Interview von Bundespräsident Horst Köhler mit der Freien Presse Chemnitz. Die Fragen stellte Peter Koard.

Schwerpunktthema: Interview

Chemnitz, , 1. Dezember 2007

Porträt Bundespräsident Horst Köhler

Freie Presse:In ihrem Bericht zum Stand der Deutschen Einheit hat die Bundesregierung jüngst prognostiziert, dass die Erwerbslosigkeit auch im kommenden Jahr im Osten doppelt so hoch wie im Westen bleiben wird und sich die Abwanderung junger gut ausgebildeter Ostdeutscher fortsetzt. Was läuft falsch im Osten?

Horst Köhler:Es läuft weit mehr richtig als falsch. Der Bericht zum Stand der Deutschen Einheit verdeutlicht dies auch in Zahlen: So lag das Wachstum im vergangenen Jahr in Ostdeutschland mit 3 Prozent höher als in Westdeutschland. Das ist der größte Zuwachs seit Mitte der 90er Jahre. Wichtige Forschungseinrichtungen und moderne Industrien wie der Fahrzeugbau oder Ausrüstungen zur Nutzung erneuerbarer Energien haben Fuß gefasst. Die Zahl der Arbeitslosen ist gegenüber dem Vorjahr um rund 180.000 zurückgegangen. Diese Entwicklung sollte uns Mut machen, und sie ist zuallererst das Verdienst der Menschen selbst. Mit Intelligenz, Kreativität und Tatkraft haben sie sich den Veränderungen gestellt. Dafür ist Chemnitz mit seinen zahlreichen mittelständischen Unternehmen das beste Beispiel. Der Angleichungsprozess zwischen Ost und West kommt also voran. Wir müssen ihn aber weiter unterstützen.

Freie Presse:Welchen Eindruck haben Sie von den Ostdeutschen?

Horst Köhler:Immer wieder stoße ich auf Leute mit unglaublich viel Tatendrang und Schaffenskraft. Da ziehe ich den Hut. Es gibt viele Erfolgsgeschichten, und ich frage mich oft, warum wir ihnen nicht mehr Aufmerksamkeit widmen. Die Menschen haben sich nicht unterkriegen lassen, und sie haben nach der friedlichen Revolution von 1989 und dem damit verbundenen Umbruch mit Ideen und Einsatz ein neues Leben gestaltet. Davon wird im Westen nicht genug erzählt.

Freie Presse:Wurde sich zu wenig gegenseitig erzählt?

Horst Köhler:Im Wiedervereinigungsprozess ist den Ostdeutschen nicht immer der Respekt entgegengebracht worden, den sie für ihre großen Leistungen bei der Neuorientierung und beim Neuaufbau seit 1990 verdienen. Der Zusammenbruch der SED-Diktatur brachte für jeden DDR-Bürger auch Brüche in der eigenen Biografie, und Zwänge, sich umzustellen. Das alles zu bewältigen und das Neue kraftvoll mitzugestalten, das ist eine Anstrengung, die einen stolz machen kann. So etwas ist, bei allem Wandel auch im Westen, von den Westdeutschen nie verlangt worden.

Freie Presse:Oft wird das als Ostalgie kritisiert.

Horst Köhler:Auch die Menschen in der früheren DDR haben hart gearbeitet, etwas geleistet und ihre Kraft eingesetzt. Das anzuerkennen, heißt keineswegs, die Diktatur zu verklären, und ich will auch niemanden reinwaschen, der sich in Schuld verstrickt hat. Doch die Radikalität des Umbruchs hat natürlich zu Verunsicherung geführt, und vielleicht auch dazu, dass man nur noch wenig der falschen Wahrnehmung von außen entgegensetzen konnte: Da war alles schlecht. Heute müssen wir lernen, die Lebensleistung der Menschen auch zu DDR-Zeiten mehr zu würdigen, ohne die dunklen Seiten des Regimes auszublenden. Das haben alle verdient, die sich nichts zuschulden kommen ließen. Kein Verständnis habe ich allerdings für ehemalige Funktionäre, die noch heute von den offenkundigen Verbrechen der SED-Diktatur nichts wissen wollen.

