Meine Damen und Herren, als erstes: herzlichen Dank für den überraschenden Empfang. Ich hatte mir vorgestellt, ich würde hier jeder Menge grauer und weißer Haare begegnen – und der erste Eindruck waren dann Kinder. Warum das so ist, das wird in meiner Rede noch vorkommen.
Ich freue mich sehr, dass der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, mir ein gutes Beispiel gegeben hat, wo man an bestimmten Situationen einfach sein muss. Es gibt zwar ein Missverhältnis zwischen den Erwartungen der Bevölkerung, wo der Bundespräsident sein muss – und der Einschätzung des Amtes und auch meiner eigenen Person, wo er wirklich sein soll und kann. Aber hier wollte ich nun heute unbedingt sein und ich freue mich auch, viele Mitstreiter aus anderen politischen Zusammenhängen der Aufarbeitung zu sehen.
Ich war hier schon einmal zu Gast. Die Einzelheiten der Ausstellung erinnere ich nicht mehr genau. Aber ich weiß noch sehr genau um die Emotionen, die mit diesem Ort verbunden waren. Das, was uns lange bewegt, ist das, was tiefer in uns eingedrungen ist, als dass es nur unseren Intellekt erfasst hätte. Und das sind die großen Gefühle, die wir damals mit diesen großen Fluchtströmungen und Fluchtbewegungen verbunden haben.
Es begegnet uns hier in Marienfelde etwas, das so alt ist wie die Menschheitsgeschichte – dass Menschen flüchten müssen oder weggehen wollen. Beides ist höchst gegenwärtig, wie wir jeden Tag erleben können. Höchst gegenwärtig ist sie, die Sehnsucht nach Freiheit, nach einem Leben und Gestaltungsmöglichkeiten in Freiheit und aus Freiheit, nach einem Leben ohne Angst, nach einem Leben ohne Unterdrückung, nach einem besseren Leben, nach Wohlstand, auch für die eigenen Kinder.
Rund anderthalb Millionen Menschen verschiedener Herkunft haben diesen Ort bis heute passiert. Sie haben hier Zuflucht und Zukunft gesucht – und fast immer auch gefunden. Der eine oder andere von ihnen ist heute unter uns – Sie begrüße ich besonders herzlich.
Heute wohnen hier Flüchtlinge und Asylbewerber aus Serbien, Tschetschenien, Afghanistan, aus dem Irak, Bosnien, aus Syrien und aus vielen anderen Ländern der Welt.
Errichtet aber wurde dieses Gebäude, dieser Speisesaal, in dem wir uns treffen, einmal von Deutschen für Deutsche. Es war einmal ein Flüchtlingsland, dieses Land, in dem wir heute so sicher wohnen. Freilich war es das nur für einen Teil der Deutschen. Für die anderen war es ein Zuwandererland, obwohl man das damals, weil es ja Deutsche waren, nicht so formuliert hat. Wir treffen, wenn wir es genau betrachten, in Marienfelde auf ein universelles Schicksal – und zugleich auf ein schmerzliches Kapitel der engeren deutsch-deutschen Geschichte.
Als vor sechzig Jahren das neue, zentrale Notaufnahmelager für DDR-Flüchtlinge eingeweiht wurde, flohen täglich Tausende von Ostdeutschen über das Schlupfloch Berlin in den Westen. Der damalige Bundespräsident Theodor Heuss sprach – wenige Meter von hier – sehr drastisch von einer „Sturmflut“. Die wenigsten hatten Abschied nehmen können von den Freunden, Verwandten, von den Kollegen. Mitnehmen konnten sie oft nur wenig. Manches Kind erfuhr erst im Nachhinein, dass der Teddy, den es auf dem Arm trug, das Einzige war, was man hatte mitnehmen können aus der alten Heimat.
Viele haben die Erinnerung an diese Übergangszeit niemals verloren, sie denken auch heute daran. Andere haben sie verdrängt. Sie leben so sicher, als wäre das Thema Flucht ein Thema, das nicht zu ihnen gehört. Aber wir Deutsche wollen nicht vergessen, welche Last damals in Deutschland getragen wurde. Viele Familien wurden dauerhaft zerrissen. Für manche gab es ein glückliches Wiederzueinanderkommen. Für andere ist die Zerrissenheit geblieben, weil viele von uns alte Fehler nicht als Fehler erkennen wollten. Und ich spreche dabei nicht über die Geflohenen. Sondern ich spreche über den Teil der Gebliebenen, der heute noch die Zeit damals als etwas völlig Normales darstellt und den Flüchtenden und Geflohenen die Schuld zuschiebt für das, was sie weggetrieben hat. Das war aber ganz anders. Denn wenn wir uns die Gründe für die Fluchten jeweils anschauen, erkennen wir ganz klar den systemischen Unterschied, der Leute veranlasst hat, Freiheit dort zu suchen, wo sie lebte. Man wollte leben, wo die Freiheit lebte und nicht nur von der Freiheit träumen.
