Ansprache am Ende des ökumenischen Gottesdienstes in der Dresdner Kathedrale

Schwerpunktthema: Rede

Dresden, , 13. Februar 1991

Ansprache von Bundespräsident Richard von Weizsäcker am Ende des ökumenischen Gottesdienstes in der Dresdner Kathedrale, 13. Februar 1991

Mit Versen aus der Offenbarung des Johannes haben wir unseren Gottesdienst begonnen. Wir kamen bis zur Öffnung des vierten der sieben Siegel, unter dem sich die Macht des Todes verbirgt, die Dresdens Schicksal wurde

Im selben Kapitel lesen wir weiter: Und die Könige der Erde und die Würdenträger und die Kriegsobersten und die Reichen und die Gewaltigen verbargen sich in den Klüften und sprachen zu den Bergen und Felsen: Fallet über uns her und verberget uns ... vor dem Zorn des Lammes. Denn gekommen ist der große Tag seines Zorns, und wer kann bestehen?

Wer kann bestehen? Keiner, der in den Kriegen dieser Welt die Macht und die Last der Entscheidung über Leben und Tod trägt, entgeht dieser Frage. Sie ist seit der Johannes-Offenbarung bis in die Gegenwart die gleiche geblieben. Sie stellte sich im Zweiten Weltkrieg, sie stellt sich heute am Golf. Wer kann vor den Opfern der Kriege bestehen? Krieg bringt unsägliche menschliche Leiden, unwiederbringliche Verluste für die Kultur und Zivilisation und zerstörerische Gefährdungen der Natur. Wer kann sie verantworten?

Aber wer kann es umgekehrt verantworten, Unrecht und Gewalt tatenlos geschehen zu lassen? Wer kann beruhigten Gewissens zusehen, ohne zu handeln, wenn der Frieden gebrochen und das Menschenrecht mit Füßen getreten wird? Würde die Untätigkeit am Ende nicht weit höhere Opfer fordern als verantwortungsbewusstes Handeln?

Im Kampf gegen Hitler stand die Welt vor solchen Fragen. Nach anfänglichem Zögern entschloss sie sich zum massiven Widerstand. Die Menschheit würdigt die Verantwortungsbereitschaft, sich gegen Tyrannei und Barbarei zur Wehr zu setzen, sie zu beenden.

Und doch darf niemand die Augen davor verschließen, welche schrecklichen Untaten der Krieg hervorbrachte. Coventry und Rotterdam, Stalingrad und Warschau zeugen davon. Und was am 13. Februar 1945 den Menschen in Dresden zugefügt wurde, war schwerstes, bitteres Unrecht, menschlich fassbar und hinnehmbar zu keiner Zeit. Es kann nur, wie alle unmenschliche Tat, auf Vergebung hoffen.

Es ist gut, dass der Bürgermeister von Coventry heute Abend unter uns ist, so wie ich vor drei Monaten mit ihm zusammen in der Kathedrale seiner Stadt war. Wir müssen es immer wieder versuchen und lernen, einander zu vergeben, neu anzufangen, den gemeinsamen Weg zu Aussöhnung, zu guter Nachbarschaft und freundschaftlicher Zusammenarbeit zu finden.

Dresden, wie die anderen Orte zerstörten Lebens und verwüsteter Kulturen, Dresden soll uns aber auch mahnen, stets von neuem unser Gewissen zu prüfen. Hitler und Saddam als Feinde der Menschheit zu erkennen und ihnen Widerstand entgegenzusetzen, das ist eine harte, aber unentrinnbare und notwendige Konsequenz. Und doch verstummt jedes laute und allzu selbstsichere Wort über die Gerechtigkeit der eigenen Sache im Angesicht der Folgen, die der kämpferische Widerstand für so viele unschuldige Menschen mit sich bringt. Es ist nicht gut, so zu tun, als wäre alles ganz einfach, wenn man einem bösen Menschenfeind gegenübersteht. Warum die schweren Konflikte im eigenen Verstand und Herzen, im eigenen Gewissen verschweigen, die sich bei der verantwortlichen Wahl der angemessenen Mittel des Kampfes ergeben?

