Die Damen und Herren, die in der alten deutschen Kaiserstadt Aachen jährlich den Karlspreis für europäische Verständigung verleihen, wissen in der Regel sehr genau, was sie tun. In diesem Jahr haben sie Ihnen, verehrte Frau Präsidentin, diesen Preis verliehen, und dabei in der Begründung darauf verwiesen, dass Sie sich als eine "herausragende Persönlichkeit der baltischen Region" besondere Verdienste "um die vertiefte Integration der europäischen Union und die Bewältigung der aktuellen Krise" erworben haben.
Ich freue mich sehr, dass Sie diesen Preis bekommen haben und dass ich Ihnen heute auch persönlich dazu gratulieren kann. Ich freue mich, weil Sie diesen Preis verdient haben, aber ich freue mich auch deswegen darüber, weil so vor allen Dingen die Westeuropäer einmal wieder vor Augen geführt bekommen,
erstens: wie groß Europa ist,
zweitens: dass es längst von Osten her wieder mitgestaltet wird – gerade übernimmt Litauen die EU-Ratspräsidentschaft,
und drittens: wie wichtig der Blick des östlichen Europas für das westliche Europa ist. Litauen wirbt für eine vertiefte Zusammenarbeit der EU mit unseren östlichen Anrainerstaaten.
Aachen und Wilna: Diese beiden Städte liegen zwar ziemlich weit auseinander, aber auf derselben Strecke, nämlich auf der großen alten Verbindungsstraße von Ost nach West, dem Handels- und Salzweg, der die Hansestädte von Brügge bis Nowgorod verband. Lange bevor es die heutigen Nationen gab, in einem Europa, das gedanklich und kulturell manchmal größer und großzügiger gedacht wurde, als oft danach – und ganz besonders in der Zeit des Eisernen Vorhangs, als es vielen von uns so vorkommen musste, ja sollte, als kämen wir von verschiedenen Sternen.
Dass Europa zusammengehört, das ist die glückliche Wiederentdeckung der letzten Jahrzehnte. Europa gehört zusammen, aber Europa gehört zusammen als ein Raum der Freiheit – für die Kleinen wie für die Großen, als ein Raum, in dem Wunden aus der Vergangenheit im Geiste der Menschenrechte, der Sicherheit, der Teilhabe, der Solidarität und der Demokratie geheilt werden sollen und können.
Manchmal, gerade in der jüngsten Zeit, sind einige dabei zu verzagen. Zu groß erscheinen die Probleme, die Europa heimsuchen, die aber auch hausgemacht sind. Die Finanz- und Wirtschaftskrise, die Überschuldung, vor allen Dingen die schlimme Arbeitslosigkeit der jungen Menschen in vielen Ländern Europas, dazu die außenpolitisch oft zögerliche und uneinige Europäische Union – all das lässt viele an Europa zweifeln, manchmal sogar verzweifeln. Viele Bürgerinnen und Bürger erhoffen sich keine Verbesserung, sehen in Europa sogar eher ein Hindernis für Wohlstand und Freiheit.
Hier setze ich auf den schönen deutschen Satz: "Bangemachen gilt nicht!" Ich setze deswegen darauf, weil ich die Geschichte des letzten Vierteljahrhunderts vor mir sehe. Was ist da nicht alles geschehen! Wir haben das von Grenzen befreite, das gemeinsame, demokratische Europa wiederentdeckt, weil wir es wieder errungen haben. Es kam uns wie ein Wunder vor. Aber in Wirklichkeit waren es menschlicher Wille, menschlicher Idealismus und menschliche Tatkraft.
Und das zeigt wieder einmal: Wenn nur jeder bei sich das Richtige tut, hilft er auch anderen. Sie in Litauen haben eine der tiefsten Wirtschaftskrisen in Europa überwunden – ohne um Hilfe von außen zu bitten. Diese litauische Politik verdient unseren Respekt. Anderen kann sie eine Menge Mut machen.
Ich bin froh, hier zu sein – zu sehen, zu lernen, zu hören, mich ermutigen zu lassen, aber auch um anzubieten, weiter und noch tiefer zusammenzuarbeiten, an der Beziehung unserer beiden Länder und an einem stabilen, freien Europa.
Daher bitte ich Sie, mit mir das Glas zu erheben auf Frau Präsidentin Grybauskaitė, auf das litauische Volk, die litauisch-deutsche Freundschaft und auf die Zukunft Europas.