Es ist mir eine ganz besondere Freude, hier in dieser wunderschönen Kirche meine Reise zu beschließen.
Sie haben mich eingeladen, mich mit Ihnen im Rahmen des Thomas-Mann-Festivals auf "Die Suche nach der Heimat" zu begeben – und diese Einladung habe ich mit Freuden angenommen.
"Die Suche nach der Heimat" ist ein menschliches Grundbedürfnis, das wir alle teilen. Es ist ein lebenslanges Streben. "Heimat" – das Wort klingt so vertraut und dennoch ist es schwer zu greifen, denn, was ist Heimat? Heimat, sagte Ernst Bloch, sei das, was allen Menschen in die Kindheit scheint. Es sind Menschen und Orte, Gerüche und Gesänge, Berge und Ebenen, das Meer, die Flüsse, es ist die Sprache und selbst der Wind, der in der Heimat so und nicht anders weht. Heimat ist der Raum, in dem sich die ersten Sinneseindrücke mit den Gefühlen der Geborgenheit, des Dazu-Gehörens, des Geborgenseins verbinden – ein Raum jenseits aller Politik, der uns, wenn wir älter werden, auch an die größere Heimat bindet, die eigene Nation, das Vaterland, das wir anders und besser als andere Länder kennen, das wir stärker als andere fühlen und auch als innere Stütze verwenden. "Muttersprache und Heimatwelt wachsen mit uns, wachsen in uns hinein und werden so zur Vertrautheit, die uns Sicherheit verbürgt", schrieb der aus Wien ins belgische Exil geflüchtete Jude Jean Améry. "Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben."
Thomas Mann hatte Heimat – und er hatte Wahlheimat, hier im damaligen Nidden, jenem Ort, der in ihm alt vertraute Kindheitserfahrungen von Meer und klarem Himmel wachrief, ihn aber auch an südliche Sehnsuchtsorte erinnerte und einen "Italienblick" ermöglichte. Hier in Nidden wollte er sich beheimaten, hier suchte er Geborgenheit, Einklang mit der Natur, ein Refugium. Doch dieser Ort schenkte ihm nur drei Sommer. Nazi-Deutschland trieb ihn ins Exil. Thomas Mann musste Zuflucht in Ländern suchen, die ihm jene Freiheit und jene Rechte zugestanden, die ihm die eigene Heimat verwehrte.
Politische Heimat – die vielen emigrierten Litauer wissen es genauso gut wie die geflüchteten DDR-Bürger – kann Heimat nie ganz ersetzen, es kann die Schmerzen des Vertriebenen im besten Fall lindern. Thomas Mann schützte sich gegen Fremdheit und Entwurzelung wie fast alle Flüchtlinge und Vertriebenen. Er bewahrte in seiner Seele auf, was ihm real entrissen war. "Wo ich bin, ist Deutschland", erklärte er bei seiner Ankunft in den USA. "Ich trage meine deutsche Kultur in mir."
Umgekehrt kann uns auch die Heimat fremd werden, wenn ihr die Politik Gewalt antut. Erst seitdem wir Ostdeutsche uns Freiheit und Demokratie erkämpft hatten, lebe ich in einem Land, das ich auch als meine politische Heimat empfinde. Das ist eine Erfahrung, die ich mit dem litauischen Volk teile.
Heute haben Litauer und Deutsche eine gemeinsame politische Heimat in Europa gefunden. Das europäische Projekt erlebt momentan eine schwere Vertrauenskrise, aber ich bin zuversichtlich: Es ist eine Krise, die wir überwinden werden, denn unsere Gemeinschaft ist verteidigenswert. Freiheit, Demokratie und Menschenrechte sind die Grundvoraussetzungen dafür, dass niemals wieder jemand aus seiner Heimat vertrieben wird – egal, welcher Nation er angehören, welche Sprache er sprechen und welche politischen Überzeugungen er vertreten mag.
Das ist der Geist des Thomas-Mann-Festivals, das Menschen unterschiedlicher Kulturen verbindet. Das Thomas-Mann-Haus ist ein Ort der Begegnung geworden. Und das Thomas-Mann-Festival ist ein deutsch-litauisches Festival – aber auch ein europäisches. Kulturschaffende und Kulturliebhaber aus ganz Europa sind hier versammelt. Und wir erleben beglückt: Derselbe Ort, dasselbe Meer, dieselbe Luft vermögen ganz unterschiedlichen Menschen Heimat und Wahlheimat zu sein. Und aus Liebe zu den Heimaten und Wahlheimaten fühlen wir, die Unterschiedlichen, uns beauftragt, das, was uns wert und wichtig ist, gemeinsam zu pflegen und als Ort der Geborgenheit und der Toleranz an die Nachkommen weiterzugeben.
Ich wünsche uns allen einen schönen Auftakt des Thomas-Mann-Festivals!