Herr Bundespräsident, in der vergangenen Woche hat es einen spektakulären Vorgang gegeben, einen Fall, den es in der Republik in dieser Brutalität so noch nicht gegeben hat: Sie haben auf Bitten der Kanzlerin den früheren Umweltminister Norbert Röttgen entlassen und seinen Nachfolger ernannt. Hätte der Joachim Gauck von vor drei Monaten anders gesprochen zu den Vorgängen als der, der Sie nun sein mussten?
Vielleicht hätte ich noch mehr Empathie entwickelt für Norbert Röttgen, weil ich mir die Zwänge einer Regierungschefin weniger hätte vorstellen können. Aber ich war immer ein realpolitisch eingestellter Mensch und mit dem Politikgeschäft vertraut. Im Fall Röttgen konnte ich mir nach der NRW-Wahl vorstellen, dass die Regierungschefin einem geschwächten Politiker die außerordentlich schwierige und langwierige Aufgabe der Energiewende nicht länger anvertrauen wollte.
Umfasst Ihr Verständnis für realpolitische Zwänge auch, dass Frau Merkel Sie zweimal als Bundespräsidenten nicht wollte?
Auch, ja.
Warum haben Sie sich das Mehr an Empathie für Norbert Röttgen jetzt versagt und nicht gesagt, was Sie vielleicht vor drei Wochen noch gesagt hätten?
Ich habe dem scheidenden Minister meine Empathie keineswegs versagt. Aber es wäre unpolitisch gewesen, das Mitgefühl über die politische Ratio zu stellen. Da ist meine Sichtweise auch durch das Amt ein bisschen erweitert worden. Es ging in diesem Fall nicht um moralisches oder unmoralisches Verhalten.
Heißt das, dass in der Politik andere ethische Maßstäbe gelten als die, die Sie sonst selbst an sich und andere anlegen würden?
Wenn Sie meine Antwort so verstanden haben, haben Sie sie falsch verstanden. Ich muss Verständnis aufbringen für eine Regierung, die Erfolge und Handlungsfähigkeit vorweisen will – und seitens der Wähler und Bürger auch dafür honoriert wird oder eben nicht.
Es heißt nicht, dass Sie das Verhalten gut finden?
Es gibt in der Politik Situationen, in denen ethisches Handeln, wie wir es im zwischenmenschlichen Bereich für wünschenswert halten, nicht unbedingt das Klügste ist. Das bedeutet ja nicht, dass es damit unethisch ist. Nehmen Sie zum Beispiel den Umgang mit Wahrheit in der Politik. Im Prinzip ist ein Politiker selbstverständlich gehalten, die Wahrheit zu sagen. Es gibt aber durchaus Situationen, in denen es politisch geboten sein kann, nicht alle Szenarien sofort auszubreiten. Denken Sie an die Auswirkungen von politischen Äußerungen an den Finanzmärkten – hier kann es zum Beispiel durchaus vernünftig sein, durch Zurückhaltung einer Panik vorzubeugen. Das heißt aber nicht, dass das Verhältnis der Politik zur Wahrheit rein taktisch sein darf. Dann gäbe es kein politisches Vertrauen mehr zwischen den Bürgern und der politischen Klasse.
Sie meinen also: Ein Politiker darf Dinge verschweigen, aber er darf nicht aktiv lügen?
Ja, so würde ich es wohl sagen. Unser Verständnis für politisches Handeln wird durch Lügen beschädigt. Es wird aber auch oft beschädigt durch die Art und Weise der Kommunikation. Zu einer menschenfreundlichen Kommunikation gehören Offenheit und Verständlichkeit.
Sie haben erst vor einem Jahr beklagt, die politische Klasse habe „einen Spezialdiskurs“ entwickelt, wie die Chirurgen auf ihren Kongressen. „Wir da draußen verstehen nur Bahnhof.“ War der Rauswurf von Herrn Röttgen durch Frau Merkel auch Teil eines Spezialdiskurses?