Ich selber, darauf werde ich noch zu sprechen kommen, hatte einen anderen Lebensentwurf. Aber immer, wenn ich genau hinschaue, mich erinnere an die Menschen, die weggegangen sind aus meiner Nähe, aus der größeren und weiteren Nähe, dann stehen uns die Fluchtgründe vielfältig vor Augen. Da war die Hofbesitzerin, die das unerträgliche Soll nicht erfüllen konnte und irgendwann abhaute. Oder die Landwirte, die sich der Kollektivierung widersetzten, die es nicht ertragen konnten, ihren alten Hof in die LPG oder ins volkseigene Gut einzubringen. Oder die Handwerker, die aus der Enge, die ihnen zugemessen war, flohen. Das Mitglied der Jungen Gemeinde, das von der Schule verwiesen wurde, weil es seinen Glauben offen leben wollte oder später diejenigen, die wegen ihres Glaubens gar nicht zur Oberschule zugelassen wurden. Oder die Lehrerinnen und Lehrer, die es nicht ertragen konnten, weniger Fachunterricht als Staatstreue weiterzugeben. Oder einfach Jugendliche, die sich nicht vorschreiben lassen wollten, welche Musik sie zu hören hatten, welchen Lebensstil zu leben, wie ihre Haartracht sein sollte.
Ich habe als Vikar in der kleinen Stadt Lage in Mecklenburg die ergreifende Situation erlebt, wie einer der Jugendlichen aus der Gemeinde vom Ortspolizisten am Arm gepackt und zum Friseur geschoben wurde und dort die langen Haare gestutzt bekam, weil man als anständiger DDR-Deutscher nicht so durch eine mecklenburgische Kleinstadt rannte. Das war zu der Zeit, als die Mauer schon gebaut war.
Ganz gut, wenn wir uns derlei Fluchtgründe, seien sie banal oder zutiefst erregend und aufwühlend, noch einmal vor Augen führen. Und ich weiß wohl, dass ich nur einen Bruchteil der Gründe hier beispielhaft genannt habe. Es ging, wer sich nicht abfinden konnte oder wollte mit dem, was ihn umgab. Mit der ganzen Bevormundung, mit der Unterdrückung. Und einige auch mit Unrecht und Leid, das sie oder ihre Familie erfahren hatten. Es kamen aber auch politisch Andersdenkende, die noch nicht in der Opposition waren. Einfach, weil sie sich nicht vorstellen konnten, aufgrund ihres Denkens und ihrer Werte, dass sie hier überhaupt eine Zukunft hätten. Sie konnten sich Zukunft nur vorstellen als eine Zukunft im Gefängnis.
Es kamen auch solche, die ihre Heimat ursprünglich überhaupt nicht verlassen wollten. Ich kann mir z.B. nicht vorstellen, dass Peter Huchel weggehen wollte, der hier so gut verankert war im Brandenburgischen. Eine große deutsche literarische Stimme des vergangenen Jahrhunderts. Und irgendwann war er einfach weg. Und so verlor dann die DDR im Laufe ihres Bestehens jeden fünften Staatsbürger an den Westen.
Der als so kalt gescholtene kapitalistische Westen erwies sich als ein Raum der Heimat für diejenigen, die in der warmen sozialistischen Menschengemeinschaft heimatlos geworden waren. Er wollte Heimat geben, dieser Raum, und vielfach konnte er es auch. Dass das niemals zu 100 Prozent gelingen kann, das haben alle Ankommenden erfahren. Seien es die Flüchtlinge nach dem Krieg oder seien es diese Menschen, die oftmals das Gefühl hatten, sie kämen nirgends richtig zu Hause an.
