Bundespräsident Joachim Gauck hat der Verlagsgruppe Bistumspresse ein Interview gegeben, das am 22. Mai erschienen ist:
Der Katholikentag findet in Leipzig statt – in einer Region, in der nicht nur die Katholiken, sondern die Christen insgesamt in der Minderheit sind. Nach der Wende hatten viele erhofft, dass nun das Christentum in Ostdeutschland zu neuer Blüte kommt, und wurden enttäuscht. Ging Ihnen das auch so?
Über 40 Jahre Kommunismus und Unfreiheit haben die Menschen im Osten Deutschlands tief geprägt. Die gesellschaftliche und soziale Kraft der Kirchen konnte sich nicht weit genug entfalten und auch nicht frei wirken. Nach der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung standen die Menschen dann vor der großen Herausforderung eines gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und oft auch persönlichen Umbruchs. Für eine Rückbesinnung auf christliche Wurzeln und ein neu erblühendes Christentum schien damals wenig Raum. Außerdem hatten sich auch Traditionen der DDR-Gesellschaft, wie die Jugendweihe, inzwischen fest etabliert. Gleichzeitig hatten schon damals auch die Kirchen in Westdeutschland mit zunehmendem Mitgliederschwund zu kämpfen.
Im kommenden Jahr wird aber das Reformationsjubiläum unseren Blick stärker auf Orte der Reformation lenken, die wie Wittenberg oder Eisenach zumeist in den östlichen Bundesländern liegen. Davon könnte zumindest eine kulturelle Wiederentdeckung der Geschichte des Christentums in diesen Regionen ausgehen.
Man kann auch ohne den Glauben an Gott ein guter Mensch sein. Unser Staat ist weltanschaulich neutral. Entsprechend ist Religion zunächst Privatsache. Der Staat kommt also ohne Religion aus?
In unserer freiheitlichen demokratischen Ordnung sind Staat und Religion voneinander getrennt, das ist richtig. Unsere Gesellschaft und unser Miteinander werden aber natürlich auch von den verschiedenen Religionen, den Kirchen und Religionsgemeinschaften geprägt. Die Religionsfreiheit unterliegt als Grundrecht besonderem staatlichen Schutz. Unser säkularer Staat ist verpflichtet, die Freiheit, eine Religion oder Weltanschauung zu haben, aber auch diese abzulehnen, zu schützen. Damit haben alle Menschen in Deutschland einen staatlich garantierten Freiraum, ihrer Glaubensüberzeugung Ausdruck verleihen zu können. Und wenn das wiederum positiv in unsere Gesellschaft hineinwirkt, begrüße ich das sehr.
Gerade in der Flüchtlingskrise nehmen die Christen und ihre Kirchen eine wichtige Rolle wahr: Sie helfen praktisch, mischen sich aber auch in die politische Diskussion ein. Christen spielen also durchaus eine wichtige Rolle oder wie nehmen Sie das wahr?
Mich beeindruckt es sehr, wie viele Bürger sich in unserem Land engagieren für die Menschen, die nach Deutschland kommen und hier Hilfe und Zuflucht suchen. Die christlichen Kirchen leisten dabei einen wichtigen Beitrag, auch aufgrund der Vielzahl ihrer engagierten Mitglieder und ihrer guten institutionellen Infrastruktur. Das Engagement beruht auf christlichen Werten und auf langjährigen Traditionen wie Nächstenliebe und -hilfe, biblischer Gastfreundschaft und ökumenischer wie interreligiöser Begegnung. Für unsere Demokratie und unser Gemeinwesen ist das wichtig, denn beide leben davon, dass sich möglichst viele Menschen aufgrund ihrer persönlichen Werteorientierungen und Überzeugungen in die gesellschaftlichen Prozesse und politischen Diskussionen einbringen.
Allerdings ist das Christentum in Deutschland auf dem Rückzug. Ist das ein Problem für unsere Gesellschaft?
Die Bedeutung von Religion und Glauben hat sich in unseren modernen und pluralistischen Gesellschaften sicherlich verändert. Wohin uns diese Veränderungen führen, hängt aber auch von den Gläubigen und den in Kirche und Gesellschaft engagierten Menschen und ihrem Gestaltungswillen ab. Und von ihrem Engagement wird auch die künftige Prägekraft des christlichen Glaubens abhängen. Wie wichtig das Bewusstsein für die eigene Identität ist, ob religiös oder nicht-religiös, wird derzeit auch in ganz anderen Zusammenhängen immer wieder deutlich: Denn jemand mit gefestigter Identität weiß, wo er steht, und begegnet anderen, auch fremden Menschen auf Augenhöhe. Das führt in der Regel zu Dialog und Austausch, der fruchtbar werden kann und gegenseitig bereichert.
Sie sind ehemaliger Pfarrer, über Ihren persönlichen Glauben liest und hört man relativ wenig. Die Bundeskanzlerin berichtet hin und wieder davon, dass es ihr besonders die Kirchenlieder angetan haben, aber auch vom Gebet. Welche Bedeutung haben für Sie persönlich der christliche Glaube und seine Rituale?
Es ist durchaus meine Absicht, meinen persönlichen Glauben und Glaubensvollzug aus der Öffentlichkeit herauszuhalten. Dass ich aus tiefster Überzeugung heraus Christ bin, der der Evangelischen Kirche angehört und an ihrem gottesdienstlichen Leben teilnimmt, kann jeder wissen.
Sie kommen als evangelischer Christ zu einem Treffen von Katholiken. Diese verschiedenen Konfessionen – ist das eine schmerzhafte Trennung? Oder vielleicht sogar eine legitime Vielfalt?
Es ist sicher beides. Für uns Christen bleibt es aber wichtig, in der Ökumene immer wieder das Verbindende zu suchen – in verschiedenen Bereichen und auf allen Ebenen. Vor kurzem habe ich die Präsidien des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken und des Deutschen Evangelischen Kirchentages gemeinsam im Schloss Bellevue empfangen. Es war sehr schön zu erleben, wie viel an gemeinsamer Arbeit und Planung hier bereits stattfindet. Leider gibt es aber immer noch Trennendes, was oft schmerzhaft ist. Hier braucht es weiter Geduld und Beharrlichkeit und vor allem den Willen zu weiterer Annäherung.
Welche Botschaft erhoffen Sie sich vom Leipziger Katholikentag?
Ich hoffe, dass das Motto Seht, da ist der Mensch
für viele zu einem Impuls wird, den Menschen in seiner Freiheit wie in seiner Begrenztheit, in seiner Verantwortung für sich, für Gesellschaft und Schöpfung zu erkennen. Vom 100. Jubiläum der Katholikentagsbewegung geht, so hoffe ich, auch die Botschaft aus, dass es eine lange und gute Tradition gibt, dass gläubige Menschen sich in Kirche und Gesellschaft einbringen, wichtige Themen setzen und die Haltung von Verantwortungsbereitschaft, Barmherzigkeit, Friedfertigkeit und Solidarität unter den Menschen festigen und fördern.
Die Fragen stellte: Ulrich Waschki