In einer Situation, in der die Koalition nicht von jedem nur gute Zensuren bekommt, ist es ein hoher politischer Wert für eine Regierungschefin, Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Es hilft aber, wenn die konkrete Handlung der Öffentlichkeit nachvollziehbar erklärt wird.
Machterhalt ist eine ziemlich machiavellistische Begründung.
Das Feld des Politischen wird von vielen Menschen in Deutschland gleichgesetzt mit der Suche nach dem Vollkommenen – theologisch gesprochen, dem Schalom. Viele Menschen denken, dass die Politik Verachtung verdient, weil sie uns nicht mit dem Eigentlichen, dem Ideal, zusammenbringt. Dahinter steckt eine aus der Romantik stammende Sehnsucht: Ja, wenn die Freiheitsideale der Französischen Revolution nicht begleitet gewesen wären vom Terror der Jakobiner, sondern zusammengefallen wären mit der kulturellen Tiefe der Deutschen – ja, dann hätten wir schon dabei sein wollen. Auch heute sehen wir bei vielen so etwas wie ein Heilsbedürfnis statt ein Streben nach dem Gestaltbaren.
Und Sie sind nun ausgerechnet die Verkörperung dieser Sehnsucht!
Das ist natürlich ein großer Irrtum – so etwas kann passieren! Nein, ich sehe meine Aufgabe eher darin, den Bürgern klarzumachen, dass Politik sich dem Ideal bestenfalls nähert, immer aber aus Kompromissen bestehen wird. Politik heißt, sich mit dem Unvollkommenen zu arrangieren, ohne dabei den Willen und die Energie zu verlieren, die Verhältnisse zu verbessern. In einer Welt, in der Menschen ganz unterschiedliche Interessen verfolgen und zudem mit Mängeln behaftet sind, kann es einfach keine ideale Gesellschaft geben. Ideale, an denen wir uns ausrichten, können uns allerdings eine Kraftquelle sein und uns motivieren, von der Haltung des Zuschauers zu der des Gestalters zu wechseln. Dabei ist es wichtig, beständig mehr Partizipation und Freiheit für den Einzelnen einzufordern. Wenn Menschen aber die Realpolitik verachten, weil sie hinter dem antizipierten Ideal zurückbleibt, dann wird das Ganze unpolitisch – und dann kann Protest auch schon mal albern werden.
Albern war das Wort, das Sie für die Occupy-Bewegung verwendet haben.
Ich habe bekanntlich nicht die ganze Occupy-Bewegung so bezeichnet. Ich kann verstehen, wenn Menschen zum Protest auf die Straße gehen, das finde ich auch lobenswert. Was mich bei Occupy jedoch gestört hat, war das fehlende Ziel. Einmal wollten Leute die Europäische Zentralbank besetzen – die einzige Bank, die eben keine Geschäftsbank ist, sondern eine stabilisierende Funktion erfüllt. Ja, und? Was sollte denn da abgeschafft werden und vor allem: Was soll stattdessen kommen? Für mich hat das neben dem berechtigten Aufbegehren gegen Missstände auch Eventcharakter. Politisch hingegen ist das für mich nicht greifbar, wie auch manches an der altneuen Mode des Antikapitalismus. Mit vielen Menschen aus Mittel- und Osteuropa, die mehrere Jahrzehnte keinen Kapitalismus hatten, frage ich die Anhänger der Occupy-Bewegung: Wohin soll’s gehen, könnt ihr mal kurz Antwort geben? Was ist euer Ziel?
Gilt das auch für das Aufkommen der Piraten?
Das ist ein sehr interessantes Phänomen und zwar aus einem speziellen Grund: Da wird aus einer Befindlichkeit politisch relevante Aktion. Da wollen Leute mitmachen, sie gründen eine Partei, sie nehmen teil an der Demokratie, indem sie sich in Parlamente wählen lassen. Darüber freue ich mich. Wir werden sehen, wann sie welche Antworten in den politischen Diskurs einbringen.
