Interview mit der tschechischen Tageszeitung "Mladá fronta Dnes" anlässlich des Besuch in der Tschechischen Republik

Schwerpunktthema: Interview

10. Oktober 2012

Bundespräsident Joachim Gauck hat der tschechischen Tageszeitung "Mladá fronta Dnes" am 10. Oktober 2012 ein Interview gegeben. Anlass war der Besuch des Bundespräsidenten in der Tschechischen Republik.

Bundespräsident Joachim Gauck bei der Kranzniederlegung in der Gedenkstätte Lidice

Herr Bundespräsident, Sie haben sich im Juni diesen Jahres in einem Brief an Präsident Klaus für die Massaker von Lidice und Ležáky während des Zweiten Weltkriegs entschuldigt. Laut Historikern hat das zuvor niemand so aufrichtig und menschlich getan: War das dem politischen Protokoll geschuldet oder kam hier Ihre persönliche Ansicht über die Geschehnisse in der Vergangenheit zum Ausdruck?

Mir war es ein persönliches Anliegen, aber ich wollte auch, dass das deutsche Staatsoberhaupt sich zu diesen Verbrechen äußert. Einige der Menschen, die als Kinder dieses Massaker überlebt haben, sind heute noch unter uns. An sie vor allem habe ich gedacht, als ich an Staatspräsident Václav Klaus schrieb. Ich werde sie bei meinem Besuch in Lidice treffen. Und ich habe an die mutigen Männer gedacht, die ihr Leben gaben, bei dem Versuch für Ihr Volk die Freiheit zu erringen.

Sie wurden 1940 geboren. Den Krieg erlebten Sie als Kind in der relativen Abgeschiedenheit auf dem Land, im Dorf Wustrow bei Rostock. Was haben Sie für Erinnerungen? Erinnern Sie sich, wer und wie Ihnen das Wort Krieg und seine Bedeutung zum ersten Mal erklärt hat bzw. wurde?

Obwohl während meiner ersten Lebensjahre Krieg herrschte, hatte ich doch das Glück, in Geborgenheit und auch relativem Frieden zu leben. Nur in einzelnen Momenten übertrug sich die Angst der Erwachsenen auch auf mich, zum Beispiel als ich meine Großeltern in der Großstadt besuchte und dort die Sirenen heulten. Und so erschloss sich mir die Bedeutung des Wortes „Krieg“ allmählich, durch ängstliche Blicke und Worte der Erwachsenen und am Ende des Krieges dann infolge des Besatzungsregimes der sowjetischen Soldaten. Insgesamt war ich aber natürlich zu klein, um auch nur annähernd zu erfassen, was um mich herum vorging.

Ihr Vater, der später von den Sowjets deportiert wurde und in Sibirien im Gefängnis war, verbrachte auch einige Zeit in britischer Gefangenschaft. Sie müssen die Tragik des Krieges wohl bald verstanden haben. Wie hat man zu Hause nach dem Weltkrieg darüber gesprochen?

Mein Vater kam im Sommer 1946 aus der britischen Gefangenschaft zurück, 1951 deportierten ihn die Kommunisten ohne jeden Grund, unter dem Vorwand, Spionage beziehungsweise anti-sowjetische Propaganda betrieben zu haben, in ein sibirisches Arbeitslager. Ich war glücklich, als er zurückkam und ich hatte Mitleid mit ihm, denn er war ein unschuldiges Opfer. Dadurch wurde in meiner Familie nur wenig über den Krieg, die Naziverbrechen und den Holocaust gesprochen. Erst als Jugendlicher und als Student habe ich meinen Eltern dann kritische Fragen gestellt. Ich fand es befremdlich, dass sie in der NS-Zeit Mitläufer waren. Ich war natürlich froh, dass mein Vater nicht an Mordtaten beteiligt war und dass er als Lehrer an einer Marineschule nicht im Fronteinsatz war. Geprägt hat mich außerdem meine Leidenschaft für das Lesen: Das „Tagebuch der Anne Frank“ etwa vermittelte mir als Jugendlichem einen tiefen und nachhaltigen Eindruck davon, dass die Deutschen im Nationalsozialismus schwerste Schuld auf sich geladen hatten. Übrigens war es für mich damals sehr schwer, einen Zugang zur Schoah zu finden. Ich erinnere mich, wie fassungslos ich da stand mit einem Buch über den Nationalsozialismus in der Hand und doch niemanden fand, mit dem ich das Geschehene besprechen hätte besprechen können.

Sie entschuldigten sich für etwas, das Ihre Generation nicht beeinflussen konnte. Wie sehr sind sich die Menschen im heutigen Deutschland einer Schuld bewusst? Oder bedeutet der Krieg zum Beispiel für junge Leute heute nur noch einen Absatz in den Schulbüchern? Wird einmal die Zeit kommen, da die Deutschen aufhören werden, sich für den Zweiten Weltkrieg zu entschuldigen?

