Bundespräsident Joachim Gauck hat der chilenischen Tageszeitung "El Mercurio" ein schriftliches Interview gegeben, das am 10. Juli anlässlich des Staatsbesuchs in der Republik Chile erschienen ist.
Was ist das Ziel Ihrer Reise nach Chile?
Der letzte Staatsbesuch eines deutschen Präsidenten in Chile liegt über zehn Jahre zurück. Vor allem aber: Unsere Länder verbindet bis heute eine historisch gewachsene, enge Partnerschaft. Diese möchte ich mit meinem Besuch würdigen und Impulse für ihre weitere Vertiefung geben. Gerade in politisch herausfordernden Zeiten ist es wichtig, seinen engen Partnern in dem Bewusstsein zu begegnen, dass wir Ideen und Werte wie Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit teilen.
Ich freue mich daher, in meinen politischen Gesprächen und bei Begegnungen mit Vertretern der Zivilgesellschaft auch darüber zu sprechen, wie die Demokratie als erfolgreiche Staatsform weiter gefestigt werden kann und welche Herausforderungen sich unseren Staaten und Gesellschaften auf diesem Gebiet stellen. Wichtig ist mir auch, die große Verantwortung, die Chile in globalen Fragen durch sein Engagement innerhalb der Vereinten Nationen übernimmt, vor allem in den Bereichen Menschenrechte und Klima, sowie das chilenische Engagement in verschiedenen Friedensmissionen zu würdigen. Auch hier arbeiten Deutschland und Chile gut zusammen.
Ich freue mich, Ihr schönes Land erleben zu können und auf eindrückliche Begegnungen und Gespräche.
Gibt es in Deutschland Befürchtungen angesichts des sinkenden Wirtschaftswachstums in Lateinamerika?
Ein verlangsamtes Wirtschaftswachstum beobachten wir derzeit in vielen Regionen der Welt. Es ist kein Phänomen, das nur Lateinamerika betrifft. Die Ursachen dafür sind in den einzelnen Ländern verschieden und die Unterschiede groß. Manche Länder erleben weiterhin ein abgeschwächtes Wachstum; andere durchleben eine tiefe Rezession, die mit sozialen Spannungen, besorgniserregenden Notlagen sowie politischen Konflikten einhergehen. Von einer generellen Krise würde ich derzeit aber eher nicht sprechen.
Das starke Wachstum der letzten Dekade hatte dazu beigetragen, große Fortschritte bei der Armutsreduzierung zu machen. Zudem sind die Mittelschichten in den verschiedenen lateinamerikanischen Ländern stark gewachsen. Die meisten Länder der Region scheinen besser für Krisen gerüstet als noch vor einigen Jahrzehnten. Auch sind sich die politisch Verantwortlichen der schwierigen Situation bewusst und versuchen, ihre Wirtschaftspolitik dem veränderten Umfeld anzupassen. Ich hoffe, dass es auch denjenigen Ländern gelingt, die in der Vergangenheit stark von hohen Rohstoffpreisen profitiert haben, ihre Wirtschaft auf ein breiteres Fundament zu stellen, damit die Erfolge der letzten Dekade fortgesetzt werden können. Schnelle und einfache Wege wird es dafür aber nicht geben.
Wird in Ihrem Land ein politischer Richtungswechsel in der Region wahrgenommen, beruhend auf den Regierungswechseln in Argentinien, Brasilien und Peru?
Die verschiedenen Regierungswechsel und ihre Bedeutung für die Region werden in Deutschland aufmerksam verfolgt. In der vergangenen Woche hatte ich bereits Gelegenheit, mich mit dem argentinischen Staatspräsidenten Macri, der in Berlin war, auch dazu auszutauschen. Argentinien, Brasilien und Peru sind zentrale Akteure in Lateinamerika. Mit den neuen Regierungen einhergehende politische Richtungswechsel werden bereits über die Regionalbündnisse Einfluss auf die jeweilige Umgebung nehmen. In lateinamerikanischen Staaten hat es immer wieder solche Wechsel gegeben. Der Unterschied ist heute, dass die Zivilgesellschaften und sozialen Bewegungen, die während der Diktaturen im Keim erstickt wurden, in den letzten Jahren an Kraft, Erfahrung und Kreativität gewonnen haben. Die Partizipationsmöglichkeiten sind gewachsen und teilweise auch institutionalisiert worden. An der gestärkten Zivilgesellschaft werden sich die Regierungen, alte wie neue, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung messen lassen müssen.
Glauben Sie, dass die Politik der offenen Türen
nach der Ankunft von mehr als 1 Million Migranten in Deutschland im vergangenen Jahr die richtige Option war? Sie waren diesbezüglich ziemlich kritisch…
Die Aufnahme von Menschen, die vor politischer Verfolgung, vor kriegerischen Auseinandersetzungen oder massiven Menschenrechtsverletzungen fliehen, ist ein Gebot humanitärer Verantwortung. Das fordern unsere unverrückbaren Prinzipien und Werte, die in der Mehrheit der Staaten durch die Genfer Flüchtlingskonvention und in Deutschland zusätzlich durch das Recht auf Asyl, das in unserer Verfassung verankert ist, gewährleistet werden.
