Bundespräsident Joachim Gauck hat der belgischen Tageszeitung La Libre Belgique anlässlich des Staatsbesuchs im Königreich Belgien ein schriftliches Interview gegeben, das am 5. März erschienen ist.
Herr Präsident, Sie haben unserem Land schon 2014 einen offiziellen Besuch abgestattet. Welchen Platz nimmt Belgien im Herzen von Deutschland ein? Einige Leute haben nach den Attentaten von Paris den Gedanken geäußert, dass Belgien ein failed state
sei, schlecht verwaltet, zu dezentralisiert. Was ist Ihre Meinung zu diesem Thema?
Für Deutschland ist Belgien ein guter, verlässlicher und vertrauter Nachbar; ein Land, das Deutschland nach dem Krieg die Hand zur Versöhnung gereicht hat und mit dem wir gemeinsam den Weg der europäischen Einigung beschritten haben. Belgien zählt zu den bedeutendsten Handelspartnern Deutschlands und ist ein wichtiger Investitionsstandort für deutsche Unternehmen. Belgien und seine Regionen blicken – als Teil eines größeren europäischen Kulturkreises – auf eine bewegte Geschichte zurück. Und auch wenn es heute einmal kritische Töne aus Deutschland zu Belgien gibt und mancher die innenpolitischen Konflikte nicht nachvollziehen kann, so gilt doch: Ihr Land steht uns Deutschen nahe, die Menschen in unseren Ländern leben in gegenseitigem Respekt und bester Nachbarschaft.
Was sagen Sie zu den Briten, die im Juni für oder gegen den Verbleib ihres Landes in der Europäischen Union abstimmen werden?
Diese grundlegende Entscheidung für ihr Land werden die Briten selbst zu treffen haben. Für mich gehört das Vereinigte Königreich zur Europäischen Union. Und ich bin davon überzeugt, dass alle Seiten bei einem Austritt mehr verlieren als gewinnen würden. Eine EU ohne das Vereinigte Königreich will ich mir nicht vorstellen.
Europa hat nicht mehr das Ansehen bei den Bürgern, das es für Ihre Generation hatte, die noch den Krieg und kommunistische Regime erlebt hat. Was müsste es in Ihren Augen tun, um seine Daseinsberechtigung wiederzufinden?
Da muss ich Ihnen widersprechen: Ihre Daseinsberechtigung hat die Europäische Union nie verloren. Aber die Kritik an der EU nimmt zu. Sie wird häufig zur Projektionsfläche für eine allgemeine Unzufriedenheit. In ihren Mitgliedsstaaten sind immer häufiger Parteien erfolgreich, die auch anti-europäische Ressentiments bedienen oder bewusst schüren. Dabei führt uns gerade die Flüchtlingskrise vor Augen, wie wichtig der Zusammenhalt in Europa ist und was wir zu verlieren haben, wenn zum Beispiel Grenzübergänge plötzlich wieder befestigt werden und Zäune sogar zwischen EU-Mitgliedsstaaten entstehen.
Die Welt verändert sich, und dieser Wandel macht vor Europa nicht halt. Wir erleben Krisen in der europäischen Nachbarschaft und innerhalb der EU. Aber wenn wir unsere politischen Gestaltungsmöglichkeiten erhalten wollen, sollten wir auf beide Entwicklungen gemeinsame Antworten finden. Wenn wir gemeinsam dazu beitragen können, unsere europäische Nachbarschaft sicherer und stabiler zu machen und für Perspektiven auch jenseits unserer Grenzen zu sorgen, wenn wir gemeinsam globale Herausforderungen wie den Klimawandel angehen, dann werden wir auch europaskeptische Bürger vom Mehrwert der Europäischen Union überzeugen können.
Wie erklären Sie, dass eine Bewegung wie Pegida zuerst und vor allem in der Ex-DDR Wurzeln geschlagen hat?
Ich stamme selbst aus Ostdeutschland. Dennoch ist es nicht ganz einfach, zu erklären, warum dort Bewegungen erfolgreich sind, die die offene Gesellschaft ablehnen, die mit Europa oder gar der Demokratie fremdeln. Jedenfalls hat es sehr stark mit den Prägungen aus der DDR-Diktatur zu tun. Sie wirken bei vielen Ostdeutschen nach. Wir Älteren sind nicht dazu erzogen worden, eigenständige und eigenverantwortliche Bürger zu sein. Wir haben nicht von Kindesbeinen an gelernt, unsere Meinung zu sagen. Es gab keine freien Medien, keine freien Gewerkschaften, kein freies gesellschaftliches Engagement, sondern überall nur die Staatsmacht. Das hat bei den Menschen auch den Eindruck hinterlassen, lediglich ein Objekt des Herrschaftswillens zu sein. Bei vielen Demonstranten spiegeln sich der Frust und die Unzufriedenheit wider, sich beherrscht zu fühlen. Das sind Gefühle von ganz früher, die sich nur leider heute gegen die Demokratie richten. Viele der Demonstranten machen sich nicht ausreichend klar, dass sie in der Demokratie sehr viele Möglichkeiten haben, die Dinge zu verändern, mitzudiskutieren, mitzugestalten. Bei allem Unmut darüber darf man aber nicht übersehen, dass die Mehrheit der Ostdeutschen die Demokratie und ihre Institutionen nicht in Frage stellt.
Angesichts des Zustroms von Asylbewerbern muslimischen Glaubens, teilen Sie die Befürchtungen von Viktor Orbán oder Robert Fico bezüglich des Überlebens eines christlichen Europas oder teilen Sie eher die Meinung von Angela Merkel, die meint, dass man gerade, weil man Christ ist, die Flüchtlinge aufnehmen muss?
Ich kann keine existentielle Gefahr für das christliche Europa erkennen. Und: Wir sollten die Gelegenheit nutzen, angesichts der wachsenden kulturellen Vielfalt, die Migration mit sich bringt, uns unserer Wurzeln und unserer Identität neu bewusst zu werden. Zu der gehört für viele Menschen die Prägung durch das Christentum – und zum Christentum gehören unbestreitbar Werte wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Gastfreundschaft.
Die Fragen stellte: Christophe Lamfalussy.