Interview mit der Tageszeitung BILD und der israelischen Zeitung Yedioth Ahronoth

Schwerpunktthema: Interview

12. Mai 2015

Bundespräsident Joachim Gauck hat der Tageszeitung BILD und der israelischen Zeitung Yedioth Ahronoth anlässlich des Staatsbesuchs des israelischen Staatspräsidenten ein Interview gegeben, das am 12. Mai erschienen ist. Darin heißt es: "Für unsere beiden Länder, für Deutschland und Israel, wünsche ich mir, dass wir das zwischen uns Gewachsene in die Zukunft tragen. Dass unser Interesse aneinander fortbesteht und unser Verständnis füreinander weiter wächst. Die Grundlage dafür haben wir gemeinsam in den letzten 50 Jahren gelegt: unser gegenseitiges Vertrauen."

Bundespräsident Joachim Gauck in Schloss Bellevue (Archiv)

Bundespräsident Joachim Gauck hat der Tageszeitung BILD und der israelischen Zeitung Yedioth Ahronoth anlässlich des Staatsbesuchs des israelischen Staatspräsidenten ein schriftliches Interview gegeben, das am 12. Mai erschienen ist:

50 Jahre deutsch-israelische Beziehungen – wenn Sie heute an Israel denken, welche Bilder, welche Gedanken haben Sie vor Augen?

Ich sehe Bundeskanzler Konrad Adenauer und Ministerpräsident David Ben-Gurion 1960 in New York vor mir. Sie waren visionär diese beiden Staatsmänner. Nur 15 Jahre nach dem Ende von Krieg und Holocaust sind sie sich freundschaftlich und voller Vertrauen begegnet und haben so die Freundschaft unserer Völker wieder möglich gemacht. Aber es gibt auch jüngere Bilder, die ich vor Augen habe: der Kinderchor einer jüdischen Grundschule in Berlin, der anlässlich des Chanukka-Festes in der israelischen Botschaft singt. Auf diese schöne und lebendige Weise zu sehen, wie unser Zusammenleben uns gegenseitig bereichert, hat mich sehr bewegt.

1965-2015 – was ist heute anders als vor 50 Jahren?

Eigentlich ist heute alles anders. Was sich in den vergangenen fünf Jahrzehnten zwischen Israelis und Deutschen entwickelt hat, hätte 1965 kaum jemand für möglich gehalten. Deutschland hatte unvergleichliche Verbrechen am jüdischen Volk begangen. Vor 50 Jahren ging es daher um die Frage, wie eine Verständigung zwischen unseren Völkern überhaupt möglich sein könnte. Heute sehen wir: Sie war und ist möglich und zwar in unverhoffter Vielfalt und Lebendigkeit.

Wie stark prägt der Holocaust die Beziehungen zu Israel heute noch? Werden Israel und Deutschland jemals normale Beziehungen haben können?

Bundeskanzler Willy Brandt hat es 1973 in Israel treffend beschrieben: Unsere normalen Beziehungen haben den Charakter der Besonderheit. Wir tauschen uns heute tagtäglich auf vielerlei Ebenen mit Israel aus, unsere Beziehungen sind enger denn je. Insofern sind sie vergleichbar mit denen zu anderen Staaten oder eben normal. Gleichwohl werden sie, ja müssen sie aufgrund der Schoah immer besonders bleiben. Denn die Erinnerung daran darf niemals verblassen. Dennoch verbindet unsere Länder noch viel mehr als das vor allem unsere gemeinsamen Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte.

Warum sollten sich junge Deutsche gerade heute für Israel interessieren?

In keinem anderen Land der Welt sind Gegenwart, jahrtausendealte Traditionen und die Weltreligionen derart verwoben und präsent wie in Israel. Israel ist ein junges, modernes Land, mit einer kreativen Kunst-, Musik- und Start-Up-Szene. Gleichzeitig faszinieren die vielen biblischen und historischen Orte im Land. Diese Mischung ist nicht frei von Widersprüchen. Gerade deshalb ist das Land für junge Menschen so attraktiv. Es gibt in Deutschland zudem wegen unserer NS-Vergangenheit ein besonderes Interesse an Israel und eine besondere Solidarität mit Israel. Das gilt auch für die junge Generation.

Wie sehr machen Ihnen die anti-israelischen Proteste und Anschläge der vergangenen Monate Sorgen?

Die antisemitischen Ressentiments und antijüdischen Aggressionen in Teilen Europas bereiten mir natürlich sehr große Sorge. Auch in Deutschland haben wir bei Demonstrationen im letzten Jahr einen teils als Kritik an Israel verbrämten, teils offenen Antisemitismus erlebt: neben einem „traditionellen“ Antisemitismus sehen wir uns verstärkt mit Antisemitismus aus Zuwandererfamilien konfrontiert. Das hat mich und die überwältigende Mehrheit der Deutschen zutiefst beschämt. Hier ist ein jeder von uns in jedem Moment gefordert, deutlich zu sagen: Wir wollen keinen Antisemitismus und wir dulden ihn in Deutschland nicht.

Was ist Ihr persönlicher Wunsch zum 50. Jahrestag der deutsch-israelischen Beziehungen?

Den Menschen in Israel wünsche ich, dass ihr Land künftig sicher und in Frieden mit seinen Nachbarn leben kann. Dazu gehört für mich auch, einen friedlichen Weg für das Zusammenleben mit den Palästinensern zu finden. Grundlage dafür ist eine Zwei-Staaten-Lösung, davon bin ich überzeugt. Für unsere beiden Länder, für Deutschland und Israel, wünsche ich mir, dass wir das zwischen uns Gewachsene in die Zukunft tragen. Dass unser Interesse aneinander fortbesteht und unser Verständnis füreinander weiter wächst. Die Grundlage dafür haben wir gemeinsam in den letzten 50 Jahren gelegt: unser gegenseitiges Vertrauen.