I.
Der Kalender des Bundespräsidenten weist sehr viele und sehr unterschiedliche Termine aus. Auf manche freue ich mich ganz besonders. Die Begegnung des heutigen Nachmittags und Abends ist eine solche Veranstaltung.
Die meisten von Ihnen, verehrte Gäste, kenne ich seit vielen Jahren. Sie haben uns die Geschichte der Bundesrepublik vermittelt, sie beschrieben - und sie mitgeschrieben. Ihre Stimmen haben sich uns durch den Rundfunk eingeprägt, Ihre Gesichter durch das Fernsehen, Ihr Stil und Ihre Meinungen durch Ihre Artikel.
Sie alle gehören eben - und Sie werden mir den saloppen Ausdruck nachsehen - zum "Inventar der Republik".
Wer weiß, wie viele der jungen Journalistinnen und Journalisten, die heute Abend hier sind, eines Tages auch dazu gehören werden. Ob sie wollen oder nicht!
II.
Die Geschichte der Demokratie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ist nicht denkbar ohne die Geschichte ihrer Medien.
Fünfzig Jahre Bundesrepublik Deutschland sind auch fünfzig Jahre Pressefreiheit.
Im Osten Deutschlands gibt es diese Freiheit erst seit zehn Jahren. An dieser Freiheit des ganzen, vereinten Deutschland, haben die Medien entscheidenden Anteil gehabt.
Die Fernseh- und Rundfunksender der Bundesrepublik haben zur Zeit der deutschen Teilung eine historisch wichtige Rolle gespielt. Ihre Sendungen wurden jenseits der innerdeutschen Grenze begierig aufgesogen.
Und jene, die in der DDR ARD und ZDF, Deutschlandfunk und andere Sender nicht empfangen konnten, lebten eben im "Tal der Ahnungslosen".
Ereignisse und Erfolge der Mediengeschichte nach 1945 waren häufig Zäsuren in der Geschichte unseres Landes. Dafür stehen Stichworte wie Staatsfernsehen und Spiegel-Affäre und die großen Enthüllungsgeschichten der letzten Jahrzehnte.
Aus unserer Geschichte sind den Medien dauerhafte Aufgaben und Verantwortungen erwachsen: Sie fordern und formen unsere Demokratie ständig neu.
Sie prägen unser Weltbild – und unser Bild von der Welt.
Politik muss sich nicht nur im Vierjahresrhythmus der Wahlen bewähren, sondern unter der ständigen kritischen Beobachtung der gedruckten und gesendeten Medien.
Politik wird transparenter, der informierte Bürger kritischer und mündiger.
III.
In den zurückliegenden Wochen wurde in den Medien ein lebhafte Debatte über Bedingungen und Qualität journalistischer Arbeit in Deutschland geführt. Skeptische und nachdenkliche Töne überwogen.
Ich möchte auf diese Debatte eingehen, zunächst aber festhalten:
Wir haben in Deutschland eine Medienlandschaft, auf die wir uns insgesamt viel zugute halten können. Natürlich gibt es Missstände, Schwächen und Ärgernisse.
Aber im internationalen Vergleich stellen wir fest: In kaum einem anderen Land berichten die großen Tages- und Wochenzeitungen in vergleichbarer Vielfalt, Seriosität und Tiefe.
Das öffentlich-rechtliche System ist eine große Errungenschaft unserer Medienlandschaft. Ich bin froh, dass wir es uns erhalten haben und dass es sich weiterentwickeln kann.
Es prägt und beflügelt alle anderen Medien.
Natürlich hat auch die duale Rundfunkordnung ihre Mängel und Schwächen. Aber sie garantiert zuverlässig Meinungsvielfalt und lebendigen Wettbewerb.
Längst haben auch die privaten Sender einen festen Platz im Mediengeschehen. Als sie ihre Arbeit aufnahmen, schlug ihnen viel Skepsis entgegen. Das Niveau mancher Sendungen zeigt jedoch, dass sie zu anspruchsvolleren Leistungen fähig sind, als viele dies erwartet hatten.
Dennoch wird gegenwärtig mit kritischem Unterton über den Zustand unserer Medien diskutiert. Zur Illustration zwei Äußerungen aus jüngster Zeit:
"Das Niveau des politischen Journalismus lässt hier in Berlin zusehends nach ... Die Magazine und Sonntagszeitungen überschlagen sich mit belanglosen, aber trotzdem Furore machenden Meldungen..."