Interessiert Sie auch inhaltlich etwas an den Piraten, und was, glauben Sie, ist die Ursache für ihren Erfolg?
Ich sehe diese jüngere Generation als Teil einer Gesellschaft, die verunsichert ist durch die Komplexität der Welt des Politischen. Vieles ist nicht mehr durchschaubar. Und die Piraten benutzen dann die Mängel der Politiker, um an deren Beispiel scheinbar zu beweisen, dass zu viel faul ist im System. Sie reduzieren politische Aktion bis jetzt weitgehend auf ein Feld, in dem sie sich besonders gut auskennen, die Netzwelt. Da haben sie oftmals einen Expertise-Vorsprung vor der Mehrzahl der anderen politischen Akteure. Nun tun sie so, als sei ihre Beheimatung in diesem Element schon ein Wert an sich. Das ist mir aber zu wenig. Allerdings sehe ich, dass die neuen medialen Möglichkeiten in den unterdrückten Teilen der Welt eine außerordentlich wichtige Funktion haben. Was für neue Chancen! Allein die schnelle Weitergabe von Informationen ist ein mobilisierendes politisches Element. Der Arabische Frühling wäre ohne Twitter wohl nicht so erfolgreich gewesen. Ich hätte mir gewünscht, wir hätten das schon 1989 gehabt.
Fühlen Sie sich eigentlich als Ossi oder eher als Norddeutscher?
Meiner Sprache hört man die norddeutsche Prägung an, ich habe auch überlegt, ob ich mir das abtrainieren soll. Das habe ich aber gelassen. Im Gemüt bin ich sicher Ostdeutscher, im Kopf nicht.
Was heißt das?
Das heißt, dass ich mit all meinen Überzeugungen westlichen Werten verpflichtet bin. Ich gehöre dem Reich der Freiheit an.
Sie sind ein Sehnsuchts-Wessi.
Ich würde sagen: Das Ziel meiner Sehnsucht war der Westen. Aber eigentlich bin ich ein Sehnsuchts-Ossi. Meine Seele hat Narben und Erfahrungen, unglückliche und glückliche, die im Osten und durch den Osten entstanden sind, durch das Leben in politischer Ohnmacht und durch die Gegenstrategien, die ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen entwickelt hat.
Vermissen Sie auch etwas aus der DDR?
Als ich meine Lebenserinnerungen aufgeschrieben habe, 2009, habe ich mich gefragt: Woher kommt eigentlich manchmal diese merkwürdige Traurigkeit? Du bist doch angekommen. Du gehörst sozusagen mit dem ganzen befreiten Osten Europas zu den Siegern der Geschichte. Hatte ich etwas verloren? Die Antwort war: meine Sehnsucht. Solange man sich nach einem Ziel sehnt, sei es ein geliebter Mensch, sei es ein berufliches Ziel oder ein Ort, hat man eine unglaubliche Spannkraft, man lebt mit dieser Sehnsucht wie mit einem Zwilling. Und daraus erwachsen einerseits Hoffnungen, andererseits Verweigerungshaltungen. Wenn es gut geht, kommt man am ersehnten Ziel an. Man freut sich, genau da wollte man hin. Und dann kann es passieren, dass in der Seele eine leere Stelle ist. Die Freude kann nicht den ganzen Raum besetzen, den die Sehnsucht einnahm. Und dann kann es geschehen, dass man Sehnsucht nach der Sehnsucht hat.
Eine sehr poetische Antwort und sehr psychoanalytisch.
