Demokratie beginnt in den Kommunen, damals wie heute. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Barbarei begann der demokratische Wiederaufbau unseres Landes in den Städten, Gemeinden und Landkreisen. Hier lernten die Deutschen nach den Jahren der Diktatur, wieder Eigenverantwortung zu übernehmen, ihre Meinung frei zu äußern und Kompromisse zwischen widerstreitenden Interessen zu finden. Hier erschienen die ersten Zeitungen, hier wurden Parteien gegründet und die ersten Volksvertretungen gewählt. Unsere Demokratie begann nicht mit Präsidenten oder Kanzlern, sondern mit Gemeinderäten und Stadtverordneten, mit Bürgermeistern und Landräten.
Der 75. Geburtstag unseres Grundgesetzes - seit fast 34 Jahren gilt es für ganz Deutschland -, erinnert uns daran, dass die kommunale Selbstverwaltung nicht nur ein Instrument effizienter Staatsorganisation ist, sondern das Fundament unserer Demokratie. Gesellschaftliche Konflikte und Herausforderungen unserer Zeit erfahren wir direkt vor der eigenen Haustür: Eine moderne Infrastruktur für Wachstum und Wohlstand schaffen, die Energiewende gestalten, Geflüchtete menschenwürdig unterbringen, die Digitalisierung vorantreiben, umweltverträgliche Mobilität in Metropolen und ländlichen Räumen sicherstellen, Kinderbetreuung für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf anbieten – es sind die Kommunen, die die Transformationen unserer Zeit stemmen. Bund und Länder müssen sie dabei unterstützen und dürfen sie nicht überfordern. Schon bei der Schaffung des Grundgesetzes stand die Forderung im Raum, nicht nur die kommunale Selbstverwaltung in der Verfassung zu verankern, sondern gleichzeitig festzulegen, dass neue Aufgaben den Kommunen nur zusammen mit den notwendigen finanziellen Mitteln übertragen werden dürfen. Ein Anliegen, das seither nicht an Bedeutung verloren hat, denn lokale Eigenverantwortung braucht eigene Gestaltungsspielräume.
Seit zwei Jahren verlege ich meinen Amtssitz regelmäßig für einige Tage von Berlin in eine Kleinstadt. Bei diesen "Ortszeiten“ spüre ich, dass trotz Internet und Social Media das gesellschaftliche Klima im Land nach wie vor stark in den Kommunen geprägt wird. Gelingt dort der Dialog trotz Meinungsverschiedenheiten? Kommt es zu Kompromissen oder beharrt jeder auf seinen Maximalpositionen? Immer wieder treffe ich bei diesen Reisen auf großartige Beispiele, wie Polarisierung und Sprachlosigkeit überwunden werden können, zum Beispiel im thüringischen Meiningen. Dort diskutieren seit der Corona-Pandemie beim Stadtgespräch regelmäßig Hunderte Bürgerinnen und Bürger kontrovers, aber respektvoll miteinander.
Die Erfahrungen, die Menschen in ihrer Gemeinde mit Politik und Verwaltung machen, können ihre Einstellung zu Staat und Demokratie ein Leben lang prägen, das ist jedenfalls meine persönliche Erfahrung. In dem lippischen Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, haben wir Jugendlichen uns einst ein Herz gefasst, sind zum Bürgermeister gegangen und haben ihn davon überzeugt, dass die jungen Leute einen eigenen Ort brauchen, um sich zu treffen. Wir hatten Erfolg, und noch heute gibt es den Jugendraum in der ehemaligen Schule in Brakelsiek. Es war auch diese persönliche Erfahrung von "Selbstwirksamkeit“, die in mir eine Begeisterung für Politik und die Mitwirkungsmöglichkeiten unserer Demokratie geweckt hat, die bis heute anhält.
Natürlich geht es nicht nur darum, eigene Interessen durchzusetzen. Immer wieder müssen in der Kommunalpolitik unterschiedliche Belange verhandelt und ausgeglichen werden. Hunderttausende Menschen opfern dafür Woche für Woche viel Zeit und Kraft, diskutieren und entscheiden in Gemeinderäten und Kreistagen und übernehmen damit politische Verantwortung für ihre Heimat. Ich habe großen Respekt vor allen, die sich ehrenamtlich in der Kommunalpolitik engagieren. Aber unsere Art der demokratischen Selbstbestimmung wird immer häufiger angegriffen. Extremisten vergiften mit ihrem Hass die demokratische Streitkultur und bereiten den Nährboden für Beleidigungen, Drohungen und Gewalt. Ich bleibe dabei: Gemeinderäte und Bürgermeister sind kein Freiwild und keine Fußabtreter für Frustrierte. Wenn Sitzungen gesprengt, Parteiversammlungen verhindert oder Amts- und Mandatsträger bedroht und eingeschüchtert werden sollen, dann ist das ein Angriff auf unsere Demokratie. Dann müssen alle Demokratinnen und Demokraten, unabhängig davon, was sie sonst politisch trennt, dagegen geschlossen auftreten und gemeinsam an der Seite der Bedrängten stehen.
35 Jahre nach der Friedlichen Revolution in Ostdeutschland, 75 Jahre nach der Schaffung des Grundgesetzes sind die Gemeinden, Städte und Landkreise das feste Fundament, auf dem das Gebäude unserer Demokratie steht. Wirtschaftswunder und Wiedervereinigung, sanierte Städte und saubere Flüsse, Traditionspflege und Weltoffenheit: Wir können so viel in Deutschland, haben so viel erreicht und schon so viele Krisen erfolgreich gemeistert. Mag uns heute der Wind auch stärker ins Gesicht wehen, für Hadern und Kleinmut besteht kein Anlass. Im Gegenteil, mit starken und selbstbewussten Kommunen ist Deutschland eine gute Zukunft gewiss.