Ich könnte aus meinem ganzen Erfahrungsschatz, der ja manchmal auch eine Erfahrungslast ist, noch viele Beispiele nennen: von glückhaftem Ankommen und vom ewigen Verirrtsein in einem Nebel, den einzelne gar nicht mehr zu durchdringen vermochten. Diese Ambivalenz, die über uns kommt, wenn wir das Vertraute verlassen und uns neu beheimaten sollen. Sie haben schon gemerkt, dass hier der ehemalige Bewohner der DDR gesprochen hat und nicht nur der Bundespräsident. Und ich möchte auch, dass Sie das merken.
Es ist übrigens für unsere Bundesrepublik eine wunderbare Geschichte, dass wir Ostdeutschen nicht nur marginalisiert irgendwo am Rande als Bedürftige vorkommen dürfen. Sondern wir machen uns bewusst, dass mit der Ankunft sehr, sehr vieler hochgebildeter, hochengagierter, wertorientierter Menschen aus dem Osten im Westen nicht nur das Wirtschaftswunder befördert wurde, sondern auch eine besondere Farbe der Treue zur Demokratie und zur Freiheit in diesem Land Einzug gefunden hat. Das wollen wir uns ganz nebenbei in einer solchen Situation mal bewusst machen.
Zu den Geschichten, die ich als von der DDR geprägter Mensch erlebt habe, gehört, dass für mich selber das, worüber ich hier amtlich spreche, auch eine sehr biografische Seite hat. In meiner Familie gingen zunächst Menschen am Rande der Familie. Dann Onkel und Tante. Und die Schwester mit ihrem Kind. Und dann irgendwann viel später, viel, viel später, als meine Familie sich zum Bleiben entschlossen hatte, gingen dann doch auch die älteren Kinder. Und der Kreis wurde enger. Man schaute sich um.
Ich erinnere mich auch noch an die Gefühle, die ich und die viele andere in so einer Situation gehabt haben. Oft haben wir, die Dableibenden, uns regelrecht eine Gleichgültigkeit antrainiert gegenüber den Wünschen und Schicksalen derer, die gehen wollten. Wir haben gesagt, na ja, sie gehen, das ist irgendwie normal, auch wenn die Staatsmacht es nicht als normal bezeichnet hat. Aber wir wollten uns vor Trauer und Leere schützen. Wir wollten manchem nicht so tief nachsinnen, wie man es als Mensch eigentlich hätte tun sollen. Das gehört auch zu den Geschichten, die wir nachträglich anschauen müssen, die wir bearbeiten müssen, um uns frei zu machen. Auch die Beweggründe derer, die gegangen sind, in Würde und in Wahrhaftigkeit anzuerkennen.
Ich erinnere mich noch gut, wie ich mich selber überzeugen musste, gegenüber denen, die weggingen. Aber sie haben doch ein Recht zu gehen, so musste ich mit mir selber sprechen. Habe ich denn ein Recht, ihnen ihren Wunsch nach individueller Freiheit zu verargen? Oder, wenn ich sie beneide, warum folge ich ihnen nicht? Wenn ich ihnen nicht folge, muss ich gute Gründe haben. Ich hatte sie, aber ich musste lernen, dass es trotzdem diese Gefühle von Trauer gibt. Ich war nun ein Mann in der Mitte meines Lebens und da denkt man oft, dass die Gefühle weniger wichtig sind als die Gedanken, die man über Gefühle hat. Und so kann man sich dann im Grunde das tiefere Eingehen auf das, was im Herzen wohnt, schenken. Das kommt dann später nach, bei mir jedenfalls ist es so.
Ich erwähne diese Dinge, die sehr persönlich eingefärbt sind, weil ich meine, dass die vielen Geschichten, die uns damals voneinander getrennt haben, obwohl es unendlich viele Bücher und Kapitel darüber gibt, noch längst nicht auserzählt sind. Darum ist es auch so wichtig, dass wir Menschen haben, die uns ihre Geschichte erzählen. Es ist übrigens genauso wichtig, wenn wir heute das Thema Flucht und Migration betrachten. Es sieht alles anders aus, wenn wir ein Menschenangesicht vor uns haben, das uns erzählt, was Fliehen und neue Heimatsuche ist, als wenn wir Statistiken lesen oder Berichte, die ein Amt mit der besten Absicht verfasst hat. Es sieht alles anders aus, wenn wir in ein Menschengesicht schauen.