Finden Sie? Geschichte und Psychoanalyse sind auch zwei Themen, die mich immer interessiert haben. Aber ich will noch einen weiteren Punkt nennen, den ich vermisse. Es gab durch die Situation des Gemeinsam-unterdrückt-Werdens eine unglaubliche Intensität des Erlebens und der gemeinsamen Gegenkultur. Ob wir gemeinsam christlichen Glauben gelebt oder gesucht haben, Musik gemacht, Gedichte gelesen oder geschrieben oder den FKK-Strand an der Ostsee genossen haben, immer gab es das Gefühl, dass in allem eine Botschaft versteckt ist, eine besondere Bedeutung: Wir behaupten einen Freiraum gegen sie. Und später, als man dann auf einmal alles offen sagen konnte – mein Gott, wie banal! Bei uns war alles immer begleitet von einem trotzigen „Dennoch“ und einem mutigen „Aber“, und es kostete etwas – Karriere, Beruf, Heimat, zumindest Zugehörigkeit. Zu begreifen, dass das Leben in Freiheit auf eine einfache Weise Zugang zu den wesentlichen Dingen verschafft, hat auch etwas Entzauberndes. Freiheit, normal geworden, scheint dann ganz banal.
Bevor Sie das Amt angetreten haben, gab es hymnisches Lob, aber auch viel Häme, vor allem im Netz. Wie haben Sie das erlebt?
Ach, Internet ist nicht mein Medium, bei Twitter oder Facebook mache ich nicht mit. Das hängt vielleicht mit meinem Alter zusammen. Ich nutze das Netz allerdings, wenn ich Wissenslücken füllen möchte, und natürlich schreibe und empfange ich Mails.
Auch wenn Sie nicht twittern, gibt es keinen Bundespräsidenten vor Ihnen, über den man auch persönlich so viel erfahren hat wie über Sie, auch über Schwächen. Über den Spiegel weiß die Öffentlichkeit sogar, dass Sie zwei Therapien gemacht haben.
Das stimmt ja nicht ganz. Ende der 1980er Jahre habe ich als Pastor eine Weiterbildung im Fach Seelsorge und Psychologie mitgemacht. Ich habe mir dann einmal ganz bewusst eine Therapie gesucht, es war eigentlich mehr eine therapeutische Beratung. Durch so etwas kommt man natürlich auch dichter an sich selbst heran.
Ist die Preisgabe solcher Dinge, die andere für sich behalten, möglicherweise auch ein Gegenmittel, um die Heilserwartung, die an Sie geknüpft sind, ein bisschen aufzuweichen?
Vielleicht. Aber wissen Sie, ich kenne beides, meine Schwächen und meine Stärken. Und ich bin eigentlich nicht so schwach, dass ich meine Schwächen verstecken müsste. Ich möchte der Öffentlichkeit nicht ein Konstrukt von Leben vorstellen, sondern ich möchte ihr begegnen als der, der ich bin. Ein sorgfältig gebasteltes Konstrukt könnte nicht kommunizieren – und ich lebe von Kommunikation. Es ist besser, sich so weit wie möglich als der zu geben, der man ist.
Man kann dadurch aber auch in Teufels Küche kommen. Der Druck auf Politiker, Rede und Antwort zu stehen, und zwar schnell, ist größer geworden. Haben Sie das Gefühl, dass die Öffentlichkeit, auch die Medien, gnadenlos geworden sind?
Erst einmal muss man sagen, dass wir in Deutschland nicht nur im finsteren Tal wandern, man kann sich in der Medienlandschaft sogar gelegentlich über Dinge freuen. Im Ganzen gibt es sicher durch die Dominanz der elektronischen Medien eine Verkürzung von Informationen und eine Tendenz, Information und Unterhaltung zu mischen. Es gibt einen Hang zur Infantilisierung, auch das hängt mit dem Bedürfnis zusammen, Politik mundgerecht zu verabreichen. Und dann gibt es zwei Sorten von kritischem Journalismus, die ich nicht mag. Der eine ist einfach nur zynisch, und der andere folgt einem sportlichen Ehrgeiz: Ich will der Gewinner sein.
Also jemanden wegschreiben?
Das auch. Ich will derjenige sein, der dank eines Mediums über Macht verfügt, der erhöhen und erniedrigen kann. Ich will der sein, der das Wild erlegt. Ich kann das sogar verstehen, besonders aus der Männerwelt ist das Konkurrenzprinzip nicht wegzudenken. Nun haben wir aber Normen, Werte und auch Institutionen im Journalismus, die dafür sorgen, dass Berichterstattung zugespitzt sein kann, aber trotzdem fair sein muss. Das Problem ist: Der Wettbewerb um Aufmerksamkeit belohnt nicht immer die Fairness, sondern allzu oft den Sieg.
