auch den Impuls der re:publica –, dass wir falsche Dichotomien endlich hinter uns lassen:
Es geht nicht um die Frage, ob das Netz für die Demokratie nun eine gute oder schlechte Sache sei, der Allheilsbringer oder die Abrissbirne. Und schon gar nicht sollten wir einem Gegensatz zwischen den Generationen das Wort reden, zwischen einer vermeintlich homogenen Netz-Community
und den ahnungslosen Offline-Oldies
.
Wahr ist: 90 Prozent der Deutschen sind heute in der einen oder anderen Form online aktiv. Und damit ist der politische Diskurs im Internet, ganz nüchtern, zu einem festen Bestandteil unserer Demokratie geworden. Übrigens weder anstelle der klassischen Zeitung oder Fernseh-Talkshow, der Marktplatz-Stände oder Parteitagsdebatten, noch abgetrennt von diesen hergebrachten Formen. Sondern schlicht: mittendrin. Und das bedeutet: Demokratie kann in Zukunft nur gelingen, wenn sie auch digital gelingt.
Deshalb sprach ich zu Beginn von einer gemeinsamen Sache
. Es gibt keine analogen Institutionen mehr und keine digitalen Veranstaltungen, wo die einen die anderen vermeintlich nichts angehen. Nein, entscheidend ist: Wir haben nur diese eine Demokratie.
Wenn uns die Zukunft dieser Demokratie am Herzen liegt, dann müssen wir uns um die politische Debattenkultur im Netz gemeinsam kümmern! Für diesen Impuls danke ich den Macherinnen und Machern der re:publica ganz ausdrücklich.
Wie soll das gelingen? Zunächst steht eines außer Frage: Das Internet hat mehr Kommunikation zu mehr Themen mit mehr Teilnehmern hervorgebracht, als es je zuvor gegeben hat. Der menschliche Gewinn ist unermesslich – für Wissenschaft und Forschung, für Kultur und Kreativität, für Wirtschaft und Wohlstand! Bei Fontane hieß Auswandern noch Abschied auf Nimmerwiedersehen. Heute kommunizieren – rund um die Uhr, rund um die Welt – Eltern mit ihren Kindern, Unternehmen mit ihren Kunden, Wissenschaftler mit ihren Forschungspartnern. Überall in den Nischen des Netzes entstehen großartige Formen von Kollaboration, Kreativität und kulturellem Fortschritt. Und natürlich: Dieser digitale Fortschritt kann auch zum Nutzen der Demokratie sein – seine Potenziale sind noch lange nicht ausgeschöpft.
Dennoch und umso mehr frage ich mich, warum gerade die politischen Debatten, die ich im Netz erlebe, so oft dazu neigen, toxisch zu werden. Ich frage mich: Woraus speist sich der grassierende Verlust an Vernunft, die wütende Suche nach Sündenböcken? Warum findet der Appell an unsere niedrigsten, nicht an unsere besten Instinkte so viel Gehör?
Es ist gut, dass die re:publica solchen Fragen Raum gibt. Es ist eben nicht altväterlich, sondern hochaktuell und notwendig, noch einmal grundsätzlich und aufs Neue zu fragen: Was macht eine gute, demokratische Debatte überhaupt aus? Meine Antwort wäre: Vernunft auf der einen Seite – die Bereitschaft, mit Argumenten zu überzeugen und sich von besseren Argumenten überzeugen zu lassen – und auf der anderen Seite: Zivilität. Das heißt: Wertschätzung und Vertrauen, Empathie und Respekt für ein Gegenüber, das – bei aller Individualität oder Anonymität, die das Netz zu schützen weiß– immer auch einen legitimen Teil zur Debatte beizutragen hat.
Beide Eigenschaften – Vernunft und Zivilität – gilt es zu schützen. Und beide brauchen Raum und langen Atem. Natürlich kann auch ein Tweet vernünftig und zivilisiert sein. So mancher kurze Hashtag hat große und wichtige Debatten angestoßen. Wichtige Debatten aber, wenn sie gut sein sollen, brauchen Zeit. Deshalb bin ich froh, dass gerade im Netz die Lust an der Langform zu wachsen scheint – bei Podcasts etwa, bei Longreads
, durch immer bessere journalistische Angebote im Netz.