Deutsche haben in der Zeit des Nationalsozialismus unvorstellbares Leid über Millionen Menschen gebracht – über Menschen jenseits der deutschen Grenzen und über Menschen in meinem eigenen Land, auf die die von Deutschland ausgegangene Gewalt grausam zurückschlug. Das werden wir nie vergessen. Die Erinnerung daran müssen wir an die junge Generation weitergeben. Jenseits der nüchternen Opferzahlen kann die Erinnerung an die Zerstörung von Lidice und Ležáky uns helfen, das Leid und das Verbrechen mit dem Schicksal einzelner Menschen in Verbindung zu bringen. Das eigentlich Unbegreifliche erschließt sich uns. Ich selbst war fünf Jahre alt als der Krieg endete und wir befreit wurden, das heißt die Westdeutschen nachhaltig, die Ostdeutschen wurden zu anderer Unfreiheit „befreit“. Ich trage also, so wie alle nachfolgenden Generationen, keine persönliche Schuld. Trotzdem werden diese aufgrund der deutschen Geschichte eine besondere Verantwortung tragen: gegen das Vergessen, für das „Nie wieder“ und auch für das Existenzrecht Israels. Wir können auch sehen, dass Deutschland sich seiner Vergangenheit wie kaum ein anderes Land gestellt hat, dass es ein Garant für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geworden ist. Das mag mit ein Grund dafür sein, dass in Europa heute Erwartungen an Deutschland gestellt werden, mehr Verantwortung zu übernehmen. Wir nehmen diese Stimmen ernst. Meine Landsleute müssen sich allerdings erst noch an diesen Gedanken gewöhnen.

Václav Klaus lobte Ihre Worte. Er selber gab sich im Gegenzug nicht so offen. Erwarten Sie, dass von tschechischer Seite mit der gleichen Einfühlsamkeit und Anerkennung auf die eigenen Verbrechen eingegangen wird, auf das Leid, das den Deutschen nach dem Krieg zugefügt wurde?

Jedes Volk entscheidet selbst über seinen Umgang mit der Geschichte und über seinen Weg zur Wahrheit. In Westdeutschland bedurfte es erst der Studentenbewegung von 1968, ehe in weiteren Kreisen als zuvor - und durchaus schmerzhaft – über eigene Schuld gesprochen wurde und mehr Deutschen begannen, Empathie mit den Opfern des Naziregimes zu empfinden. Das war und ist ein Segen, allerdings ein mühsam errungener.

Im Juni kritisierten Sie in der Führungsakademie der Bundeswehr, dass die deutsche Gesellschaft dazu neigt, vor militärischen Missionen im Ausland den Kopf in den Sand zu stecken. Wird diese Abneigung, Truppen zu senden, einzig aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs genährt?

Die Erfahrungen aus unserer Vergangenheit haben dazu geführt, dass wir mit der Bundeswehr heute Streitkräfte in Deutschland haben, die als eine echte Parlamentsarmee in der Mitte der Gesellschaft verankert sind, und über das Prinzip der Inneren Führung den Soldaten als einen „Staatsbürger in Uniform“ formen. Dass solche Streitkräfte durch die Gesellschaft das Parlament zurückhaltender eingesetzt werden, liegt damit zum einen in ihrer Natur als Teil der Gesellschaft, zum anderen aber auch in unserem – in der Tat geschichtlich begründetem – zurückhaltenden Umgang mit allem Militärischen. Leider führt diese Zurückhaltung aber auch dazu, dass aus meiner Sicht notwendige sicherheitspolitische Debatten nur wenig ausgeprägt sind bzw. ganz fehlen, manchmal deutlich marginalisiert sind und dadurch auch laufende Einsätze unserer Bundeswehr nur wenig Aufmerksamkeit und Unterstützung erfahren. Diese gebührt aber den „Staatsbürgern in Uniform“ und dafür setze ich mich ein.

Sie kommen nach Tschechien in einer Zeit, in der unser Verhältnis das beste in der Geschichte ist. In der EU wählen aber Tschechien und Deutschland oft eigene Wege. Sehen Sie das Risiko, dass unser Verhältnis in Zukunft nicht mehr so freundlich sein könnte?

Deutschland gestaltet seine Zukunft gemeinsam mit seinen europäischen Partnern. Wir haben dies nach 1989 als großes Glück erfahren. Das dürfen wir nicht gering schätzen. Der Nachbarschaftsvertrag von 1992 und die Deutsch-Tschechische Erklärung von 1997 bilden die solide Grundlage unserer Beziehungen. Wichtig ist mir der Jugendaustausch, der den Weg in die Zukunft bereitet. Ich halte es für ganz selbstverständlich, dass Menschen und Regierungen in Sachfragen unterschiedliche Auffassungen haben, darüber diskutieren und um den richtigen Weg ringen. Ich kann auch nachvollziehen, dass ein Staat, der erst vor wenigen Jahrzehnten seine volle Souveränität wiedererlangt hat, die Abgabe von Souveränität skeptisch betrachtet. Dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass Europa, wenn es will, dass seine Stimme in der Welt gehört wird, zusammenstehen und einig sein muss. Die großen Herausforderungen wie Armutsbekämpfung, Terrorismusbekämpfung, knappe Ressourcen, Umweltschutz oder Migration - um nur einige zu nennen - lassen sich nur noch gemeinsam lösen. Kein europäischer Staat alleine kann das. Unterschiedlich, aber zusammengehörig - aus dieser Spannung nährt sich das europäische Bewusstsein, erwachsen die europäischen Werte des Respekts, der Toleranz, der Herrschaft des Rechts, der rückhaltlosen Anerkennung der Würde jedes einzelnen Menschen, der Gleichberechtigung der Geschlechter. Das sind europäische Grundwerte, für die Europa steht und auf die Europa stolz sein kann.