Die Deutschen – vor allem die vielen tausend freiwilligen und hauptamtlichen Helferinnen und Helfer – haben Beeindruckendes in der Flüchtlingskrise geleistet und tun dies weiterhin mit ihrem Engagement und ihrer Hilfsbereitschaft für die in Deutschland Schutzsuchenden. Die Bereitschaft zu solidarischem Handeln und die Kapazitäten sind nicht unendlich. Auch in der Mitte der deutschen Gesellschaft war bei einem Teil der Bürgerinnen und Bürgern die Sorge gewachsen, die Aufnahme und Integration so vieler Zuwanderer nicht oder nicht gut bewältigen zu können. Die deutsche Regierung ist auch daher auf allen Ebenen aktiv, um den Zuzug von Flüchtlingen im Rahmen der verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorgaben zu reduzieren. Allerdings: Das, was die Menschen in die Flucht treibt – Kriege und Bürgerkriege, Terrorismus, Umweltkatastrophen, Armut und Perspektivlosigkeit – betrifft uns alle, weltweit. Deshalb müssen wir eng zusammenarbeiten, in den Vereinten Nationen und anderen internationalen Institutionen.
Bestehen in Deutschland Befürchtungen, dass nationalistische Parteien oder Bewegungen wachsen so wie es in ganz Europa geschieht?
Leider gibt es derzeit in vielen Ländern Europas solche Tendenzen. Auch Deutschland ist davon nicht verschont geblieben. Für überzeugte Demokraten heißt es jetzt, auf anti-demokratische und fremdenfeindliche Tendenzen nicht verzagt zu reagieren, sondern für eine freiheitliche und demokratische Gesellschaft zu werben und Vertrauen zurückzugewinnen; vor allem bei den Bürgerinnen und Bürgern, die von Ängsten geleitet sind, die sich in einer schnell wandelnden Welt nicht mehr wohl fühlen, sich um ihre Zukunft sorgen und ansprechen lassen von einem nostalgischen, ausgrenzenden Nationalismus. Wir sollten dabei immer wieder daran erinnern, wie viel Unheil ein übersteigerter Nationalismus im vergangenen Jahrhundert über Europa gebracht hat.
Ist Deutschland nach der letzten Veröffentlichung des Weißbuches des Verteidigungsministeriums bereit, eine proaktivere Rolle auf dem Gebiet der internationalen Sicherheit zu übernehmen und wie wird das geschehen?
Ich setze mich seit längerem dafür ein, dass Deutschland in Europa und in der Welt vor allem politisch noch mehr Verantwortung übernimmt. Ich sehe dafür viele Gründe – historische, humanitäre, wirtschaftliche, strategische und vor allem unsere reife, gut funktionierende Demokratie. Und es hat bereits Fortschritte gegeben: Deutschland hat in den vergangenen Jahren weltweit immer wieder eine aktive Rolle bei der Lösung von Konflikten übernommen, zum Beispiel in der Ost-Ukraine, bei den Verhandlungen zum Nuklearabkommen mit dem Iran, in Mali oder Syrien. Wir wollen ein aktiver Partner sein, der die Europäische Union, die OSZE, die NATO, die Vereinten Nationen und das gesamte multilaterale System kollektiver Verantwortung und Sicherheit bewahrt, ausbaut, verteidigt und beständig mitgestaltet.
Glauben Sie, dass Großbritannien einen Irrtum begeht, wenn es aus der EU ausscheidet, obwohl dem ein Volksentscheid zugrunde liegt? Wie wird Deutschland seine Beziehung zu Großbritannien rekonfigurieren?
In der öffentlichen Auseinandersetzung um den Brexit ist wahrscheinlich nicht hinreichend klar geworden, wie komplex ein Austritt aus der Europäischen Union für das Land sein würde, was er politisch und wirtschaftlich bedeutet. Natürlich hätten wir – da bin ich mir mit der Bundesregierung völlig einig – es lieber gesehen, wenn die Entscheidung des britischen Volkes anders ausgegangen wäre. Aber wir respektieren sie. Sie muss nun von einer neuen britischen Regierung umgesetzt werden. Dass das Ergebnis des Referendums auch zu politischen Verwerfungen innerhalb des Vereinigten Königreichs führt, sehen wir gerade. Ich bin dennoch überzeugt, dass wir eine neue Basis finden werden, auf der es uns gemeinsam möglich sein wird, auch weiterhin in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft zusammenzuarbeiten – wenn auch nicht so eng wie bisher im Rahmen der Europäischen Union. Großbritannien bleibt auch nach dem Referendum ein wichtiger Partner Deutschlands, zum Beispiel in der NATO.
Was passiert Ihrem Urteil nach mit dem europäischen Projekt, wenn es einen so wichtigen Partner verliert? Gibt es noch mehr Länder mit Interesse, diesem Weg zu folgen?
Der bevorstehende Austritt der Briten aus der Europäischen Union ist nicht der Anfang vom Ende der Europäischen Union. Er ist der Ausgangspunkt von Überlegungen, wie wir in Zukunft die Europäische Union stärken und die Werte für die sie steht, besser verteidigen können. Seitens der Regierungen und der Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedsstaaten gibt es teilweise sehr unterschiedliche Erwartungen an die EU und teilweise ungleiche Ideen für ihre Zukunft. Darüber muss und wird in den nächsten Wochen und Monaten politisch debattiert werden. Der Ausgang des Referendums in Großbritannien dürfte aber auch das Bewusstsein dafür geschärft haben, welche Risiken und Unwägbarkeiten mit einem EU-Austritt verbunden sind. Insofern sehe ich – zumindest im Moment – keine Nachahmer Großbritanniens auf diesem Weg.