Interview mit der belgischen Tageszeitung De Standaard

Schwerpunktthema: Interview

7. März 2016

Bundespräsident Joachim Gauck hat der belgischen Tageszeitung De Standaard anlässlich des Staatsbesuchs im Königreich Belgien ein schriftliches Interview gegeben, das am 7. März erschienen ist. Darin heißt es: "Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass globale Krisen auch vor Europa nicht halt machen. Und manchmal kann eine tiefe Krise auch ein Weckruf sein: Entweder es gelingt uns, gemeinsam und wo nötig oder hilfreich auch mit Staaten außerhalb der Europäischen Union konstruktive Lösungen zu erarbeiten – wie etwa beim Klimagipfel in Paris. Oder wir werden einzeln und auch kollektiv Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten in der Welt verlieren."

Bundespräsident Joachim Gauck in Schloss Bellevue (Archiv)

Bundespräsident Joachim Gauck hat der belgischen Tageszeitung De Standaard anlässlich des Staatsbesuchs im Königreich Belgien ein schriftliches Interview gegeben, das am 5. März erschienen ist.

Bei einem Besuch von einem Flüchtlingsheim vorigen Sommer stellten Sie das helle Deutschland von solidarischen und hilfsbereiten Menschen dem dunklen Deutschland der Hassverbreiter, Brandstifter und Rassisten gegenüber. Das dunkle Deutschland scheint inzwischen die gewinnende Seite zu sein, und dann vor allem im östlichen Teil des Landes, aus dem Sie selbst stammen. Wie erklären Sie das, und was kann dagegen unternommen werden?

Da muss ich widersprechen. Es ist keineswegs so, dass Fremdenfeindlichkeit, Hass und Gewalt in Deutschland dominieren. Die Zahl der rassistischen Übergriffe hat zwar zugenommen – eine Entwicklung die uns sehr besorgt und gegen die wir entschieden vorgehen. Gleichzeitig ist – davon zeugen aktuelle Umfragen – die ganz überwiegende Mehrheit der Deutschen solidarisch mit Verfolgten und Flüchtlingen. Eine überwältigende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern engagiert sich haupt- und ehrenamtlich für die vielen Schutzsuchenden, die zu uns kommen. Das Gesicht Deutschlands sind sie und nicht diejenigen, die sich von Feindschaft und Hass leiten lassen.

Was muss Deutschland selbst ihrer Ansicht nach tun, um den Zustrom von Flüchtlingen ins eigene Land, der auch dieses Jahr noch andauern soll, unter Kontrolle zu bekommen und zu integrieren, nachdem die europäische Lösung, für die Bundeskanzlerin Angela Merkel plädiert, unmöglich zu sein scheint?

Vor Deutschland und Europa liegen außergewöhnlich große Herausforderungen. Die deutsche Bundesregierung ist auf allen Ebenen aktiv – international, europäisch und national –, um die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren. Dabei gibt es erste Erfolge auf dem Weg zu Lösungen, die vernunftgeleitet und gleichzeitig human sind. Bitte haben Sie aber Verständnis dafür, dass ich als repräsentatives Staatsoberhaupt an dieser Stelle keine Bewertungen oder gar Empfehlungen an die Regierung abgeben möchte.

Als Sie gerade Präsident geworden waren, sagten Sie bei einem Besuch in Oradour-sur-Glane in Frankreich: Deutschland will heute Europa aufbauen, aber nicht dominieren. Heute ist Europa zerrissener als es jemals war. Wie sehen Sie die Zukunft von diesem geteilten Europa, und welche Rolle kann Deutschland darin spielen?

Ich würde nicht von einem geteilten Europa sprechen. Das erinnert an die Zeit des Kalten Krieges. Was allerdings stimmt ist, dass wir heute nicht nur Krisen in der europäischen Nachbarschaft, sondern auch im Innern der EU erleben. Besonders in der Flüchtlingskrise wird plötzlich manches in Frage gestellt, was wir schon als selbstverständliche, geradezu unwiderrufliche Errungenschaften der Union gesehen hatten – dazu gehört leider auch das Schengener Grenzregime.

Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass globale Krisen auch vor Europa nicht halt machen. Und manchmal kann eine tiefe Krise auch ein Weckruf sein: Entweder es gelingt uns, gemeinsam und wo nötig oder hilfreich auch mit Staaten außerhalb der Europäischen Union konstruktive Lösungen zu erarbeiten – wie etwa beim Klimagipfel in Paris. Oder wir werden einzeln und auch kollektiv Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten in der Welt verlieren. Deutschland wird sich daher auch weiterhin und mit aller Kraft für den Zusammenhalt in Europa einsetzen.

Sie haben immer dafür plädiert, dass Deutschland eine aktivere Rolle in der Welt spielen muss, auch militärisch. Tut es das in ausreichendem Maße?

In meiner Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 habe ich vor allem gesagt, dass Deutschland ein überdurchschnittlich globalisiertes Land ist und ein Interesse daran hat, eine regelgeleitete und kooperative Weltordnung zu erhalten und weiterzuentwickeln. In der Zwischenzeit kam es zu ganz unterschiedlichen Krisen. Ich denke nur an die Ukraine, an Syrien, an die Ebola-Epidemie, an die Flucht zahlreicher Menschen nach Europa. Deutschland hat sich auf europäischer und internationaler Ebene engagiert, um – zusammen mit anderen Staaten – diese Krisen einzudämmern. Dabei haben wir uns ganz überwiegend zivil und vor allem mit intensiver Diplomatie und humanitärer Hilfe eingebracht. Darüber hinaus hat Deutschland sich seit 2014 gemeinsam mit seinen Partnern an militärischen Einsätzen beteiligt, dazu gehören die EU- und VN-Missionen in Mali und die Bekämpfung des IS in Syrien.

In ungefähr einem Jahr läuft ihre erste Amtszeit ab, und führende Politiker haben schon dafür plädiert, dass Sie für eine zweite Amtszeit kandidieren sollen. Ich vermute, dass Sie uns nicht verraten werden, ob Sie das auch tun werden (falls doch: gerne), aber wie blicken Sie zurück auf die vier letzten Jahre in dieser Funktion, die ja durchaus ihre Einschränkungen mit sich bringt, und welche Überlegungen werden bei ihrem Entschluss eine Rolle spielen?

An dieser Stelle nur so viel: Meine Präsidentschaft fällt in eine Zeit außerordentlicher Herausforderungen – für mich eine Lebensspanne geprägt von Intensität und immer wieder bereichert durch beglückende Begegnungen im Inland wie im Ausland. Ein Resümee – und dafür haben Sie sicherlich Verständnis – möchte ich mir aber für einen späteren Zeitpunkt aufheben.

Die Fragen stellte: Karin De Ruyter.