Interview mit der polnischen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" anlässlich des Antrittsbesuchs in Polen

Schwerpunktthema: Interview

26. März 2012

Bundespräsident Joachim Gauck hat anlässlich seines Antrittsbesuchs in Polen der polnischen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" am 26. März 2012 ein Interview gegeben.

Bundespräsident Joachim Gauck


Herr Bundespräsident, einige Ihrer Vorgänger hatten starke Beziehungen zu Polen. Von keinem Bundespräsidenten haben wir aber so viele warme Wörter über uns gehört. Wo liegt die Quelle Ihrer Polenbegeisterung?

Ich kam spät nach Polen, erst Anfang der 1990er Jahre. Aber meine Affinität zu Polen war schon sehr viel früher da. Wie viele andere auch bewunderte ich den Mut und die Entschlossenheit, mit der sich die Menschen in Gdansk, Nowa Huta und in ganz Polen für ihre Freiheit und für ihre Rechte als Bürgerinnen und Bürger erhoben. Unsere friedliche Revolution in der DDR konnte auch deshalb erfolgreich sein weil unsere polnischen Nachbarn schon gezeigt hatten, dass man die Freiheit auch gegen die Übermacht eines kommunistischen Unterdrückungsapparates erstreiten kann. Und dann sind da die vielen Begegnungen mit wunderbaren Bekannten und Freunden wie Bodgan Borusewicz, Adam Michnik, Władysław Bartoszewski. Es ist diese bewundernswürdige Freiheits- und Demokratiegeschichte, die ich mit Polen verbinde - ich war am Grab von Jerzy Popieluszko, ich war im Museum des Warschauer Aufstands. Wann immer ich nach Polen komme, begegne ich diesen Traditionen und sie sind mir sehr nah.

Welches Bild von Polen hatten die Dissidenten in der DDR? War die polnische Wende von 1989 wirklich eine Inspiration für die deutsche Friedensrevolution? Was ist davon geblieben? Können die Deutschen von Polen noch lernen?

Einige von uns hatten schon in den 1970er-Jahren Kontakt zu Oppositionellen in Polen und anderen osteuropäischen Ländern. Das waren Kontakte in eher kleineren Zirkeln. Die waren wichtig und die begründeten eine gemeinsame osteuropäische Demokratietradition. Aber erst die Bilder von der Lenin-Werft in Gdansk und von der Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft machten in ihrer ganzen Wucht und in ihrer unglaublichen Symbolik deutlich, dass es wirklich gelingen kann, eine kommunistische Diktatur zu besiegen. Auch wenn es dann noch weitere Jahre dauern sollte, so war nach 1980 ein Prozess der Ermutigung in Gang gekommen, der sich nicht mehr rückgängig machen ließ und der uns zu unserer friedlichen Revolution ermutigte.

Heute begegnen sich Polen und Deutsche als freie Bürger eines zusammenrückenden Europas, in dem Freiheit und Grundrechte aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken sind. Es gibt Dinge, die zwischen unseren Ländern diskutiert werden. Und auch in den Gremien der EU sind Polen und Deutsche nicht immer einer Meinung. Aber der wechselseitige Respekt vor den Leistungen unserer Völker bestimmt unseren Umgang und Ressentiments geraten zunehmend in den Hintergrund. Auf diesem Weg sollten Polen und Deutsche weiter gehen.

Wir sind 22 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhanges und acht Jahre nach der EU-Osterweiterung, also ein guter Zeitpunkt um eine Bilanz zu ziehen. Was könnte besser in Deutschland, Polen, Europa gemacht werden? Wo liegen die Defizite?

Die vergangenen 22 Jahre waren für unsere beiden Länder und die gegenseitigen Beziehungen vor allen Dingen eine Erfolgsgeschichte. Dass Deutschland und Polen Partner, ja Freunde sein könnten, ist nach den Verbrechen, die an Polen von Deutschen unter dem Nationalsozialismus begangen wurden, keinesfalls selbstverständlich.