Hatten Sie eigentlich gelegentlich Mitleid mit Ihrem Vorgänger Christian Wulff?
Es war schön zu sehen, wie da zu Beginn der Amtszeit ein junges, begabtes Paar auf diese neue Aufgabe zugegangen ist. Und dann gab es dieses Bündel von Ursache und Wirkung oder von problematischem Krisenmanagement, und alles hat so zusammengewirkt, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt abzusehen war, es würde nicht gut gehen. Je nach Neigung konnte man dann „Hurra“ schreien, oder es erfasste einen eben ein – lassen Sie es mich ruhig auch sagen – christliches Mitgefühl, das völlig unabhängig ist von einem politischen Urteil.
Den Satz Ihres Vorgängers, „Der Islam gehört zu Deutschland“, haben Sie bislang nicht übernommen.
Nein, aber seine Intention nehme ich an. Die Absicht war die, zu sagen: Leute, bitte einmal tief durchatmen und sich der Wirklichkeit öffnen. Und die Wirklichkeit ist, dass in diesem Lande viele Muslime leben.
Wie hätten Sie den Satz formuliert, haben Sie sich das gefragt?
Ich hätte einfach gesagt, die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland. Ich habe in meiner Antrittsrede von der Gemeinsamkeit der Verschiedenen gesprochen. Dahinter steckt eine Vorstellung von Beheimatung nicht durch Geburt, sondern der Bejahung des Ortes und der Normen, die an diesem Ort gelten. Jeder, der hierhergekommen ist und nicht nur Steuern bezahlt, sondern auch hier gerne ist, auch weil er hier Rechte und Freiheiten hat, die er dort, wo er herkommt, nicht hat, der gehört zu uns, solange er diese Grundlagen nicht negiert. Deshalb sind Ein-Satz-Formulierungen über Zugehörigkeit immer problematisch, erst recht, wenn es um so heikle Dinge geht wie Religion. Da kann ich diejenigen eben auch verstehen, die fragen: Wo hat denn der Islam dieses Europa geprägt, hat er die Aufklärung erlebt, gar eine Reformation? Dafür habe ich Verständnis, solange das keinen rassistischen Unterton hat. Ich bin hoch gespannt auf den theologischen Diskurs innerhalb eines europäischen Islam. Ich begrüße, dass in diesem Lande Lehrstühle für Islamwissenschaften geschaffen wurden und wir schon bald hier ausgebildete islamische Religionslehrer haben werden. So etwas kann einen Diskurs auf Augenhöhe nur befördern.
Wenn unser Interview erscheint, werden Sie gerade zurück sein von Ihrer Reise nach Israel. Fahren Sie dorthin auch mit einem Gefühl persönlicher Befangenheit, wenn Sie an Ihre Familiengeschichte denken?
Wenn es nur meine Familiengeschichte wäre! Aber ich bin ein Deutscher, und ich bin im Dritten Reich geboren, ich war fünf Jahre alt, als wir befreit wurden. Ich trage also keine persönliche Schuld, aber in mir sehr wohl ein verstörendes Wissen über diesen tiefen Fall einer doch wohl großen Kulturnation. Bei mir hat dieses tiefe Erschrecken eine frühe antitotalitäre Einstellung bewirkt und zu einem jugendlichen Philosemitismus geführt, den ich nie ganz losgeworden bin – das werden Sie in vielen protestantischen Familien finden.
Für Ihre Altersgenossen im Westen war die Schuld der Väter ein großes Thema. Ihre Eltern traten früh in die NSDAP ein, Ihr Vater war Oberleutnant bei der Marine. Haben Sie mit ihm über seine Rolle während der NS-Zeit gesprochen?
