Herr Bundespräsident, vor 20 Jahren zeigte das Neue in Ostdeutschland mit dem Aufwallen des Bürger-Mobs, mit überforderten Ordnungskräften, mit gierigen Rassisten in Rostock-Lichtenhagen die böse Fratze. War es Zufall, dass sich dieser undemokratische Aufstand gegen Fremdes im Osten Deutschlands Platz schaffte?
Verführbare wie bösartige und fremdenfeindliche Menschen gibt es leider überall. Dass es im Osten prozentual mehr sind, lässt sich leider nicht leugnen. Anfang der 90er-Jahre waren viele Menschen im Osten ohne Arbeit und orientierungslos. Ein Teil von ihnen war anfällig für einfache Wahrheiten und für Schwarz-Weiß-Denken. Auch Konfliktlösungen in Form von Diskurs und Debatte hatte man zu DDR-Zeiten nicht trainiert. „Wahrheit“ wurde da gern mit Gewalt durchgesetzt. Es fehlte im Ganzen eine Kultur der offenen Bürgerdebatte. Und es fehlten Erfahrungen des Zusammenlebens mit Fremden.
Sie gehen am 26. August selbst zur Kundgebung nach Rostock-Lichtenhagen. Was wollen Sie damit bezwecken?
Das hätte ich auch gemacht, wenn ich nicht Bundespräsident wäre. Dann wäre ich noch Vorsitzender des Vereines „Gegen Vergessen - für Demokratie“. Als solcher bin ich bei mancher Demonstration dabei gewesen, bei manchem Gedenken, bei vielen Anlässen, an denen sich Bürger gegen die Braunen verbündet haben. Ich gehe jetzt als Bundespräsident nach Rostock-Lichtenhagen, um zu zeigen, dass wir in Deutschland auch wirklich eine Kultur der Abwehr des Extremismus trainiert haben und dass wir da weiter aktiv bleiben wollen.
Rechtsextremisten spielten damals auch mit der Angst.
Wir schenken Rechtsextremisten nicht unsere Angst, wir lassen sie nicht gewähren. Wir wollen uns erinnern, was passieren kann, wenn die Emotionen das ihrige tun. Und gleichzeitig wollen wir uns erinnern, was passieren kann, wenn die Bürger das ihrige nicht tun. Ich werde aber auch an die Gegendemonstration der Rostocker Bürger erinnern, die unmittelbar danach stattfand und die in den Medien kaum wahrgenommen worden ist. Es war ja nicht so, dass Rostock damals nur geprägt war von rechtsextremen Chaoten und Claqueuren. Unmittelbar nach den Ausschreitungen hatten sich Leute auch aus meinem früheren Umfeld mit anderen Bürgern verbündet und gegen die Ausschreitungen protestiert.
Heute brennt der Osten nicht mehr, aber Rechtsextremismus hat sich im Osten an einigen Stellen tief verwurzelt. Gibt es dafür eine Entschuldigung, zumindest eine Erklärung?
Entschuldigungen kann es nicht geben und Erklärungen fallen schwer. Wenn alle Ostdeutschen ein Wirtschaftswunder erleben oder Anerkennung und Erfolg hätten, wären die Chancen der Verführer kleiner. In abgehängten Regionen können einfache Wahrheiten leichter verfangen.
Was tut man, wenn der Nachbar ein Nazi ist?
Keine Angst haben. Den eigenen Argumenten trauen. Freunde suchen. Den verführten Jugendlichen anders behandeln als die eingefleischten Ideologen und Menschenfeinde. Nicht weglaufen. Zeuge sein, wo ein Zeuge gebraucht wird.
Ist es eine Erklärung oder eine Entschuldigung, dass das viele Neue im Osten die Menschen so verunsichert hat, dass sich heute noch sogenannte national befreite Zonen halten, dass Rechtsradikale ohne Verbot im Parlament sitzen?
„National befreite Zonen“ gibt es ja in der Form nicht. Das hätten die Nazis gerne. Die rechtsradikalen Abgeordneten verschwinden sehr schnell aus dem Parlament, wenn mehr Bürger zur Wahl gehen.
Braucht Deutschland ein NPD-Verbot, um mit den Nazis fertig zu werden?
Das muss sehr sorgfältig bedacht werden. Ich verfolge aufmerksam die Arbeit der Experten aus Bund und Ländern. Solche Verfahren brauchen auch Zeit. Solange können und wollen wir mit unserem Engagement nicht warten. Im Alltag ist es heute so, dass die Bürgergesellschaft vielerorts recht aktiv ist. Überall, wo die Braunen auftreten, sind wir zehn Mal mehr als die. Und das macht Mut.
Sie sind Rostocker Ehrenbürger, aber ein im Westen der Republik beliebterer Präsident als im Osten. Versteht Sie der Westler besser?
Ich bin dankbar dafür, dass ich im Osten wie im Westen anerkannt bin. Und ich finde es in einer Demokratie vollkommen in Ordnung, wenn Menschen das anders sehen. Das respektiere ich. Es ist aber auch so, dass im Osten mehr Menschen leben als im Westen, die der DDR nachtrauern. Sie hatten im SED-Regime oft erhebliche Vorteile für sich und ihre Familien. Und das über Jahrzehnte. Und die werden es den Aktivisten von 1989 noch lange übel nehmen, dass sie ihre Macht und Herrlichkeit abgeben mussten. Ich fühle mich geehrt, wenn mich die Anhänger der DDR-Diktatur ablehnen.
Verbindet Sie das Gefühl von Angst und Feigheit mit Ostdeutschen?
Mit den meisten Ostdeutschen verbindet mich das Gefühl der Freude und Dankbarkeit, dass wir aus eigener Kraft vom Untertan zum Bürger wurden, die Mauer zum Einstürzen brachten und im Rechtsstaat leben.
Sie sind Präsident, dort ist das Volk. Was verbindet die Regierten und den ersten Mann im Staat?
Mich verbindet das Leben in einem Staat, der Grundrechte garantiert und seinen Bürgern im Artikel 1 des Grundgesetzes zusagt, dass die Würde des Menschen unanstastbar ist. Ich komme aus der Demokratie- und Freiheitsbewegung. Jeder Einzelne kann zu seiner Zeit ein Mitmacher und Teilnehmer sein. Gelegentlich kommen er oder sie in Positionen, in denen sie sehr viel Verantwortung tragen.
Die Fragen stellte Dieter Wonka.