Heute ist es ganz alltäglich, dass sich unsere Parlamente und Regierungen eng miteinander abstimmen. Die Regionen arbeiten intensiv zusammen. Wir haben ein dichtes Netz kultureller und zivilgesellschaftlicher Partnerschaften, Kooperationen in Wissenschaft und Hochschulbereich und einen regen Austausch zwischen Jugendlichen und Schülern unserer beiden Länder geknüpft. Immer festere Bande verbinden uns. Polen verstehen auch, warum mir und vielen Anderen das Freiheitsthema und die Kritik am totalitären System sowjetischer Prägung so wichtig sind.

Die Tatsache, dass der Bundespräsident ein ausdrücklicher Freund Polens ist, beweist, dass die deutsch-polnischen Beziehungen so gut sind wie nie in der Geschichte. Besteht Ihrer Meinung nach nicht die Gefahr, dass wir uns wieder so heftig wie vor sechs Jahren streiten werden? Die Liste der potenziellen Streitpunkte ist lang: von den Eigentumsansprüchen der Vertriebenen bis zu Kernkraftwerken, die die polnische Regierung gegen die deutschen Nachbarn bauen will.

Am wenigsten kontrovers ist das von Ihnen angesprochene Problem der Eigentumsansprüche. Nur wenige Einzelpersonen stellen Eigentumsansprüche. Für die große Mehrheit der Deutschen ist das überhaupt kein Thema. Über andere Punkte, die Sie ansprechen, wird in der Tat diskutiert – zum Teil auch kontrovers. Gerade dies sehe ich aber als Zeichen einer vielleicht noch ungewohnten Normalität zwischen Nachbarn und Partnern: Wo man sich miteinander auseinandersetzt, auch aneinander reibt, hat man Interesse aneinander, findet Austausch statt, bekennt man sich dazu, dass man gemeinsam Lösungen für die unsere Gesellschaften bewegenden Fragen finden muss. Wichtig ist, diesen Austausch sachlich und konstruktiv und auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens zu führen, und dieses Vertrauen sehe ich mehr und mehr wachsen. Gemeinsam mit Präsident Komorowski will ich dazu beitragen, dass es noch weiter gefestigt wird.

Sie übernehmen das Amt in der Zeit der so schweren Krise. In Europa gibt es viel Zweifeln ob die gesamte EU-Konstruktion diese Turbulenzen überstehen wird. Ist diese Angst gerechtfertigt?

Angst und Zweifel müssen wir ernst nehmen, aber sie dürfen uns nicht leiten. Wir müssen uns wieder viel stärker daran erinnern, was wir in Europa erreicht haben. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mit zwei Weltkriegen und zwei mörderischen Ideologien war von großer Gewalt gekennzeichnet. Seit mehr als 60 Jahren leben wir in Europa in Frieden miteinander. Seit 20 Jahren erfreut sich fast ganz Europa der Freiheit. Nutzen wir diese Freiheit dazu, für uns selbst und für unsere Kinder und Enkel dieses Erbe zu bewahren und an die wachsenden Herausforderungen anzupassen.

Wie erfolgreich sind Ihrer Meinung nach die Rezepte, die Deutschland gegen die Krise in der EU durchsetzen will, also das rigoristische Sparen. In Südeuropa lehnt man sie völlig ab und verbrennt während der Demonstrationen deutsche Fahnen.

Ich plädiere sehr dafür, die europäische Idee zu bewahren. Das europäische Miteinander ist aber ohne Solidarität nicht gestaltbar. Deshalb begrüße ich es, dass sich Europa der gemeinsamen Aufgabe soliden Haushaltens und Wirtschaftens mit neuem Verantwortungsbewusstsein stellt. Europa kann seine Wettbewerbsfähigkeit aber nur stärken und bessere Voraussetzungen für Wachstum schaffen, wenn es belastbare Vereinbarungen gibt, die von allen akzeptiert und eingehalten werden. 25 EU-Staaten haben gemeinsam den Fiskalpakt beschlossen. Diese Politik wird uns weiter führen, den Euro stärken und Europas Stellung in der Welt sichern helfen. Gerade in der Krise heißt es deshalb: Wir wollen mehr Europa wagen.

Im November 2011 hat der polnische Außenminister Sikorski in Berlin eine Vision der Vereinigten Staaten Europas vorgestellt. Finden Sie diese Idee richtig und in der Zukunft machbar?