Aber selbstverständlich. Ich habe oft gesagt, dass ich im Westen ganz sicher Teil der 68er- Bewegung gewesen wäre. Meine Eltern haben mich nach dem Krieg zu einer nonkonformistischen Haltung gegen den Kommunismus erzogen. Manche idealisieren die frühe DDR als Hort des edlen Antifaschismus, aber es war stalinistischer Terror mit nur selektivem Antifaschismus. Es lag auf der Hand, dass die herrschenden Kommunisten keine „Guten“ waren. Die familiäre Situation nach der Verschleppung meines Vaters verstärkte das als Grundfigur meines Lebens. Doch eines Tages wurde mir nach dem Lesen solcher Bücher wie Der gelbe Stern klar, dass es eine noch stärker verstörende politische Wirklichkeit gab. Und da habe ich nachgefragt: Was hast du gemacht, Vater, was hast du gewählt? Mein Generalverdacht gegenüber allen erwachsenen Deutschen war so groß, dass ich wütend darüber war, dass er so wenig verstrickt war. Er war als Lehrer an einer Marineschule im damaligen Gotenhafen (Gdingen) eingesetzt und hat Maate in Mathematik und Nautik unterrichtet. Es ist wirklich paradox: Ich war wütend, weil sich meine Wut nicht gegen ihn als einen Täter richten konnte. Das kann aber wohl nur verstehen, wer sich mit der Psyche auskennt.
1951 wurde Ihr Vater von den Kommunisten in ein sibirisches Arbeitslager deportiert, dort blieb er vier Jahre. Kann man auf einen Vater wütend sein, dem selbst so viel Unrecht angetan wurde?
Als er zurückkam, war ich 15 Jahre alt, wir waren alle glücklich. Da hatte ich Mitleid mit ihm, er war ja tatsächlich ein Opfer, und er war ein unschuldiges Opfer. Die Auseinandersetzung mit ihm kam später, als ich 17, 18 Jahre alt war.
Es gibt den Satz des Historikers Raul Hilberg „in Deutschland ist der Holocaust Familiengeschichte“. Frau Merkel hat gesagt, das Existenzrecht Israels gehört zur deutschen Staatsräson. Was bedeutet dieser Satz eigentlich, wenn wir inzwischen Städte haben, Schulen, in denen über die Hälfte der Menschen einen Migrationshintergrund haben, für die also die Verbindung zwischen Familiengeschichte und Staatsräson gar nicht mehr existiert?
Dieser Satz von Frau Merkel kommt aus dem Herzen meiner Generation.
Was bedeutet er für die nächste Generation?
Er bedeutet letztlich womöglich eine Überforderung, vielleicht auch eine in ganz tiefen Schichten wurzelnde magische Beschwörung. Alles, was wir tun wollen, soll geleitet sein von dem Ziel, dass Israel als Heimstatt der Juden beschützt sein soll. Dieser Satz ist nicht nur aus der politischen Ratio geboren, sondern aus einer tiefen Zerknirschung. Es ist ein moralischer Appell an uns selber, bei dem ich sehr besorgt bin, ob wir die Größe dieses Anspruchs an uns selbst in politisches Handeln umzusetzen vermögen. Das kann sich ein Mensch meiner Generation nur wünschen. Nachfolgende Generationen der Deutschen werden schon weniger durch die Schuld ihrer Vorfahren belastet sein und trotzdem aufgrund der deutschen Geschichte eine besondere Verantwortung für Israel tragen. Die Familiengeschichten der Zuwanderer sind nicht mit der Schuld am Holocaust verknüpft. Aber als deutsche Staatsbürger sind sie Teil unseres Gemeinwesens. Auch sie stehen damit in einem historisch gewachsenen Verantwortungszusammenhang.
Für eine Schlussstrich-Debatte hätte ein Präsident Joachim Gauck niemals Verständnis?
Nein, das ist undenkbar. Aber einer Tendenz will ich auch nicht folgen: der Wandlung der Rezeption des Holocaust in eine quasi religiöse Dimension, in etwas Überwirkliches.
