Es freut mich sehr, dass ich heute hier bei Ihnen sprechen darf. Ich habe mir heute gern Zeit für Wissenschaft genommen. Denn hier, in der „Gemeinschaft der Forschenden“, finde ich fraglos ganz vieles wieder von dem, was auch mich antreibt und bewegt: Die Neugier und die Lust am Wissen-Wollen. Die Skepsis gegenüber angeblich letzten Wahrheiten. Vor allem die Überzeugung, dass wir nur in Freiheit unsere Potentiale voll entfalten können. Und dazu noch das Bewusstsein der Verantwortung, die aus diesem Wissen folgt.
Wenn ich heute zu Besuch bei der großen Selbstverwaltungsorganisation der Wissenschaft in Deutschland bin, dann geht mir viel durch den Kopf, was der Diskussion würdig und wert wäre. Etwa die Frage nach der Finanzierung der Wissenschaft: Wie wird es weitergehen, wenn die aktuellen Sonderprogramme auslaufen? Wie steht es mit der Grundfinanzierung, insbesondere der Hochschulen? Welche Perspektiven bieten wir jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die nicht Professor oder Professorin werden können oder wollen? Machen wir genügend Anstrengungen für die Chancengleichheit: Männer, Frauen im Wissenschaftsbetrieb, bei den Berufungen? Und auch die Frage, die in Ihrem Motto anklingt – „Zeit für Wissenschaft“: Muss dieser ja ganz besondere „Betrieb“ vielleicht sogar ein wenig entschleunigt werden – und wenn ja, an welcher Stelle? Sie, lieber Herr Professor Kleiner, haben mehrfach darüber gesprochen, wie wichtig Zeit, Muße und Ruhe für das wissenschaftliche Arbeiten sind.
Wir wollen uns gemeinsam ein bisschen Entschleunigung gönnen. Darum werde ich über all das nicht sprechen – weil ich erst mit denen darüber sprechen möchte, die Experten in eigener Sache sind: mit Ihnen, den Forscherinnen und Forschern. Es wird ja nicht das einzige Mal in meiner Amtszeit sein, dass ich Ihnen oder Ihren Kolleginnen und Kollegen begegnen werde, Vertretern der Wissenschaftsorganisationen und Politikern und Politikerinnen.
Ich werde heute von einer Beobachtung sprechen, die nicht ganz neu ist, weil unsere Welt doch eine von Wissenschaft getragene Welt ist; weil unser Alltag, weil gerade in Deutschland unser Wohlstand auf ihren Erkenntnissen basiert, und weil unsere Erwartungen an sie, die Wissenschaft, riesig sind: Sie soll saubere, sichere und erneuerbare Energien schaffen, soll Nahrung für eine rasant wachsende Menschheit bescheren, sie soll uns bessere Therapien gegen Krankheiten in die Hand geben und vertiefte Kenntnisse über andere Kulturen vermitteln. Warum, so frage ich mich, sind in den öffentlichen Debatten über unsere Zukunft die Stimmen aus Physik, Ökonomie, aus den Ingenieur-, Lebens- oder Kulturwissenschaften, überhaupt aus der „Wissenschaft in allen ihren Zweigen“ eigentlich nicht prominenter zu hören? Ich wünschte mir das schon. Könnte nicht gerade das interdisziplinäre Konzert der Wissenschaft in der Gesellschaft noch mehr Augen und Ohren von Menschen öffnen? Rufen die vielen neuen Entwicklungen nicht geradezu danach, dass komplexe Fragen der Wissenschaft verständlich vermittelt werden?
Demokratie braucht wohl manchmal eine fröhliche Wissenschaft, im politischen Alltag immer aber eine verständliche Wissenschaft – denken wir nur an solche Dinge, die uns so heftig bewegen wie den Euro oder an die Klima- und Energiefragen. In diesem Sinne ist es auch höchste Zeit für Wissenschaft. Weil sie uns besser verstehen hilft, woher wir kommen, wer wir sind und welche Wege sich überhaupt vor uns auftun. Weil sie manchmal beängstigende Szenarien entwirft, aber auch Perspektiven eröffnet, die viele noch nicht sehen können. Weil sie uns so unangemessene Ängste nehmen und die Kraft zum Wandel geben kann. Und weil wir die Einordnung brauchen, die Wissenschaft bietet, gerade wenn sie Visionen mit einer nötigen Portion Skepsis versachlicht.
Unsere freiheitlich demokratische Gesellschaft lebt – genau wie die Wissenschaft – von den Suchbewegungen im Offenen und von der Fähigkeit zur Selbstkorrektur, vom Mut zur Frage, allerdings auch von der Vielstimmigkeit der Antworten. Deshalb sind Ihre Stimmen, meine Damen und Herren, die Stimmen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, nicht nur Bestandteil von Wissenschaftsdiskursen, sondern auch Teil unserer lebendigen Demokratie.