Und das andere Zitat: "Die Konkurrenzverhältnisse auf dem Markt in Berlin sind andere als in Bonn ... Große Rücksichten werden da nicht genommen ... Mit Schlagzeilen, die nicht immer der Wirklichkeit entsprechen, sollen Leser gewonnen werden. Die Dramatisierung des Halbsatzes erzeugt eine Stimmung der Aufgeregtheit."
Die zitierten Passagen erschienen im Abstand eines Tages in den beiden großen Frankfurter Tageszeitungen.
Üblicherweise vertreten diese Blätter durchaus unterschiedliche Auffassungen.
Wir können also annehmen, dass an der geäußerten Kritik etwas dran ist.
Oft ist zu hören, die beklagten Veränderungen stünden in Zusammenhang mit dem Regierungsumzug.
Gewiss unterliegt das Berliner Mediengeschäft anderen Regeln als das Bonner.
Aber: Haben wir es nicht mit einer allgemeineren Entwicklung zu tun, die sich auch andernorts beobachten lässt?
Welche Stichworte prägen die gegenwärtige Debatte?
Sensationshascherei und Exklusivitis diktieren oft das Tagesgeschäft.
Betroffene fühlen sich gelegentlich von Kampagnen- und Scheckbuchjournalismus verfolgt.
Die Kolportage ersetzt die Reportage und der aufklärerische Gestus mancher Verunglimpfungen in Talkshows trägt fast Orwell'sche Züge.
Manchmal habe ich den Eindruck, es gebe mehr Nachrichtensendungen als Nachrichten und mehr Talkshows als wirklichen Gesprächsstoff.
Oft werden die Grenzen von Information, Kommentar, Unterhaltung und Werbung verwischt.
Politik ereignet sich als Medienspektakel.
Diese Aufzählung ließe sich ohne Schwierigkeiten fortsetzen. Die entsprechenden Feststellungen und Vorwürfe sind Ihnen wohl vertraut – oder sattsam bekannt.
Wichtiger, als die bekannten Klagen zu wiederholen ist es, nach den Gründen dieser Entwicklung zu fragen.
Wie erklärt sich die entstandene Situation?
Wie können wir mit ihr umgehen?
V.
Mehrere Vorgänge prägen die aktuelle Entwicklung:
Information wird immer schneller umgeschlagen.
Es stehen immer mehr Informationen zur Verfügung.
Der Zugang zur Information wird leichter.
Klassische Berichterstattung steht unter verstärktem Konkurrenzdruck durch die Unterhaltung.
Wirtschaftliche Aspekte spielen auch im Mediensektor eine immer wichtigere Rolle. Es gibt einerseits Konkurrenzkampf, andererseits Monopolisierung.
Diese Entwicklung zu steuern – durch rechtliche Rahmenbedingungen - wird nur begrenzt möglich sein. Wir müssen jedoch verantwortlich mit ihren Konsequenzen umgehen.
Denn: Macht übt nicht nur derjenige aus, der die richtigen Informationen kennt.
Macht übt auch der aus, der Informationen einordnet und ihre Bedeutung gewichten kann.
Der Umgang mit Information und Medien lässt sich lernen. In den Schulen gibt es gute Ansätze dazu. Sie müssen noch verstärkt werden.
Bei Ihnen, den Journalistinnen und Journalisten liegt eine besondere und ständige Verantwortung. Niemand sonst, auch nicht die Politiker überschauen derart gut, wie Informationen zustande kommen, wie sie zusammenhängen und sich auswirken.
VI.
Auf vier Voraussetzungen eines verantwortlichen Journalismus möchte ich kurz eingehen:
Wer große Verantwortung besitzt, muss sein Handwerkszeug besonders gut beherrschen. In der journalistischen Ausbildung müssen hohe Ansprüche an die ethische und demokratische Einstellung und an die Bildung der künftigen "Informationsvermittler" gestellt werden.
Wer die Dinge richtig einordnen kann, ist dagegen gefeit, aus Mücken Elefanten zu machen. Er - oder sie - wird aber auch ausreichend vorbereitet sein, echte Sensationen und die wirklichen Skandale nicht zu übersehen.
Man kann nicht behaupten, dass Selbstkritik eine besonders aktuelle Tugend ist. Junge Journalistinnen und Journalisten sollten jedoch lernen, das eigene Tun immer wieder aus kritischer Distanz zu überprüfen.
Albert Einstein hat einmal gesagt: "Man muss die Dinge so einfach machen wie möglich - aber nicht einfacher."
Das gilt gerade in einer Zeit, in der wir über immer mehr Informationen verfügen und in der unsere Welt immer unübersichtlicher zu werden droht.
