Der Bundespräsident hat der Tageszeitung General-Anzeiger Bonn
ein Interview gegeben, das anlässlich des Besuchs des Bundespräsidenten im Rheinland am 29. August erschienen ist.
Herr Bundespräsident, wir erleben eine beispiellose Fluchtwelle nach Europa. Ist das der Beginn einer neuen Völkerwanderung?
Nach dem Krieg, als über zwölf Millionen Deutsche vertrieben wurden, hatten wir so etwas wie eine Völkerwanderung. Jetzt kommen zwar sehr viele Flüchtlinge in die Bundesrepublik – eine Völkerwanderung würde ich das, was wir hierzulande erleben, aber nicht nennen. Ich sehe es wie der Bundesinnenminister: Was wir derzeit erleben, ist eine Herausforderung, aber keine Überforderung.
Wie begegnen wir dieser Herausforderung?
Indem wir mit Herz und Verstand, aber ohne Ressentiments eine offene Debatte darüber führen, was diese Entwicklung bedeutet: Wer bei uns Schutz sucht, muss menschenwürdig untergebracht werden und hat einen rechtlichen Anspruch darauf, dass seine Bitte um Asyl in einem fairen Verfahren geprüft wird. Ein Teil der Menschen wird bleiben dürfen, andere werden das Land wieder verlassen müssen – entweder freiwillig oder indem man sie abschiebt.
Sie sprechen die Abschiebung in sichere Herkunftsstaaten an ...
Ja, unter anderem. Diese für viele Betroffene so harte Zurückweisung muss leider sein. Sie hilft uns, eine Überforderung zu vermeiden – was wichtig ist, damit wir auch weiterhin bedrohte Menschen aufnehmen können.
Wie kann Politik Ängste abbauen?
Sie muss einerseits deutlich machen, dass bis auf Weiteres wohl viele Zufluchtsuchende kommen werden, denen wir Schutz gewähren, wenn sie in ihrer Heimat etwa von politischer Verfolgung oder Bürgerkrieg bedroht sind. Andererseits muss Politik den Verunsicherten in der Bevölkerung ehrlich sagen: Ja, machen wir uns nichts vor, Zuwanderung, wie wir sie gegenwärtig erleben, bringt zwar vielfältige Probleme mit sich. Aber wir werden ihrer Herr.
Das ist eine Gratwanderung ...
Ja, ist es. Wir müssen gut zu denen sein, die kommen, aber wir müssen auch auf den Zusammenhalt in der Gesellschaft achten. Da die hohe Zahl von Asylsuchenden Bürgern Sorgen bereitet, ist es richtig, dass der Staat dieses Thema sehr ernst nimmt. Es ist richtig, dass die Bundesregierung sich unter anderem damit auseinandersetzt, wie Verfahren für Menschen, die aus als sicher geltenden Staaten kommen, beschleunigt werden können. Und es ist richtig, wenn Deutschland mit seinen EU-Partnern prüft, wie man Herkunftsländer von Flüchtlingen dabei unterstützen kann, bessere Lebensperspektiven für ihre Bürger zu schaffen.
Sind brennende Flüchtlingsheime ein Zeichen von Überforderung?
Nein, das ist ein Zeichen von menschenfeindlicher Gesinnung; es sind Schandtaten von Brandstiftern und Hetzern, von militanten Rassisten, Nationalisten oder völkischen Ideologen. Auf diese Angriffe müssen wir mit scharfer Abgrenzung und mit allen Mitteln des Rechtsstaats reagieren, müssen ganz klar machen: Das ist nicht unser Deutschland!
Aber wir werden im Ausland so gesehen ...
Ich finde es widerwärtig, dass diese Brandstifter und Hetzer das Bild von Deutschland verdüstern – ein Land, in dem viel mehr Menschen als noch vor rund 20 Jahren in so großartiger Weise Flüchtlingen beistehen. Ich bin sehr froh über diese phantastische Aufnahmebereitschaft, über das Netzwerk so vieler hilfsbereiter Frauen und Männer hierzulande. Und ich bin sehr froh darüber, dass in der aktuellen politischen Debatte über Flüchtlinge bisher kaum scharfmacherische Töne auftauchen und auch die Medien dem Problem angemessener begegnen als in früheren Jahren.
Wie erklären Sie sich, dass diese Übergriffe häufiger im Osten als im Westen unseres Landes stattfinden?
Zunächst: Es überrascht mich nicht. Auch 25 Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es noch zwei unterschiedliche politische Kulturen in Deutschland. Uns trennt keine Charaktermauer, uns trennen die Entwicklungsprozesse, die uns geprägt haben. Ein Teil, eine Minderheit, der Bevölkerung im Osten verharrt im Modus der unzufriedenen Beherrschten – auch wenn gilt, dass der Aufstand von 1989 einen sehr wirkungsvollen Heilungsprozess darstellte.
Also gab es Veränderung?
Ja, aber an das Dasein eines freien, selbstbestimmten, eigenverantwortlich handelnden Bürgers haben die Ostdeutschen sich erst seit 1989 gewöhnen können, die Westdeutschen dagegen seit der Nachkriegszeit. Außerdem hatte kaum jemand aus dem Osten Erfahrungen mit dem Zusammenleben mit Frauen und Männern aus anderen Ländern und Kulturkreisen. Hinzu kommt: Die Abwehr von Menschen anderer Herkunft ist oft dort besonders groß, wo besonders wenige dieser Menschen leben.
Macht es Ihnen Sorge, wie unterschiedlich die Lasten beim Flüchtlingsthema in Europa verteilt sind?
