Bundespräsident Joachim Gauck hat am 27. September den kanadischen Tageszeitungen "Globe and Mail" und "La Presse" ein Interview gegeben.
Ihr Besuch in Kanada fällt in eine Zeit des Umbruchs – die Europäische Union schließt ein umfangreiches Freihandelsabkommen mit Kanada und unsere Länder haben im Rahmen der internationalen Finanzinstitutionen, der NATO und in anderen Bereichen wichtige Entscheidungen zu treffen. Wie sehen Sie derzeit die transatlantischen Beziehungen zwischen Deutschland und Kanada?
Kanada ist für Deutschland ein sehr wichtiger transatlantischer Partner. Unsere Länder verbindet eine enge Freundschaft, wir teilen viele grundlegende Überzeugungen und Werte und arbeiten in internationalen Institutionen und Bündnissen - den Vereinten Nationen, den G7 und der NATO - vertrauensvoll zusammen. Wie wichtig unsere Freundschaft ist, zeigt sich in außenpolitischen Krisen, wie wir sie derzeit im Nord-Irak oder in der Ukraine erleben, besonders deutlich.
Kanada ist ein prosperierendes, innovatives und weltoffenes Land. Und Deutschland kann einiges lernen von seinen Erfahrungen mit Zuwanderung und von der erfolgreichen Integrationspolitik. Außerdem besteht noch recht viel Spielraum für eine intensivere Wirtschafts- und Wissenschaftskooperation zwischen unseren Ländern. Ich werde daher von einer hochrangigen Wirtschaftsdelegation begleitet. Nicht nur die großen Rohstoffvorkommen Kanadas bieten gute Entwicklungschancen für unseren Außenhandel. Das von Ihnen erwähnte umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen CETA könnte unseren Wirtschaftsbeziehungen eine neue Qualität geben.
Anfang dieses Jahres haben Sie angeregt, dass es für Deutschland an der Zeit sei, sich bei der Lösung internationaler Konflikte stärker einzubringen, erforderlichenfalls auch durch militärisches Engagement. Warum ist Ihrer Meinung nach gerade jetzt der Zeitpunkt dafür gekommen? Wie begegnen Sie denjenigen Deutschen, die ihr Land lieber weiterhin in einer zurückhaltenden Rolle sähen?
Deutschland hat seit seinen verheerenden Verbrechen im vergangenen Jahrhundert, seit der Gründung der Bundesrepublik und schließlich dem Ende der Teilung Europas eine sehr bemerkenswerte Entwicklung durchlebt. Heute verfügen wir über einen funktionierenden Rechtsstaat und eine gefestigte Demokratie, in der Bürger- und Menschenrechte geachtet werden und der soziale Ausgleich einen hohen Stellenwert hat. In meiner Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz habe ich gesagt, es sei ein gutes Deutschland, das Beste, das wir jemals hatten. All das trägt zu der Achtung und dem großen Vertrauen bei, die Deutschland inzwischen genießt und die auch ich auf meinen Reisen ins Ausland immer wieder erlebe. Unser Land wird als verlässlicher Partner und Vermittler wahrgenommen. Damit müssen wir verantwortungsvoll umgehen. Wir sollten es nutzen, um zum Beispiel politisch und diplomatisch dazu beizutragen, gemeinsam mit unseren Partnern Konflikten vorzubeugen und Konflikte, wenn sie denn entstanden sind, möglichst frühzeitig und möglichst friedlich zu lösen. Welche Verantwortung Deutschland über die eigenen Grenzen hinaus hat und was genau daraus folgt, diskutieren wir Deutschen derzeit auch angesichts aktueller außenpolitischer Krisen sehr intensiv und ich bin froh, dass es diese Debatte über unser Selbstverständnis und unsere Rolle in der Welt gibt.