Wir können den Einsteinschen Satz daher heute auch anders formulieren: Wie kann man etwas Kompliziertes einfach darstellen, ohne dass es dadurch falsch wird?
Es ist oft mühsam und aufwendig, Hintergründe und Zusammenhänge gründlich zu recherchieren.
Die Leser, Zuhörer und Zuschauer brauchen jedoch das ganze Bild, um ihre Welt richtig verstehen zu können.
Sie brauchen Landschaftsgemälde und keine verwackelten Schnappschüsse.
Information braucht sorgfältige Auswahl. Jeder gute Journalist hat ein Gespür für Pseudothemen und Nichtereignisse. Gegen sie sollte er eine instinktive Abneigung entwickeln. Sein Ehrgeiz sollte es sein, die begrenzte Zeit und Aufmerksamkeit des Lesers oder Zuschauers "auf richtige Fährten zu locken".
Oft wird der Leser durch Überschriften verwirrt oder irregeleitet, manchmal auch durch Bildunterschriften.
Wie wäre es, wenn Überschriften Inhalte wiedergäben und nicht Stimmungen erzeugten? Informationen werden heutzutage oft nur im Vorübergehen oder im "Vorbei-Zappen" aufgenommen. Da wächst die Verantwortung der' Überschriften-Redakteure.
Berichterstattung und Unterhaltung müssen klar voneinander getrennt sein.
Die Medien spielen in unserem Lebens eine immer wichtigere Rolle. Wir sind abhängig davon, dass sie zuverlässig funktionieren. Daher müssen wir auch genau verstehen, wie sie funktionieren:
- Wie kommen Meldungen zustande?
- Warum passt das Weltgeschehen immer in 15 Minuten Sendezeit?
- Wie gehen die Medien miteinander um, wie Politiker und Medien miteinander?
Die Medien sollten sich nicht scheuen, Politik als Medienspektakel zu enthüllen, wenn es sich um eine reine Inszenierung handelt.
Angesichts der enormen Verantwortung, die Journalistinnen und Journalisten in unserer Demokratie haben, müssen die Anforderungen groß sein, die sie an sich selbst stellen.
"Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache" hat Hans Joachim Friedrichs gesagt. Besser kann man nicht ausdrücken, was guten Journalismus ausmacht.
Der sogenannte "investigative Journalismus" gewinnt immer größere Bedeutung. Zu Recht. Wenn unsere Demokratie gut funktionieren soll, so bedarf sie hartnäckig aufklärender Recherche.
Investigativer Journalismus muss sich jedoch in besonderem Maße um "engagierte Distanz" bemühen: Unbekanntes ist nicht allein schon deshalb verurteilenswert, gefährlich oder böse, weil es bisher unbekannt war.
Der Staat muss die Freiheit der Presse sichern und er kann ihr bestimmte Regeln geben, in einzelnen Bereichen auch Regulierungen.
Die Medien müssen sich aber in erster Linie selber kontrollieren. Dazu bedarf es wacher Bereitschaft und eines feinen Gespürs für Fehlentwicklungen.
"Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern." Wir alle kennen diesen Satz. Dennoch wäre es gut, wir würden öfter einmal zurückschauen - auf die Aufgeregtheit der letzten Woche, die große Kontroverse des vergangenen Jahres oder einen vermeintlich so wichtigen Skandal.
Was ist daraus geworden? Haben die Untergangspropheten oder die Abwiegler Recht behalten? Oder lagen beide falsch? Welche Folgen und welche Nebenwirkungen haben die damaligen Vorgänge gehabt?
Wenn man Meldungen und Vorgänge aus einer gewissen zeitlichen Distanz noch einmal beleuchtet, dann dämpft das die Neigung, die ganze komplizierte Welt in kurze Überschriften zu packen.
Nicht alles lohnt, aus der Versenkung geholt zu werden und es ist oft heilsam, wenn Dinge in Vergessenheit geraten. Aber manche Aufgeregtheit lässt sich erst aus der zeitlichen Entfernung richtig einordnen - und manchmal hoffentlich auch belächeln.
Auch aus der Distanz erkennen wir erst, dass unsere Zeit – trotz aller Veränderungen – in vielem durchaus nicht so einmalig ist.
Vor bald 800 Jahren, als die Journalisten noch Chronisten hießen, hat Cäsarius von Heisterbach geschrieben: "Wenn ich alles erzählen wollte, was zu meiner Zeit Wunder war, das heißt, gegen den gewohnten Lauf sich zugetragen hat – mirwürde eher die Zeit fehlen als der Stoff."