Freie Presse:Eine Umfrage bei Schülern in Ost und West hat ergeben, dass das Wissen über die Teilungsgeschichte außerordentlich dürftig ist. Vor allem die Erinnerungen an die DDR verklären sich. Beschäftigen wir uns zu wenig mit unserer gemeinsamen Vergangenheit?

Horst Köhler:Ich meine: ja. Dabei gibt es vieles, worauf wir stolz sein können, und manches, wofür wir uns schämen sollten. Beides müssen wir sehen. Ich finde, weder die SED-Diktatur noch das Leid und die menschliche Größe derjenigen, die sich mit der Unfreiheit nicht abfinden wollten, dürfen in Vergessenheit geraten. Die Erinnerung daran kann uns Kraft geben. Das gilt auch für die unbequemen Erinnerungen. Hier versuche ich, einen kleinen Beitrag zu leisten: Gemeinsam mit der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur habe ich eine Gesprächsrunde ins Leben gerufen, in der Menschen, die sich in der DDR für Demokratie und Bürgerrechte eingesetzt haben, Schülerinnen und Schülern über ihre Erlebnisse berichten und mit ihnen darüber diskutieren.

Freie Presse:Es wird von allen politischen Parteien beklagt, dass noch zu wenige Menschen vom Aufschwung profitieren. Auch Sie haben in der letzten Berliner Rede festgestellt, dass die Ungleichheit der Einkommensverteilung zugenommen hat. Sind Steigerungsraten von Vorstandsgehältern zwischen 60 und 70 Prozent wie bei der Bahn und minimale Lohnanhebungen bei den Beschäftigten noch erklärbar?

Horst Köhler:Hier sind aufmerksame Aufsichtsräte und Aktionäre gefragt, denn auch Vorstände entscheiden nicht selbst über ihre Bezüge. Ich rate zu einer Kultur der Mäßigung. An einer wachsenden Entfremdung zwischen Wirtschaft und Gesellschaft kann uns nicht gelegen sein. Manche Wirtschaftsvertreter müssen noch viel stärker beachten, dass ihr Verhalten Auswirkungen auf den Zusammenhalt der Gesellschaft hat, weil sie - wie wir alle - ein gutes oder ein schlechtes Beispiel geben können. Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang auch die Beteiligung der Arbeitnehmer an den Gewinnen und dem Vermögen der Unternehmen. Ein Investivlohn ermöglicht den Arbeitnehmern nicht nur die Teilhabe am Unternehmenserfolg; er stärkt auch ihre Identifikation mit ihrem Arbeitsplatz. Und davon profitieren alle.

Freie Presse:Ist mit der SPD-Ankündigung, das Ende der Zumutungen einzuleiten, auch die Reformbereitschaft zu Ende, und was würde das für den Standort Deutschland bedeuten?

Horst Köhler:Wir haben in den vergangenen Jahren in Deutschland durch gemeinsame Anstrengung viel erreicht: Die Wirtschaft wächst wieder, die Arbeitslosigkeit sinkt, und die Neuverschuldung der öffentlichen Hand ist zurückgegangen. Auf diese Erfolge können wir stolz sein. Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass immer noch viel zu tun bleibt. In unserem Land sind nach wie vor 3,4 Millionen Menschen ohne Arbeit, und davon sind obendrein viel zu viele Langzeitarbeitslose. Arbeit zu schaffen, bleibt deshalb die wichtigste Aufgabe in Deutschland. Ich sehe keinen Grund, die Reformen für abgeschlossen zu erklären. Wenn wir an das Thema Alterung unserer Gesellschaft und Pflegeversicherung denken, erkennen wir, dass noch einige Arbeit vor uns liegt, um die Sozialsysteme ausreichend wetterfest zu machen.