Dietrich Bonhoeffer, den Hitler wegen Widerstandes noch in den letzten Kriegstagen umbringen ließ, war ein tiefgläubiger Christ. Er hat im Innersten mit sich darüber gerungen, welche Mittel der Widerstand erfordere. Er hat sich der Frage gestellt: Wer kann bestehen? Seine Antwort war: Allein der, dem nicht seine Vernunft, sein Prinzip, sein Gewissen, seine Freiheit, seine Tugend der letzte Maßstab ist, sondern der dies alles zu opfern bereit ist, wenn er im Glauben und in alleiniger Bindung an Gott zu gehorsamer und verantwortlicher Tat berufen ist ...

Die Vereinten Nationen sind geschaffen worden, um künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren. Es gibt keinen Frieden ohne Achtung vor dem Recht. Aber Recht kann nur in Frieden gedeihen, und wo er gebrochen wurde, muss es das Ziel jedes gewaltsamen Widerstandes sein, alsbald durch Frieden dem Recht wieder Raum zu verschaffen.

Am Golf hat das Gebot des Friedens gegenüber dem Aggressor versagt. Das Gespräch hat sich als machtlos erwiesen. Nun bleibt die Pflicht unablässiger Suche nach Möglichkeiten, den Krieg zu begrenzen und abzukürzen. Es ist die Lehre des Infernos von Dresden, täglich an das schreckliche Opfer unschuldiger Menschen zu denken.

Und wenn wir uns hier als Christen versammelt haben, dann wollen wir uns nicht über andere Religionen erheben, sondern wir wollen mit ihnen zusammen den ethischen Kern unseres Glaubens suchen und stärken.

Die drei großen Religionen aus dem Morgenland, Judentum, Christentum und Islam, berufen sich gemeinsam auf den Stammvater Abraham. Sie glauben an den einen Gott. Sie stützen sich auf ein prophetisches Grundethos der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens. Das Friedensgebot, das Völkerrecht und die Prinzipien der Vereinten Nationen sind universal. Es wäre eine sträfliche Vereinfachung und Überheblichkeit zu behaupten, sie wären dem Islam fremd und der Krieg rechtfertige sich bei Muslimen grundsätzlich anders als im Westen. Auch die islamische Welt weiß, dass Saddam Hussein der Aggressor ist.

Der gemeinsame ethische Kern der drei Religionen gebietet und ermöglicht eine Friedenspflicht für jede mit sich selbst und für jede mit den anderen. Schon Lessing hat sie uns mit seiner Ringparabel im Nathan vor Augen gestellt. Gewiss leben wir heute nicht im Zeichen der Aufklärung, sondern weit stärker unter dem allseitigen Einfluss fundamentalistischer Strömungen. Da fällt den Menschen die Friedenspflicht schwer, umso schwerer, je mehr Not, Hunger und soziale Ungerechtigkeit herrschen. Aber wegen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung, die wir ethisch kaum noch beherrschen, im Angesicht der schweren Gefahren für die Umwelt und der übergroßen Armut im Süden wird Frieden zur Bedingung für das Überleben. Die drei abrahamischen Religionen können und müssen dazu beitragen.

Wir Christen müssen den anmaßenden Irrtum ablegen, wir seien der alleinige Hort der Vernunft, der Aufklärung und des Rechts. Selten liegt Schuld allein beim Gegner. Nächstenliebe ist nicht unerfüllbar. Nächstenliebe ist selbst ein Gebot der Vernunft.

Den Trägern der muslimischen Zivilisation ist diese Einsicht nicht verschlossen. So bitter ihre Erfahrungen mit westlichem Verhalten oft waren und sind und so verständlich die Erregung der Massen dagegen ist, so spricht doch das eigene religiöse Erbe und Gebot des Islam für die Verständigung.

Das Judentum unserer Zeit ist vom unauslöschlichen Grauen des Holocaust geprägt. Für das neue Israel hat es zum Überlebenskampf geführt, und wir stehen an seiner Seite. Dabei wird aber die aktive Suche nach Wegen harmonischen Zusammenlebens mit der islamischen Umgebung notwendig. Sie wird zur ethischen und politischen Stärkung für das Überleben führen.

Unrecht und Leid ist im Namen jeder der drei Religionen geschehen. Keine kann aus der Geschichte der beiden anderen Gründe für vermeintlich gerechte Kriege herleiten. Es gibt nur noch eine allen gemeinsame ethische Pflicht: Aus der Geschichte der Gewalt auszutreten und zusammen den gerechten Frieden zu suchen.

Wenn wir der unschuldigen Opfer des 13. Februar 1945 in Dresden in Ehrfurcht gedenken, dann sind wir ihnen diese Lehre für unsere Zeit schuldig.