Wir wollen uns heute auch daran erinnern, dass nicht alle Fluchten hier geendet sind. Viele Fluchten endeten, wo sie niemals enden sollten, nämlich in den Gefängnissen von Bautzen, von Hoheneck oder Hohenschönhausen. Manche auch in der Ostsee, bei den Fischen am Meeresboden. Ich habe in meinem Büro, wo ich jeden Tag vorbei gehe, ein Bild, darauf ein Trabant am Strand der Ostsee – an einer Stelle, wo an und für sich keine Trabanten stehen durften. Aber der hat es mal geschafft, und der Anhänger, auf dem das Fluchtboot stand, ist auch noch zu sehen auf dem Bild, die Menschen nicht. Ein Foto aus einem Stasiarchiv in Rostock. Die Leute waren schon geflüchtet, aber sie hatten außerhalb der Hoheitsgewässer einem Hubschrauber gegenüber gesessen in ihrem Boot, drei Männer, ein Vater und zwei Söhne, der so tief flog, dass die Windschutzscheibe des Bootes eingedrückt war vom Hubschrauber. Und auf den Kufen des Hubschraubers standen die Bewaffneten mit der MP im Anschlag. So endete diese Flucht eben im Gefängnis. Nicht hier, nicht in diesem Lager, nicht in der freien Welt. Und wenn wir hier miteinander feiern, was hier gelungen ist, dann gehört zu diesem Gedenken auch die Erinnerung an das Scheitern.
Zu der Erinnerung gehört aber auch die Würdigung der Menschen, die damals nach dem Mauerbau anderen geholfen haben, dieses Land des Unrechts und der Unfreiheit zu verlassen. Sie wollten anderen Menschen helfen. Ich spreche von den jungen Studierenden und anderen Aktivisten aus Westberlin, die irgendetwas tun wollten, dieser unerträglichen Schande des Mauerbaus etwas entgegenzusetzen. Sie gruben Fluchttunnel und haben damit vielen Menschen den Weg in die Freiheit eröffnet, gleichzeitig auch anderen Bürgern gezeigt: Leute, man muss nicht nur zuschauen, man kann auch etwas tun. Mit Dankbarkeit und Freude erinnere ich an diese Aktivisten, die das nicht für Geld gemacht haben, sondern aus menschlichen Werten. Diese Aktivitäten gehören in unser kollektives Gedächtnis und sie haben Dank verdient und Anerkennung.
Als Theodor Heuss hier einst redete zur Eröffnung des Lagers, hat er gesagt, das Ganze hier habe ein Doppelgesicht: ein menschliches Gesicht und ein verwaltungstechnisches. Und das kriegt man erst mit, wenn man sich anschaut, wie Berlin damals in der Nachkriegszeit eigentlich ausgesehen hat. Diese damals immer noch von Ruinen gezeichnete Stadt, im Osten freilich mehr als im Westen. Aber auch hier war damals der Krieg noch unübersehbar. Schuttberge, lange Schlangen von Flüchtlingen warten geduldig anstehend –, und man ahnt, was für ein Unternehmen es war, dieses Aufnahmelager zu schaffen und welche Erleichterung diese komfortablen Unterkünfte bedeuteten. Es war ein Lager mit kurzen Wegen, eine große Hilfe für die Menschen, die weggegangen waren. Und wenn man den Schilderungen von Solidarität und Hilfsbereitschaft vieler Berlinerinnen und Berliner folgt, wenn man sie nachliest, dann kann man nur sagen: Diese Stadt, und ich meine jetzt den westlichen Teil der Stadt, dieses Westberlin hat damals Großartiges geleistet – menschlich und administrativ!
Das Land, in das die Flüchtlinge kamen, das war für sie das ihre und trotzdem war es auch fremd. Und auf manchen von uns Ossis hat man im Westen nicht immer und zu jeder Zeit – vorsichtig gesagt – gleich intensiv gewartet. Andere würden es etwas kritischer ausdrücken. Anfang der 50er-Jahre - als nicht nur die Flüchtlingszahlen hoch waren, sondern auch die Arbeitslosenzahlen, als zudem noch Wohnungsnot herrschte – gab es eine lebhafte Debatte darüber, warum die Flüchtlinge eigentlich kommen. Angeblich wollen sie ja die Freiheit, aber wollen sie nicht in Wirklichkeit meinen Arbeitsplatz? Da wollen wir doch noch mal genau hinschauen. Solche Debatten gibt es auch heute. Und wenn das wieder auftaucht, dann könnte das den Älteren irgendwie bekannt vorkommen. Ursprünglich wollte man nur die vor politischer Verfolgung Geflohenen als „echte“ Flüchtlinge anerkennen. Die anderen wurden nicht zurückgeschickt, aber sie hatten anfangs weder Anspruch auf eine Arbeitserlaubnis noch auf die Zuteilung von Wohnraum. Diese Praxis änderte sich aber bald, und zwar auch wieder hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen, weil eben plötzlich Arbeitsplätze da waren und zu wenig Arbeitende. Da änderte sich dann auch die Einstellung gegenüber den Geflohenen.