Sie bestehen darauf, dass diese Dimension von Bösheit vorstellbar ist?
Ja, sie ist vorstellbar, weil sie real war. Ich weiß nicht, ob uns mit einer Entrückung aus der Beschreibbarkeit genutzt wäre. Man kann das Böse dann nur noch verdammen, aber nicht mehr analysieren. Es war eben Menschenwerk, es ist nicht unbeschreibbar. Wir kennen Interessen, wir kennen Personen, wir kennen das System, das manchmal auch „ganz normale Menschen“ zu Unmenschen machte.
Sie sprechen oft vom „angstgetriebenen“ Deutschen, von einer „angstgeleiteten Politik“. Treffen Sie wirklich so viele ängstliche Menschen?
Zum Glück immer weniger. Da habe ich etwas gelernt, auch durch konkrete politische Erfahrungen der letzten Jahre. Ich habe in meinen Vorträgen immer Beispiele gesammelt, wie schnell das anspringt mit unserem Angsthaben: Vogelgrippe, BSE, Tsunami. Wenn Sie das vergleichen mit anderen Nationen um uns herum, werden Sie bei denselben Anlässen eine vergleichsweise geringe Neigung zu Angst oder gar Hysterie erkennen.
Wenn Sie an die anhaltende Euro-Krise denken, waren wir Deutsche schon fast britisch cool.
Richtig. Die Leute haben nicht panisch ihre Konten geräumt, sie haben auf ihre Regierung vertraut und erwarteten auch, dass sie entschlossen reagiert. Wie wir heute wissen, war das rational und hatte sogar etwas Optimistisches.
Aha, die Stimmung ist also besser als die Lage!
... die Leute merkten, jetzt geht es wirklich ans Eingemachte, jetzt müssen wir mal nüchtern bleiben. Angst haben wir offensichtlich eher dann, wenn wir sie uns leisten können, und nicht, wenn sie uns wirklich schadet, also Sachrationales verhindert. Das hat mich gefreut, da konnte ich meine Meinung über die generelle Ängstlichkeit modifizieren. In dem Zusammenhang möchte ich auch darauf verweisen, dass die Deutschen auf „Überfremdungsängste“ nicht reagiert haben wie einige Nachbarn und keine populistischen, fremdenfeindlichen Parteien in das nationale Parlament gewählt haben.
... wo inzwischen überall rechtspopulistische Bewegungen entstanden sind.
Genau, in urbanen Milieus in Rotterdam, Amsterdam oder Kopenhagen konnten rechte Parteien reüssieren. Und wo sind vergleichbare Parteien im Deutschen Bundestag? Da habe ich innerlich den Hut gezogen vor den meisten Deutschen. Ja, so kommt man dichter an sein eigenes Land. Es wäre mir bis 1990 nicht über die Lippen gekommen, dass ich stolz auf mein Land wäre – niemals, unvorstellbar! Doch wenn ich jetzt nach Israel komme, werde ich neben der Last unserer Schuld auch das Bewusstsein mitbringen, dass Deutschland sich Vertrauen erworben hat, dass es bewiesen hat, dass es vertrauenswürdig ist. Und so wie wir weiter zu Europa stehen, stehen wir weiter an der Seite Israels, wenn andere ihm das Existenzrecht absprechen.
Also ist da auch ein bisschen Stolz?
Puh. Ja. Dieser Stolz entsteht aus Dankbarkeit und Freude, und dann kann man ihn ertragen. Das ist so, wie wenn jemand ein gutes Spiel gemacht hat als Fußballer oder eine gute Arbeit abgeliefert, da gibt es dieses Gefühl: Das war jetzt richtig, das habe ich gut gemacht. Und in diesem aufgeklärten Maße ist der Begriff Stolz jetzt auch möglich in Bezug auf unsere Nation.
Herzlichen Dank, Herr Bundespräsident.
Das war mehr Gauck als Bundespräsident.
Die Fragen stellten Tina Hildebrandt und Giovanni di Lorenzo