Vernunft und Zivilität sind die Währung einer guten Debatte. Aber jede gelingende Debatte braucht ein Fundament, und das besteht aus Regeln.
Der 70. Geburtstag des Grundgesetzes in diesen Tagen erinnert uns an jenen Zusammenhang, der älter ist als online
und offline
: Freiheit braucht Regeln, und neue Freiheiten brauchen neue Regeln. Und: Mit der Meinungsfreiheit kommt auch eine Meinungsverantwortung.
Ich weiß, über Regeln wird auf der re:publica Jahr für Jahr kontrovers diskutiert. Vom NetzDG bis zum Telemediengesetz, vom Äußerungsrecht bis zur Datenschutzgrundverordnung – Regeln gibt es bereits viele, und wir werden über weitere streiten müssen.
Aber bei aller berechtigen Kontroverse – eines gilt, und ich sage es gerade mit Blick auf die großen Plattformen: Wer hier in Deutschland und Europa das große Geschäft macht, der muss sich an unsere Regeln halten! Wer hier Geschäft macht, muss geltendes Recht achten – und nicht immer wieder Grenzen austesten, Schlupflöcher suchen und Umsetzung verschleppen. Wer das dennoch tut, der muss mit Konsequenzen und Strafen rechnen. Und das gilt generell – vom Datenschutz über das Wettbewerbsrecht bis zum Strafrecht!
Und weil es heute um die politische Debatte geht, füge ich hinzu: Wer mit einer Plattform einen politischen Diskursraum schafft, der trägt auch Verantwortung für Demokratie – ob er’s will oder nicht! Das Geschäftsmodell an sich, die Maximierung von Werbeeinnahmen bringt bestimmt keine Maximierung von Debattenqualität. Deshalb braucht es demokratische Regulierung. Ich glaube, dass das mittlerweile auch im Silicon Valley verstanden wird. Aber eines fehlt mir: Nach vielen Worten und Ankündigungen, nach Gesprächsrunden und fotogenen Politikerterminen ist es an der Zeit, dass Facebook, Twitter, YouTube & Co. ihre Verantwortung für die Demokratie endlich wahrnehmen, endlich in die Tat umsetzen!
Das gilt zum Beispiel beim Thema Transparenz. Solange die schnelle Lüge und die seriöse Nachricht, der überprüfte Fakt und die bloße Meinung, solange Vernunft und Hetze unterschiedslos nacheinander in Newsfeeds auftauchen, solange haben es jedenfalls Demagogen viel zu einfach. Wir brauchen glasklare Herkunftssiegel für Informationen – und das vor allem, wenn es um politische Werbung geht!
Wer gezielt und Daten-maßgeschneidert politische Botschaften platziert, der muss vom Betreiber und nötigenfalls vom Gesetzgeber dazu gezwungen werden, Gesicht zu zeigen: Wer genau hat mir diese Anzeige geschickt? Von wem wurde sie finanziert? Welche Anzeigen schaltet diese Person oder Organisation sonst noch? Kurzum: Wessen Spiel spielt mein Gegenüber eigentlich, und wie kann ich mich dem Spiel entziehen?
All das sollten mündige Bürger wissen! Und ganz nebenbei: Transparenz über Geldflüsse und Abhängigkeiten ist immer noch der effektivste Weg, um Demagogen und Populisten den Wind aus den Segeln zu nehmen! Das haben wir an so manchem Fall gesehen, national wie international – und wir sollten darin nicht nachlassen. Denn jeder, der einen politischen oder journalistischen Account betreibt, hat das schon erfahren, und Studien belegen es immer wieder: Es sind verhältnismäßig kleine Gruppen, die unverhältnismäßig großen Lärm erzeugen!