Am Ende war es ähnlich wie heute: Gewiss waren nicht alle Geflohenen politische Flüchtlinge. Aber eigentlich lagen bei allen, die geflohen waren, politische Gründe für die Flucht vor. Viele Deutsche waren in diesem Sinne, wenn wir es nun mal so benennen wollen, genau gesehen, auch „Wirtschaftsflüchtlinge“. Oder sie sind ganz einfach nur einer schlichten menschlichen Sehnsucht nach einem freieren, selbstbestimmten Leben gefolgt.
Wir tun sehr gut daran, uns genau dies in Erinnerung zu rufen, bevor wir heute wieder vorschnell über die Motive von Flüchtlingen urteilen. Wer kann es Menschen verdenken, so fragen wir uns dann, nach diesem Nachdenken, wenn sie vor Elend und Perspektivlosigkeit in ein Land fliehen, in dem sie Perspektiven erwarten dürfen? Wenn sie sich auf die Suche machen nach einer besseren Zukunft für ihre Kinder, wenigstens?
Der westdeutsche Staat hat damals viel getan, um den Landsleuten aus dem Osten den Neuanfang im Westen zu erleichtern – in einer anfangs alles andere als einfachen wirtschaftlichen Situation. Auch das „Meinungsklima“, ich hatte es eben angedeutet, war zeitweilig eher ungünstig. Am Ende hat die alte Bundesrepublik von den überwiegend jungen und gut ausgebildeten Flüchtlingen, wenn wir es rein ausrechnen wollen, profitiert; von ihrem Fachwissen, von ihrer Leistungsbereitschaft. Ganz früh etwa, als für die Unternehmen im sächsischen und thüringischen Raum erkennbar war, dass das mittelständische Konzept von Unternehmertum nicht mehr lange gut gehen würde, sind viele Unternehmer gegangen. Es ist in Jena passiert, es ist bei vielen Textilbetrieben passiert. Ich weiß gar nicht, wie viele westdeutsche Damen wussten, wer eigentlich der Produzent der damals so begehrten Perlonstrümpfe war – in der Regel waren das Weggegangene aus dem mitteldeutschen Mittelgebirgsraum, die zum Teil mitsamt ihrer Belegschaft im Westen angekommen waren.
Wir können nur staunen und stolz sein, was der – von heute aus gesagt – alte westdeutsche Staat an Integratonsleistungen vollbracht hat. Das ist einfach staunenswert. Denn es waren ja nicht nur die schon erwähnten vier Millionen Ostdeutschen, die er im Laufe der Geschichte integriert hatte. Zuvor waren doch in der Zeit der bittersten Armut und der Neuorientierung dreimal so viele Menschen zugewandert, die zwar nicht alle im Westen waren, aber größtenteils. Die aus den Gebieten des ehemaligen deutschen Ostens als Flüchtlinge und Vertriebene zu uns gekommen waren. Und dann viele Jahre später wieder die Wellen der Aussiedler aus dem Osten Europas, dann Millionen ausländischer Arbeitskräfte. Sie kamen mit ihren Familienangehörigen. Und es kamen Flüchtlinge aus allen Teilen der Welt.
Nun schauen wir uns unser Land, die innere Sicherheit, die Verfasstheit und den Wohlstand heute einmal an. Und wenn wir das tun und diesen Prozess der immerwährenden Aufnahme derer, die nicht ursprünglich hier gewohnt haben, würdigen, müssen wir dann sagen, dass unser Land durch die Zuwanderung dieser Menschen in eine Krise geraten ist? Eigentlich nicht. Deshalb sollten wir Debatten über die Art und Weise und den Umfang von Zuwanderung mit der Rückerinnerung an unsere Integrationsleistungen und an unsere Integrationsfähigkeit führen. Wir sollten es mit Vernunft und historischem Wissen tun. Wir werden dann immer noch ein paar Probleme entdecken, aber wir werden dann eine andere Haltung haben gegenüber diesem Thema.