Seit jeher haben sich Wissenschaftler auch als Vordenker verstanden, die sich mit Lust und Verantwortungsbewusstsein in die öffentlichen politischen Debatten begeben haben. Nicht alle, das ist auch nicht erforderlich, aber immer wieder. Ich denke an Gottfried Wilhelm Leibniz und die Humboldt-Brüder, an Albert Einstein, an Max Weber, ich denke an Hannah Arendt und Ralf Dahrendorf, an Carl-Friedrich von Weizsäcker und viele, viele andere. Der französische Philosoph Henri-Louis Bergson meinte, es gebe keine noch so subtile philosophische Idee, „die man nicht in einer jedermann verständlichen Sprache ausdrücken“ könne. Einfach ist das gewiss nicht. Aber muss man es nicht deshalb versuchen? Muss man das nicht immer wieder versuchen?
Die alte Klage, in die schon Goethe einstimmte – “Die Deutschen besitzen die Gabe, die Wissenschaften unzugänglich zu machen“ auch wenn er einschränkte, dass nicht nur die Deutschen diese Gabe haben – sie ist wohl selten so berechtigt wie jetzt. Ich meine, wir können noch eine ganze Menge lernen von der Art und Weise, mit der Wissenschaft und Wissenschaften im angelsächsischen Raum präsentiert werden.
Selbstverständlich braucht jede Disziplin ihre eigene Sprache. Sie braucht auch ihren geschützten Raum, in dem Experten ungestört miteinander reden können in ihren Fachsprachen. Aber wir alle und auch die Wissenschaft braucht eben auch Forscherinnen und Forscher, die sich verantwortlich fühlen, über ihren Raum hinaus zu kommunizieren, ihre Ergebnisse zu übersetzen und in unsere Gesellschaft hineinzubringen. Forscherinnen und Forscher, die unsere Gesellschaft teilhaben lassen an dem Erkenntnisgewiss der Wissenschaft.
Wieder ein Zitat: „Versuchen, die Dinge so einfach wie möglich zu machen, aber nicht einfacher“ – von Albert Einstein stammt dieses Wort. Es gibt allerdings Grenzen der Vereinfachung, das sei zugegeben. Wenn wir den Namen Einsteins erwähnt haben, dann wird jeder Kundige und auch fast jeder Laie sagen: Und die Relativitätstheorie? Es gibt eine schöne Anekdote von Chaim Weizmann, dem ersten israelischen Ministerpräsidenten. Er befand sich zu der Zeit, als man noch mit dem Schiff von Europa nach Amerika fuhr, mit Einstein auf einer Reise. Und dieser habe ihm anlässlich einer solchen Atlantiküberquerung nun täglich seine Relativitätstheorie erklärt. Am Ende, so Weizmann, „war ich überzeugt, dass Einstein sie tatsächlich verstanden hat.“
Aber die Devise „so einfach wie möglich, aber nicht einfacher“ ist vor allem ein Gebot der Verantwortung. Übrigens nicht nur für Wissenschaftler, sondern für alle Eliten bei uns im Land: Nicht nur die Wissenschaft, auch Politik und Wirtschaft haben eine Bringschuld gegenüber der Gesellschaft. Auch wenn nicht alle die gleiche Sprache sprechen: Wir müssen uns um ein Gespräch bemühen, denn Gesellschaft reicht so weit, wie Verständigung reicht. Das setzt aber nicht nur die Bereitschaft voraus, mitreden zu wollen, sondern auch die Gelegenheit, tatsächlich zu Wort zu kommen und Gehör zu finden.
Was das Zwiegespräch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft betrifft, sehe ich allerdings eine Menge Gutes in den letzten Jahren: Denken Sie an die Wissensmagazine im Fernsehen, ich glaube, dass sie nicht jedem qualifizierten Wissenschaftler gefallen, aber für uns, für die Gesellschaft, ist dieser Vermittlungsversuch doch wichtig. Die Wissensmagazine also im Fernsehen, auch im Internet oder am Zeitungskiosk, die „Science Center“ und Ausstellungen. Denken Sie an Wettbewerbe wie „Jugend forscht“, an die Aktivitäten von Akademien und nicht zuletzt natürlich die der Deutschen Forschungsgemeinschaft selbst – wie beispielsweise dem Communicator-Preis. Herzlichen Glückwunsch bei dieser Gelegenheit dem diesjährigen Preisträger Jürgen Tautz!
All das ist gut, ist wichtig, lässt sich auch noch verbessern. Aber mich lässt die Frage nicht los, wie bei noch mehr Menschen aus der Beschäftigung mit Wissenschaft Begeisterung für Wissenschaft werden kann, und wie aus dieser Begeisterung eine Geisteshaltung erwachsen kann, die Menschen befähigt, sich auch langfristig mit anspruchsvollen Fragen auseinanderzusetzen. Gerade in einer Zeit, in der vieles hindrängt zu einer Unterhaltungsgesellschaft, brauchen wir diese Haltung der intensiven Nachfrage und des konsequenten Einsatzes zur Erweiterung unserer Wissenshorizonte. Deshalb gilt es auch, Haltungen zu erlernen oder zu verstetigen. Und das kann oft wichtiger sein als einfach nur Erkenntnisse zu sammeln oder erneut zu gewinnen.