Der unbeirrbare Glaube der Polen und der polnischen Regierung an Europa war für mich immer beispielhaft. Aber die Zukunft Europas gilt es weiterzuentwickeln und zu präzisieren. Gerade in krisenhaften Zeiten wie diesen brauchen wir neue Debatten. Deshalb ist es gut, dass Außenminister Sikorski und andere dieser Debatte erneut einen Impuls gegeben haben. Wir brauchen gute Ideen und eine breite gesellschaftliche Diskussion darüber, wie wir in Zukunft in unserem Europa leben wollen.

Durch die Krise in vielen Ländern Europas, sowohl im Osten wie auch im Westen, haben die populistischen Parteien an Zustimmung gewonnen. Wie soll man dagegen wirken?

In der Tat kann es uns nicht egal sein, wenn demokratiefeindliche Ideologen versuchen, sich Gehör und Hegemonie zu verschaffen. Das zeigt, dass die Freiheit und das friedliche Zusammenleben keine Selbstverständlichkeiten sind. Sie müssen erkämpft und täglich verteidigt werden. Überall da, wo Nationalisten, Fundamentalisten und Terroristen versuchen, unsere demokratischen Errungenschaften zu gefährden, wo die Würde des Menschen angetastet wird, müssen wir Demokraten uns mit zivilgesellschaftlichem Engagement und Bürgersinn entgegen stellen. Das beginnt am Arbeitsplatz, an der Schule und geht bis in die Foren im Internet. Wir werden dieses freiheitliche, friedliche und solidarische Europa nicht seinen Feinden überlassen.

Trotzt aller Bemühungen wie z. B. der Östlichen Partnerschaft, gibt es an Europas Ostgrenze ständig eine Grauzone, wo Freiheit und Menschenrechte regelmäßig misshandelt werden. In Belarus knechtet das Regime alle Andersdenkende, in der Ukraine sitzen die ehemalige Ministerpräsidentin und der ehemalige Innenminister nach Scheinprozessen im Gefängnis. Es gibt auch viele Gründe zu zweifeln, dass die Präsidentschaftswahlen in Russland gerecht waren. Kann Europa noch etwas für seine Ostnachbarn tun, um dort Demokratie und Menschenrechte zu stiften, oder sollen wir einfach annehmen, dass wir in diesem Feld gescheitert sind?

Selbstverständlich müssen wir etwas tun, denn es geht ja um die Menschen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, mit denen uns eine gemeinsame europäische Kultur und eine gemeinsame, wenn auch nicht immer einfache Geschichte verbinden. Das Verlangen nach Freiheit, nach mehr Teilhabe, nach Bürgerrechten ist universell. Deshalb appellieren die Europäer an die ukrainische Regierung, Rechtsstaatlichkeit, eine unabhängige Justiz und freie und faire Verfahren sicherzustellen. Und deshalb müssen wir gegenüber den Verantwortlichen in Minsk die Freilassung und Rehabilitierung aller politischen Gefangenen und die Einstellung aller Repressionsmaßnahmen gegen Opposition, Zivilgesellschaft und unabhängige Medien ansprechen. Die besondere Sensibilität der polnischen Öffentlichkeit auf die Vorgänge bei ihren östlichen Nachbarn sollten wir uns noch stärker zunutze machen.

Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Überwindung der Teilung Europas in zwei Blöcke geht es doch heute um die Schaffung eines gesamteuropäischen Raumes der Freiheit, der Sicherheit, des Rechts und des Wohlstandes. Daran wollen wir gemeinsam auch im Rahmen der Östlichen Partnerschaft der Europäischen Union weiterarbeiten.

Denn dort, wo die universellen Werte der Freiheit geachtet werden, können Menschen ihre Kreativität und Kraft für die Gemeinschaft voll entfalten. Dies haben gerade in diesen Wochen die Demonstranten in Moskau und anderen russischen Städten wieder sehr eindrucksvoll gezeigt. Wir hoffen, dass Russland diesen Wunsch nach politischer Teilhabe als Chance begreift und den Forderungen der Bürger aufgeschlossen begegnet.

Die Fragen stellte Bartosz T. Wieliński.