Selbstverständlich macht mir das Sorge. Es ist zwar in Ordnung, dass starke Schultern – und die haben wir – mehr tragen als andere. Allerdings können auch starke Schultern nicht jede Last tragen. Deswegen müssen Länder wie Deutschland oder Schweden, die sehr viele Flüchtlinge aufnehmen, sich mit den Ländern auseinandersetzen, die nur sehr wenige, zu wenige Schutzsuchende hereinlassen. Unabhängig davon sollten wir aber auch darüber reden, ob man es Menschen, die hier einfach arbeiten wollen und deren Arbeitskraft Deutschland gut gebrauchen könnte, nicht leichter macht, zu kommen – ohne dass sie dafür Asyl beantragen müssen.
Wünschen Sie sich ein Einwanderungsgesetz, das auch so heißt?
In diese, zumal parteipolitische, Kontroverse möchte ich mich als Bundespräsident nicht einschalten. Was ich allerdings sehe, ist Folgendes: In Deutschland gibt es – zum Glück! – inzwischen ein sehr breites Bewusstsein dafür, dass wir ein Einwanderungsland sind. Und das ist eine gute Voraussetzung dafür, sich sehr sachlich darüber zu unterhalten, welche Bestimmungen wir bereits haben, die Zuwanderung steuern, ob sie reichen oder ob wir mehr oder klarere Regularien brauchen...
... klare Regularien, die über heute geltende Gesetze hinausgehen?
Ganz allgemein: Ich finde es gut, wie offen wir inzwischen darüber diskutieren, dass wir Einwanderung brauchen, weil wir ein alterndes Land sind, weil der Wirtschaft Fachkräfte fehlen, auch weil wir durch kulturelle Vielfalt, trotz mancher Schwierigkeiten, die sie mit sich bringen kann , viel gewinnen.
Warum dann nicht ein Einwanderungsgesetz, das man ehrlicherweise auch so nennt?
Lassen Sie es mich so formulieren: Die Voraussetzungen für eine sachliche Debatte über bereits geltende und über denkbare, weitergehende Einwanderungsregeln sind günstig. Die politische Elite und die Bürger schauen heute unaufgeregter auf dieses Thema als noch vor einiger Zeit.
Sind Flüchtlinge und Zuwanderer auch eine Chance für Deutschland?
Ich sehe das so, ja. Und ich glaube, dass die Diskussion über die Chancen der Zuwanderung an Fahrt gewinnen wird, wenn sich noch mehr Menschen als bisher von dem Bild einer Nation lösen, die sehr homogen ist, in der fast alle Menschen Deutsch als Muttersprache haben, überwiegend christlich sind und hellhäutig... Tatsächlich ist die Lebenswirklichkeit hierzulande doch schon erheblich vielfältiger. Der Kopf weiß das auch, aber das Gemüt ist da manchmal noch ein wenig hinterher. Ich meine, wir müssen Nation neu definieren: als eine Gemeinschaft der Verschiedenen, die allerdings eine gemeinsame Wertebasis zu akzeptieren hat.
Deutschland feiert am 3. Oktober 25 Jahre Deutsche Einheit. Wie blickt ein einst bürgerrechtsbewegter Pastor aus Rostock, der in einer kuriosen Wende seines Lebens Staatsoberhaupt geworden ist, auf die Einheit heute?
Die Einheit ist gelungen. Für viele Menschen wurde erst die Freiheit, dann die deutsche Einheit zum elementaren Lebensglück. Das gilt besonders für die jüngere Generation. Gerade ihre Möglichkeiten haben sich unendlich erweitert. Aber für einen Teil der älteren ehemaligen DDR-Bürger ist das Tal der Enttäuschung bisher nicht überwunden. Viele haben ohne eigene Schuld Lebensperspektiven verloren und sind noch immer bitter.
Braucht das Land nach 2019 noch den Solidarpakt?
Das ist eine Frage an die operative Politik. Deswegen von mir nur so viel: Nicht zuletzt dank des Solidarpakts ist auch die wirtschaftliche Einheit unseres Landes ganz gut vorangekommen. Heute werden wieder stärker in allen Gegenden Deutschlands, auch im Westen, Gebiete gefördert, die ins Hintertreffen geraten sind. Dazu zählen unter anderem Teile von Nordrhein-Westfalen.
Bleiben die beiden Amtssitze des Bundespräsidenten an der Spree und am Rhein?
Ich mag dieses Bonn. Ich bin zwar Norddeutscher, aber wenn ich auf dem Balkon der Villa Hammerschmidt sitze und auf den Rhein sehe, dann geht das ganz tief ... Dass ein Ort, der einem ursprünglich fremd war, einem so ans Herz wachsen kann, passiert selten. Wenn ich am Rhein entlanggehe, ist das so ähnlich, als ginge ich durchs Brandenburger Tor. Ich empfinde dann ein richtiges Glücksgefühl.
Der Bonner Amtssitz ...
... der bleibt. Ganz sicher. Ich finde, dass Bonn eine Anerkennung verdient hat, weil es schon vor geraumer Zeit den Frust über den Beschluss des Bundestages für Berlin hinter sich gelassen hat. Wenn du heute in Bonn ankommst, bist du in einer Stadt, die bei sich ist, die nicht trauert, sondern sich erfolgreich neu erfunden hat.
Wie groß ist Ihre Lust auf eine zweite Amtszeit?
Ich wäre ein oberflächlicher Präsident, wenn ich nicht intensiv das Für und Wider erörtern würde. Und ich werde der Öffentlichkeit Antwort geben, aber – sehen Sie's mir nach – nicht heute im General-Anzeiger.
Die Fragen stellten: Ulrich Lüke, Helge Matthiesen und Holger Möhle.