Wir müssen uns eingestehen: Die, die der liberalen Demokratie schaden wollen, sind im Netz viel zu oft effektiver aufgestellt als die, die für sie einstehen. Das bedeutet: Wir müssen Regeln besser durchsetzen, ja – aber vor allem darf die demokratische Mehrheit sich nicht zurückziehen und vertreiben lassen vom Gebrüll der Wenigen! Warum lassen wir zu, dass die Hater so laut und die Vernünftigen so leise sind – dass die Wenigen so stark und die Vielen so schwach erscheinen?! Ja, auch wenn es in unserer eigenen, liberalen Komfortzone wohliger zugehen mag – diesen Anspruch müssen wir an uns selbst schon haben: Überlassen wir die politischen Räume im Netz nicht den tobenden Scheinriesen!
Ich weiß, wie viele im Netz, wie viele gerade hier in diesem Saal genau dafür kämpfen! Ihnen allen will ich Danke sagen für ihr unermüdliches, oftmals belastendes und in aller Regel ehrenamtliches Engagement! Danke denen, die neue Initiativen, Formate oder Bündnisse schmieden; denen, die wie Nanjira Sambuli die digitale Spaltung überwinden wollen; denen, die Medienkompetenz vermitteln helfen; die an frei zugänglichem Wissen für alle mitarbeiten; denjenigen, die Debattenkultur pflegen, wo es sie gibt – oder gerade dorthin gehen, wo sie zu zerbrechen droht, so wie es die Initiative #ichbinhier tut.
Es sind eben nicht nur Recht und Regeln – es ist vor allem eine starke Zivilgesellschaft, die uns in Deutschland auszeichnet. Als Bundespräsident wünsche ich mir, dass diese Stärke auch im Netz zum Tragen kommt, viel mehr noch, als ich das bis jetzt erkennen kann! Ich wünsche mir mehr Austausch zwischen der digitalen Zivilgesellschaft und den lange gewachsenen analogen Strukturen, mehr Austausch auch mit den Institutionen der Politik – und das bitte in dem gegenseitigen Verständnis, dass in diesem schwierigen Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit des Netzes und dem Schutz des Einzelnen keine Seite die fertigen Antworten immer schon parat hat.
Ist es am Ende nicht genau das, was Demokratie ausmacht? Demokratie setzt voraus, dass wir uns gegenseitig erlauben, auf der Suche zu sein.
So verstehe ich Ihre Einladung an mich – und so verstehen Sie bitte auch meine Rede an Sie. Erst im Diskurs, im Streitgespräch, in der Recherche, in den Zwischentönen nähern wir uns Lösungen, die niemand allein für sich besitzt.
Digitalisierung heißt: vernetzt zu sein. Demokratie aber heißt: verbunden zu sein. In der Demokratie sind wir in einem tieferen, einem politischen Sinne aufeinander angewiesen, mehr als nur per Like oder Dislike. Diesen Schritt vom Vernetzt- zum Verbundensein, den müssen wir in der Zukunft der Digitalisierung hinbekommen. Ob er gelingt, das entscheidet sich nicht durch immer neue Technologiesprünge, sondern das entscheidet sich an einer demokratischen Diskussions- und Streitkultur im Netz, an der Rückgewinnung des politischen Raumes, gegen das too long, didn’t read
, gegen die reine Ökonomisierung und gegen die Machtkonzentration der Datenriesen. Nicht etwa die Digitalisierung der Demokratie, sondern die Demokratisierung des Digitalen – das ist die drängendste Aufgabe!
Aus diesem Grund bin ich der re:publica so dankbar für ihr diesjähriges Motto. Das Lob des langen Arguments
ist mehr als eine Geschmacksfrage. Es ist ein zutiefst politischer Appell.
Denn Demokratie ist Politik in Langform.
Populisten schätzen die simple Antwort, den kurzen Prozess, den knackigen Tweet.
Demokratinnen und Demokraten geben sich damit nicht zufrieden – und Sie hier auf der re:publica tun es ganz offensichtlich auch nicht. Und das ist gut so. In diesem Sinne wünsche ich uns und Ihnen lange Debatten!