Ein Aufeinanderzugehen ist für beide Seiten gelegentlich anstrengend, für den interessierten Laien genauso wie für den Wissenschaftler, der damit beauftragt ist oder der sich dazu berufen fühlt. Und wenn es um den Dialog von Wissenschaft und Politik geht, wird es manchmal sogar unbequem. Warum sollten Sie, die Sie hier sitzen, dazu bereit sein, wo es doch so schwierig ist und zudem wertvolle Zeit kostet? Und wo doch diese Zeit dann bei den wichtigen Forschungen fehlen könnte? Ich lasse Ihren ersten Präsidenten antworten, den Juristen Ludwig Raiser: Weil es eine „politische Verantwortung des Nichtpolitikers“ gibt! Deshalb. Auch als hoch spezialisierte Forscher und Forscherinnen sind und bleiben Sie der Gesellschaft verpflichtet. Nicht zuletzt, weil Forschung und Wissenschaft vielfach öffentlich organisierte – und finanzierte – Erkenntnissuche ist. Und vielleicht auch, weil Sie von Fragen und Erwartungen profitieren, die aus Politik und Gesellschaft an Sie heran getragen werden.
Politik sucht oft das Eindeutige, muss ihr Handeln legitimiert wissen. Sie muss Probleme manchmal auch eindeutiger darstellen, als sie die Problemlage selber empfindet. Sie muss es, um handlungsfähig zu sein und Handlungsfähigkeit auch zu demonstrieren. Ernsthafte Wissenschaft aber bietet fast nie diese Gewissheiten, nach denen wir doch so suchen. Der Zweifel ist in Ihrem Metier kein Systemfehler, sondern Tugend, Bestandteil der Suchbewegung im Unbekannten. Wissenschaftliche Expertise kann und sollte Grundlage politischer Entscheidungsfindung sein, aber sie kann – gerade weil ihre Erkenntnis immer nur vorläufig ist – Politik nicht ersetzen, von ihrer Verantwortung entbinden. Wissenschaft kann also Politik unterstützen, ersetzen kann sie sie nicht. Nicht dem Wissen anderer, sondern dem eigenen Gewissen ist und bleibt jeder Abgeordnete und jede Abgeordnete verpflichtet. Der Bildungsforscher Jürgen Baumert beschrieb es einmal so: „Auf jeden empirischen Befund gibt es mindestens zwei, in der Regel aber mehrere politische Antworten.“
Und Sie hier wissen alle, dass ja oft nicht einmal der empirische Befund so eindeutig ist wie man es gerne hätte. Einem normalen, interessierten Bürger, einer Bürgerin muss vieles verwirrend erscheinen – vielleicht geht es sogar Ihnen, den hochqualifizierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, außerhalb Ihres eigenen Fachgebietes ähnlich. Nehmen wir ein aktuelles Beispiel, die Energiewende. Was gibt es da nicht an einander widersprechenden Einschätzungen, Gutachten und Szenarien! Ich habe mir sagen lassen, dass auch in der Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung, die Sie, lieber Herr Professor Kleiner mit Herrn Töpfer zusammen geleitet haben, bisweilen leichte Verzweiflung herrschte angesichts der vielen Diagramme, Kurven, Tabellen und Prognosen.
Die Stärke der Wissenschaft aber liegt nun genau darin, dass sie nicht vorgibt, endgültige Wahrheiten zu kennen, sondern sich der Vorläufigkeit bewusst ist, dass sie diese Offenheit nicht nur aushält, sondern als eine ihrer Voraussetzung anerkennt. Und genau diese Stärken hat auch eine freie, offene Gesellschaft – sie bezieht daraus die Kräfte, die sie braucht für ihre Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit. Wenn Politiker und Wissenschaftler in der öffentlichen Arena daran gelegentlich erinnern, dann gewinnen auch die Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen zurück. Und ohne dieses Vertrauen gibt es keine Zukunft für ein gelingendes Gemeinwesen. Und so bedeutet die Vorläufigkeit oder Widersprüchlichkeit von Ergebnissen auch nicht, dass uns diese Ergebnisse im Handeln nicht leiten könnten.
Beim Klimawandel etwa haben wir bestimmt ganz gewiss noch nicht alle Wirkungszusammenhänge erfasst und verstanden. Aber was uns die Mehrheit der Wissenschaftler berichtet, sollte Grund genug sein, das uns Menschenmögliche – und das ist eine ganze Menge! – bei der Bekämpfung der Ursachen und der Bewältigung der Folgen zu tun.
Am Anfang allerdings und am Ende aller Beschäftigung mit Wissenschaft steht das Staunen. Das Staunen über die Fähigkeit des Menschen, in ungeahnte Räume der Erkenntnis vorzustoßen. In jeder Forschung steckt eine ganze Welt. Und jede neue Frage eröffnet ihrerseits neue Welten. Und genau das wird nicht enden, solange es forschende Menschen gibt.
Ich freue mich nun auf Ihre Rede, lieber Herr Professor Kleiner, und auf den Vortrag des letztjährigen Communicator-Preisträgers, Hubert Wolf. Sie lassen uns teilhaben am Schönsten, was die Beschäftigung mit Wissenschaft zu bieten hat: Erkenntnisgewinn.