So schwierig es auch gewesen sein mag und immer noch ist, für die Hinzukommenden wie für die aufnehmende Gesellschaft – die meisten Flüchtlinge und die meisten Zuwanderer, sie sind heimisch geworden. Das heißt auch: Viele Familien in Deutschland haben – zumindest über eine Ecke – Erfahrung mit dem Verlassen ihrer Heimat, mit dem Erringen einer neuen Heimat. Viele von uns haben – wenn wir es so sehen – eine Migrationsgeschichte! Auch das gehört zu den Dingen, die wir bei den aktuellen Debatten im Hinterkopf behalten wollen.
Ursprünglich war dieses Marienfelde – wie Theodor Heuss bei der Einweihung 1953 sagte – das Tor zu einer „Herberge zur Heimat“. Seit Ende 2010 wird nun Marienfelde vom Internationalen Bund genutzt als Übergangswohnheim für Flüchtlinge und Asylbewerber. Für sie ist das nicht ein Tor in die Heimat, sondern in irgendeine Fremde. Die wenigsten Außenstehenden wissen, welche schlimmen Erfahrungen hinter denen liegen, die hier an die Türen klopfen. Sie wissen deshalb auch nicht, wie tief die Hoffnungen gegründet sind, mit denen sie kommen. Und wie tief die Befürchtungen sind, die sie begleiten, wenn sie hier angekommen sind. Es ist gut, dass die Erinnerungsstätte ihre Dauerausstellung ergänzt hat um Videoaufnahmen, die das Schicksal einzelner hier lebender Familien zeigen. Denn es ist etwas anderes, ob wir die Zahlen der Asylbewerber lesen – oder ob wir die Familie Gedaev aus Tschetschenien treffen, die Familie Tello aus Syrien, die Familie Ghodoussi aus Afghanistan oder Herrn Barakizadeh aus dem Iran, wo er als Künstler gelebt hat.
Der Grundsatz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ ist einer unserer höchsten Güter. Er fand Eingang in das Grundgesetz, weil Deutsche, die während des Nationalsozialismus verfolgt wurden, als Emigranten im Ausland oft genug nur unter großen Schwierigkeiten Asyl fanden. Deshalb verpflichtet sich Deutschland bis heute denen gegenüber, die von Menschenrechtsverletzungen bedroht und politischer Verfolgung ausgesetzt sind.
In einem vereinten Europa stellt uns diese Verpflichtung zur Asylgewährung – die wir auch weiter erfüllen wollen und müssen – vor neue Herausforderungen. Gemeinsame Standards und gemeinsame Verfahrensgrundsätze müssen in Europa gewährleistet werden, so dass politisch Verfolgte in einem fairen, individuellen und zügigen Verfahren ihren möglichen Anspruch auf Asyl oder Flüchtlingsschutz geltend machen können. Ich begrüße es, dass sich eine politische Einigung und Fortentwicklung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems abzeichnet.
Unabhängig davon müssen wir auch in Zukunft überall in Europa dafür Sorge tragen, dass Asylsuchende und Flüchtlinge einen rettenden Hafen finden. Das erfordert zugleich unsere Solidarität mit den Nachbarländern, in denen aufgrund ihrer geografischen Lage die meisten Flüchtlinge ankommen. Das Hauptaugenmerk unserer Politik sollte zudem darauf gerichtet werden, dass in den Herkunftsländern die Verhältnisse so gestaltet sind, dass die Gründe zu fliehen minimiert werden oder gänzlich aufgelöst werden, dass keine politische Verfolgung mehr stattfindet und dort für alle ein menschenwürdiges Leben möglich ist. Wir haben nicht nur in fernen Kontinenten, sondern auch vor unserer europäischen Haustür und in Europa noch Probleme, an denen eine Menge politischer Arbeit zu tun ist. Wir leben ja in Europa nicht nur in der Europäischen Union, sondern auch im Rahmen des Europarates. Machen wir uns das bewusst.