Sie haben diesen Sommer zahlreichen Gedenkveranstaltungen zum Ersten Weltkrieg beigewohnt. Aktuellen Umfragen zufolge sind nur 19 Prozent der Deutschen der Ansicht, ihr Land trage die Hauptschuld am Ausbruch dieses Krieges. Natürlich ist die Schuldfrage in Bezug auf den Ersten Weltkrieg komplex, aber würden Sie sagen, dass eine neue Generation die "Kriegsjahre" hinter sich lassen und nicht mehr ständig mit der Vergangenheit konfrontiert werden möchte?
Ich bin der Überzeugung: Wir müssen uns immer wieder erinnern und dürfen nicht vergessen, was geschehen ist. Das Erschrecken über die Vergangenheit und über das, was möglich war, ist die Grundlage für unser gereiftes demokratisches Bewusstsein heute. Und ich mache immer wieder die Erfahrung, dass dies gerade den Jüngeren sehr bewusst ist. Unser Gedenken sollten wir zwar nicht zu stark ritualisieren, sollten es immer wieder überprüfen, aber wir brauchen es, um aus der Geschichte die richtigen Schlüsse zu ziehen, um aus ihr zu lernen.
Sie haben die russische Invasion im Osten der Ukraine kürzlich mit den Worten "die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern" kritisiert. Haben sich Europa und der Westen angesichts des russischen Militäreinsatzes in der Ukraine Ihrer Meinung nach zu sehr zurückgehalten?
Nein, das denke ich nicht. Im Gegenteil: Die Europäische Union, Kanada, die USA, der ganze Westen – wir alle engagieren uns intensiv in der Ukraine-Krise und haben das von Anfang an getan. Die deutsche Bundesregierung führt seit Monaten intensive Gespräche mit allen Seiten, um zu einer Deeskalation beizutragen. Gleichzeitig waren und sind immer wieder neue Sanktionen erforderlich geworden, weil Russland sogar weitere Eskalationen gebilligt oder initiiert hat. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass Auslöser der gegenwärtigen Krise die Verletzung der Souveränität und der territorialen Integrität der Ukraine war. Das verurteilen wir und erkennen die Annexion der Krim nicht an.
Politiker aus aller Welt, von Hillary Clinton bis hin zum britischen Premierminister David Cameron, haben Wladimir Putins Vorgehen in der Ukraine in den letzten Wochen mit dem Einmarsch deutscher Truppen in das Sudentenland und in Polen verglichen. Ist dieser Vergleich mit dem dunkelsten Kapitel der Geschichte Ihres Landes geschmacklos oder unpassend? Sind solche Analogien angebracht?
Natürlich entspricht die Situation heute nicht der Lage vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Allein der historische Kontext war ein ganz anderer. Dennoch erwächst uns aus dieser Geschichte eine besondere Verantwortung, die Konflikte in unserer Nachbarschaft friedlich zu lösen, gleichzeitig aber nicht untätig zuzuschauen, sondern deutlich, wenn nötig also auch mit angemessenen Sanktionen, zu antworten.
Sie sprachen kürzlich von einem neuen Antisemitismus in Deutschland und in anderen europäischen Ländern. Können Sie erläutern, was genau das bedeutet, und was Staat und Gesellschaft dagegen tun können?
In diesem Sommer gab es auch in Deutschland bei Demonstrationen zum Israel-Palästina-Konflikt mehrfach antisemitische Ausbrüche. Dabei verbindet sich in Deutschland und auch in anderen Ländern Europas ein traditioneller Antisemitismus mit einem neuen, aus bestimmten Zuwanderermilieus stammenden Antisemitismus. Das bedrückt mich wirklich sehr. Allerdings distanziert sich der allergrößte Teil meiner Landsleute davon. Es gab jüngst einen Aktionstag der Muslime gegen Rassismus und Extremismus. Und auch bei einer großen Kundgebung in Berlin vor zwei Wochen konnte ich gemeinsam mit Bundeskanzlerin Merkel noch einmal feststellen: Antisemitische Äußerungen in Deutschland bleiben nicht ohne Gegenreaktion. Bürger, Medien und Politik – alle gemeinsam treten wir diesen Missachtungen entschlossen entgegen und verurteilen sie auf das Schärfste.
Die Fragen stellte: Douglas Saunders.