Bundespräsident Joachim Gauck hat der belgischen Tageszeitung Grenzecho anlässlich des Staatsbesuchs im Königreich Belgien ein schriftliches Interview gegeben, das am 5. März erschienen ist.
Was sehen Sie, wenn Sie als Bundespräsident auf Brüssel schauen? Lässt die Hauptstadt Europas mit all ihren Krisenthemen noch eine Restwahrnehmung Belgiens zu?
Wenn ich auf Brüssel schaue, sehe ich eine europäische Hauptstadt mit einer langen und bewegten Geschichte, die sich auch im Brüsseler Stadtbild widerspiegelt. Zu Brüssel gehört, dass die Stadt auch Sitz vieler Europäischer Institutionen ist, das stimmt. Das ist und war für mich aber nie die einzige Assoziation mit dieser Stadt oder gar mit ganz Belgien. Ich sehe Belgien als engen politischen und wirtschaftlichen Partner Deutschlands in Europa, als Verbündeten in der NATO, als reiche Kulturlandschaft und Reiseziel deutscher Touristen und nicht zuletzt als ein Land mit einer ganz eigenen inneren Dynamik, begünstigt durch die unterschiedlichen Regionen und verschiedenen Sprachen.
Wie ist denn Ihre Wahrnehmung von Belgien?
Belgien ist unser guter, verlässlicher und vertrauter Nachbar in Europa; das Land, das Deutschland nach dem Krieg – als eines der ersten – die Hand zur Versöhnung reichte, mit dem wir gemeinsam den Weg der europäischen Einigung beschritten haben. Und wir haben noch weitere Gemeinsamkeiten: Belgien ist wie Deutschland ein föderaler Staat, nach Wahlen werden in unseren Ländern –aufgrund des Wahlrechts und des Parteiensystems – zumeist Koalitionsregierungen gebildet. Verhandlungen und Kompromisse gehören daher in unseren Ländern besonders zur politischen Kultur. Hinzu kommt: Belgien zählt zu den bedeutendsten Handelspartnern Deutschlands und ist ein wichtiger Investitionsstandort für deutsche Unternehmen. Es hat eine vielfältige Kultur, die mit Gotik und Jugendstil, aber auch durch den Surrealismus, Mode und Musik, die belgische Küche, die Biere und nicht zuletzt mit oftmals einer sehr guten Fußballnationalmannschaft beeindruckt.
In der Wahrnehmung der Belgier wird ihr Land in der deutschen Presse in der letzten Zeit verzerrt dargestellt. Insbesondere die Schlagzeilen über die Atomkraftwerke in Tihange und Doel und über die Brüsseler Gemeinde Molenbeek hinterließen vielfach den Eindruck, Belgien würde an den Pranger gestellt. Selbst Ministerpräsident Oliver Paasch äußerte sich entsprechend in der Zeitung Die Welt
. Wie nehmen Sie die Situation wahr?
Ich sehe keine ernsthaften Verstimmungen zwischen unseren Ländern. Aber mein Besuch kann hoffentlich zu einem noch besseren gegenseitigen Verständnis beitragen. Die verheerenden Anschläge in Paris und die Verbindungen der Attentäter nach Belgien beschäftigen die Deutschen natürlich. Ein Teil unserer Bürger beschäftigt sich auch mit der Sicherheit von grenznahen Atomkraftwerken. Darauf reagieren nicht zuletzt die Medien. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass wir uns sachlich und informiert mit solchen Themen auseinandersetzen, Probleme und unterschiedliche Wahrnehmungen besprechen, Erfahrungen austauschen und – wo möglich – gemeinsame Lösungen suchen. Ich denke aber auch, dass die politisch Verantwortlichen in unseren beiden Ländern genau das tun.
Wie würden Sie die belgisch-deutschen Beziehungen charakterisieren? Worauf kommt es an?
Die belgisch-deutschen Beziehungen nehme ich als intensiv, als sehr vertrauensvoll wahr. Unsere Freundschaft steht auf besonders festen Füßen. In Zeiten vielfältiger Krisen und Veränderungen kommt es – im krassen Gegensatz zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – darauf an, die jeweils eigenen und auch die gemeinsamen Gestaltungsmöglichkeiten wahrzunehmen und sie zum Wohle unserer beiden Staaten und der gesamten Europäischen Union zu nutzen.
Die Deutschsprachige Gemeinschaft wurde in der Geschichte immer als Bindeglied zwischen Deutschland und Belgien wahrgenommen, insbesondere mit einer Scharnierfunktion in die Wallonie. Welche Rolle könnte einer so kleinen Gemeinschaft bilateral, aber auch in einem krisengeschüttelten Europa zukommen?
Ja, die deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien ist ein besonderes Bindeglied für unsere Länder. Für ihre Mitglieder ist es gelebte Realität, über Grenzen hinweg zusammenzuleben –so wie es uns in der gesamten EU verbindet. Diese Menschen haben besonders deutlich vor Augen, welche Erleichterungen der Wegfall von Grenzen im geeinten Europa gebracht hat, welche Vorteile der enge persönliche, kulturelle und wirtschaftliche Austausch mit den Nachbarn bringt. Gerade in diesen schwierigen Zeiten ist es gut, wenn die deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien ihre wichtigen Erfahrungen, die sie als Teil der Wallonie und als Teil Belgiens gemacht hat, in die europäische Debatte einbringt.
Die Fragen stellte: Lutz Bernhardt.