In dem entscheidenden Jahr 1989, als hier in Marienfelde wieder Notbetten aufgestellt werden mussten, gab es in Leipzig Demonstranten, die trugen Transparente mit der Aufschrift: „Wir bleiben hier“. Das konnten sie aber nur sagen in der Hoffnung, dass es nicht so bleiben würde, wie es ist. „Wir bleiben hier“, hieß damals für die Aktiven, ja, wir bleiben hier und gestalten um. Und so eine Perspektive wünschen wir uns natürlich für jedes Land, auch für die in unserer europäischen Nähe, in denen sich die Verhältnisse so prekär darstellen. Wir haben mit großer Freude den arabischen Frühling begrüßt und wir wünschen uns natürlich dort Verhältnisse, die immer weniger Menschen Anlass geben, von dort zu fliehen. Unsere Politik arbeitet intensiv daran, auch draußen, wo immer wir können, an Veränderungen mitzuwirken, selbst wenn es manchmal etwas Geld kostet.
Es ist doch auch heute noch so ähnlich ist wie früher bei den Weggehenden in der DDR. Auch heute möchten die allerallermeisten Menschen lieber bleiben als fliehen. Sie würden bleiben – wenn sie eine Aussicht hätten auf menschenwürdige Arbeit, auf Bildung für ihre Kinder, auf ein Leben ohne Mängel und Mangelernährung, ohne Angst vor Gewalt. Das heißt: Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, den Menschen und den Politikern in den Herkunftsländern zu helfen, dass ein würdiges Leben in Freiheit und Sicherheit möglich ist.
Da sich dies aber nur langfristig erreichen lässt, haben wir – da müssen wir ganz nüchtern bleiben – nicht nur in Deutschland, sondern in Europa auf längere Zeit mit dem Problem von Asylbewerbern und Flüchtlingen zu rechnen. Und ich frage mich, wohl wissend, dass nicht jeder Asylsuchende auch asylberechtigt ist: Statt zu überlegen, wie wir die, die nach Europa kommen möchten, abwehren oder wieder loswerden können – sollten wir nicht lieber öfter fragen, was sie können und einbringen könnten? Wir denken ja immer zuerst an die „Last“, die für unsere Gesellschaft damit verbunden ist. Aber es gäbe doch auch die Möglichkeit, über Variationen des beiderseitigen Gewinns nachzudenken. Nicht ohne Grund habe ich im Eingangsteil meiner Rede auf die Erfahrungen der alten Bundesrepublik mit den Zuwanderern hingewiesen. Und das ist doch ein Erkenntnis- und Lösungsansatz, der für uns, für die Debatte auch mit den Bürgerinnen und Bürgern, die oft nur am Rande mit der Thematik befasst sind, ein hochwichtiger wäre. Also lassen Sie uns stärker blicken auf die Qualifikationen, die die Menschen mitbringen. Lassen Sie uns schauen, welche Jobchancen sie ihnen eröffnen können. Können wir mehr Durchlässigkeit und bessere Informationsangebote anbieten? Und wenn wir uns diese Frage stellen, dann wird uns auch etwas einfallen.
Was die betrifft, die schon bei uns sind: Ich habe vor einiger Zeit ein Asylbewerberheim besucht im Brandenburgischen, in Bad Belzig. Und dort habe ich gesehen, dass sehr viele, die dort wohnen, darunter leiden, dass sie da zwar versorgt sind, sie aber nicht arbeiten dürfen. Und ein großer Teil von ihnen ist so qualifiziert, dass sie arbeiten könnten. Die meisten also wollen dem Sozialstaat gar nicht auf der Tasche liegen – sie müssen es! Das sind Verordnungen, die auch irgendwo ihren Sinn haben, ich bin da ganz demütig gegenüber der ausübenden Politik. Was ich anmahne, ist mehr Fantasie und mehr Empathie. Und da könnte sich eigentlich etwas bewegen. Ganz egal, ob wir Menschen vor uns haben, deren Asylantrag wirklich berechtigt ist: Es würde doch das Lebensgefühl und die Würde der Menschen, die hier in diesen Lagern sind, fördern und verbessern, wenn wir ihnen Möglichkeiten einer begrenzen Beschäftigung eröffnen könnten.
Und wenn sie schon lange hier sind, wenn ihre Kinder hier aufgewachsen sind und hier erzogen sind und wenn sie zum Teil sogar hier Schulabschlüsse erlangt haben, gibt es da nicht Perspektiven, die wir ihnen eröffnen können? Ihren Zustand des Hierlebens auch zu legalisieren?
Es ist gut, dass immer mehr Kommunen Flüchtlinge in diesem Sinne nicht nur als organisatorische Herausforderung begreifen, sondern das ihnen mögliche dafür tun, dass sie vernünftig Fuß fassen können: mit Sprachkursen oder mit Kindergärten, auch mit schulischer Unterstützung.