Vor ein paar Wochen haben Sie Gesetze zum ESM und Fiskalpakt unterzeichnet. Nach Umfragen sind fast die Hälfte der Deutschen der Meinung, dass das Land seine Souveränität langsam zu verlieren droht. Teilen Sie diese Befürchtung?

Nein, diese Befürchtung teile ich nicht. Aber ich nehme sie ernst. Denn daraus ergibt sich die Verpflichtung für uns alle, die wir politische Verantwortung tragen, die Politik noch besser zu erklären.

Sie überraschen bei vielen Ihrer Schritte. Sie sind politisch keiner Partei zuzuordnen. Sie wählten für Ihre erste Reise nicht den wichtigsten europäischen Verbündeten, Frankreich, sondern Polen. Sie entschuldigten sich aufrichtig für Lidice - auch das für die Tschechen eine große Überraschung. Man sagt, Sie seien ein "etwas anderer Präsident". Freuen Sie solche Bezeichnungen?

Jeder Präsident prägt sein Amt auch mit seiner Person. Ich bin dankbar dafür, dass ich in Deutschland verstanden werde und als Präsident anerkannt bin.

In Deutschland und auch in Tschechien gilt der Präsident als die Person, die oft die Themen öffnet, die die Gesellschaft nicht immer sehen möchte. Sehen Sie das auch als ihre Mission?

Ich möchte die Menschen in Deutschland ermutigen, ihre Kraft und ihre Ideen für ihr Land, für die Bürgergesellschaft und für die europäische Idee einzubringen. Ich will auch nicht, auch wenn viele das gerne so hätten, ein Anti-Politiker sein. Politik heißt, sich mit dem Unvollkommenen zu arrangieren, ohne dabei den Willen und die Energie zu verlieren, die Verhältnisse zu verbessern. Und so sähe ich es gerne, wenn viele sich einmischten, zum Beispiel in Wahlen, oder mehr Partizipation einfordern und den Anspruch haben mitzugestalten.

Man kann die Ähnlichkeit zwischen Bundespräsident Gauck und Präsident Havel nicht übersehen. Sie beide kämpften gegen Diktatur, Sie beide kämpften für die Demokratie. Kann man sagen, dass Ihre Erlebnisse Ihnen größere Freiheit und Übersicht in dieser Funktion geben?

Ich möchte mich nicht mit dem großen Freiheitskämpfer und Staatsmann Václav Havel gleichsetzen - auch wenn wir uns beide für Demokratie und Freiheit eingesetzt haben. Was ich versuche, ist meine Erinnerung als Kraftquelle zu nutzen, mich und uns zu lehren und zu motivieren. Freiheit soll, das versuche ich begreiflich zu machen, für uns eine Verheißung sein. Wir dürfen keine Angst vor der Freiheit haben. Darüber hat auch Václav Havel häufig gesprochen. Angst vermindert unser Selbstvertrauen und lähmt uns. Als wir im Osten Europas unsere Ängste überwunden haben, fielen Mauern und führten Wege in ein friedliches Europa.

Ist der Weg Deutschlands ein anderer, weil die Bundeskanzlerin und der Bundespräsident aus der ehemaligen DDR stammen?

Ich war – wie die Bundeskanzlerin auch – mit meinen ostdeutschen Wurzeln mit allen meinen Überzeugungen immer den westlichen Werten von Freiheit und Verantwortung, Demokratie und Recht nahe. verpflichtet. Wir haben uns zu lange nach diesen Werten gesehnt. Heute können wir sie leben. Viele Menschen aus Ostmitteleuropa werden diese Werte deshalb besonders nachdrücklich vertreten und verteidigen. Ich möchte weiterhin meinen Beitrag dazu leisten, unsere mittel- und osteuropäische Freiheitstradition in das gesamteuropäische Friedensprojekt einzubringen.

Als wir miteinander vor zwei Jahren gesprochen hatten, lebte Václav Havel noch. Sie hatten ihn damals zitiert. Wie erinnern Sie sich an ihn?

Mit Freude, ihm begegnet zu sein, mit Dank für das, was er Europa gegeben hat, mit Trauer, dass er uns verlassen musste.