Ich weiß, wenn man so etwas sagt, heißt es: Na ja, Ihr da oben habt gut reden, wir wüssten ja gar nicht, was es für Probleme vor Ort gibt. Und dann gehöre ich zu denen, die sich das nicht bieten lassen. Die sagen, nein stimmt nicht. Wir kennen Probleme durchaus. Und wir wissen auch, dass es durch die Anwesenheit von Zugewanderten oder Flüchtlingen an manchen Orten zu Konflikten kommen kann, aber wir wollen, dass das offen und faktengestützt besprochen wird und dass dann, nach einem offenen faktengestützten Dialog nach Lösungen gesucht wird. Und wo es nicht besser geht, wie wir es uns wünschen, müssen wir uns fragen, warum geht es eigentlich nicht besser. Wer ist daran schuld? Und wir müssen diejenigen, die hier etwas verändern können, ganz konkret ansprechen, beide Seiten. Und nur, wenn wir nicht offen darüber sprechen, dann entsteht so ein unguter Knoten, von dem am Schluss keiner mehr richtig weiß, wie er zu lösen ist.
Natürlich ist es uns klar: Jeder, der zu uns kommt, muss auch unsere Regeln einhalten – das tun wir alle ja auch, ob es uns gefällt oder nicht. Und wenn diese Regeln nicht respektiert werden, dann ist der Staat nicht brutal, sondern er handelt pflichtgemäß, wenn er zu Sanktionen greift. Auch das alles ist möglich. Aber nicht möglich ist, eine ganze Gruppe von Menschen wegen der Konflikte einiger weniger pauschal als ein Problem zu beschreiben und eine ganze Gruppe pauschal zu stigmatisieren. Das ist nicht möglich.
Eigentlich sagen wir etwas ganz Selbstverständliches: Wir wollen, dass diejenigen, die zu uns kommen und die, die schon da sind, das Gespür haben, wir behandeln sie und reden mit ihnen im Wissen um die Menschenrechte, mit Menschlichkeit und mit Menschenverstand!
Meine Damen und Herren, so steht Marienfelde symbolisch für das, was Menschen auf sich nehmen, um ein freieres und selbstbestimmtes Leben zu leben – es steht auch für die Solidarität derer, die solche Freiheit schon genießen.
Heute erscheint es so selbstverständlich, dass wir all das hier am historischen Ort nachvollziehen können. Dabei war es ganz wesentlich zuerst das Verdienst Einzelner, die früher als andere, früher auch als die Politik erkannt haben, welchen Wert diese Erinnerung für uns Deutsche hat. Stellvertretend für viele schon Genannte und für viele Nichtgenannte möchte ich daher Harald Fiss danken, der mit vielen anderen Engagierten – darunter viele ehemalige Flüchtlinge – die Entstehung dieser Erinnerungsstätte erst möglich gemacht hat! Herzlichen Dank!
Damals habe ich als Mitglied des Beirates der „Stiftung Berliner Mauer“ versucht, meinen Teil dazu beizutragen, dass dieser Ort als „Gedenkstätte von nationalstaatlicher Bedeutung“ anerkannt wird. Ich danke heute allen, die hier und heute engagierte Arbeit geleistet haben und leisten, Ihnen, Frau Effner, Herrn Dr. Klausmeier und der „Stiftung Berliner Mauer“, dem Förderverein.
Die Gedenkstätte ist nicht nur als Lernort für junge Leute sehr wichtig. Sie ist auch für viele von uns ein ganz persönlicher Schicksalsort. Heute noch treibt es ehemaligen Flüchtlingen Tränen in die Augen, wenn sie ihre alten Unterkünfte sehen. Viele erleben noch einmal die dramatische Wendung ihres Lebens – oder sie bekommen eine Ahnung davon, was ihre Eltern damals wohl so durchgemacht haben.
So erinnert Marienfelde heute an die deutsche Teilung und an ihre Überwindung, an die Anziehungskraft und die Aufgaben von Demokratie, von Rechtstaatlichkeit und Freiheit. Und sie gemahnt uns zugleich an das, was Gegenwart ist: dass überall in unserem Land und auf der Welt Menschen auf der Suche sind nach Rechtstaatlichkeit, nach einem besseren Leben, nach einem Leben in Freiheit.