"Keine mildernden Umstände"

Schwerpunktthema: Zeitungsbeitrag

9. August 2023

Bundespräsident Steinmeier hat aus Anlass des 75. Jahrestages des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee einen Beitrag in der Onlineausgabe des Magazins Der Spiegel verfasst, der am 9. August erschienen ist: "Eine Demokratie muss wehrhaft sein gegen ihre Feinde [...] Kein mündiger Wähler kann sich auf mildernde Umstände herausreden, wenn er sehenden Auges politische Kräfte stärkt, die zur Verrohung unserer Gesellschaft und zur Aushöhlung der freiheitlichen Demokratie beitragen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seinem Arbeitszimmer (Archivbild)

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat aus Anlass des 75. Jahrestages des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee einen Beitrag in der Onlineausgabe des Magazins Der Spiegel verfasst, der dort am 9. August unter dem Titel Eine Demokratie muss wehrhaft sein erschienen ist:

Herrenchiemsee ist ein Sehnsuchtsort für alle, die das Alpenvorland mit seiner Landschaft, seinen Schlössern und Seen lieben, aber auf dieser kleinen Insel ist auch große Verfassungsgeschichte geschrieben worden. Der Konvent von Herrenchiemsee hat vor 75 Jahren die Vorarbeit für das Grundgesetz geleistet. Hier wurden die Weichen gestellt, damit wir in unserem Staat in Freiheit, Demokratie und Recht zusammenleben. Seit 33 Jahren gilt das für das gesamte vereinigte Deutschland. Dafür können wir dankbar sein, aber wir wissen auch, dass wir Freiheit und Demokratie heute erneut verteidigen müssen. Unsere Verfassung hat nicht nur Freunde, sie hat auch Feinde. Dieser Jahrestag fordert also Wachsamkeit und Bereitschaft zum Streit.

Das Fundament unserer Verfassung sind die Grundrechte. Dazu gehören ganz zentral die Freiheit der Meinung, der Presse; die Freiheit, sich zu versammeln und Vereinigungen, auch Verbände und Parteien, zu bilden; die Freiheit der Kunst, der Wissenschaft, auch des Glaubens. Freiheit der Rede und Freiheit der Widerrede, meine Freiheit und die des anderen. Diese Freiheit ist der grundsätzliche Gegenentwurf zum Nationalsozialismus, aber auch zum Stalinismus. Ein antitotalitärer Grundkonsens prägt das Grundgesetz.

Die Deutschen wollten 1945 mit dem Bewusstsein der Besiegten erst einmal vor allem überleben. In Ost und West arrangierte man sich mit neuen Ordnungen, die vor allem eines nicht waren: Sie waren kein Krieg, und damit ließ sich erst einmal leben. Mit der DDR entstand eine neue Diktatur, vor der Hunderttausende flohen, bevor die Mauer errichtet wurde. Das Grundgesetz hingegen schuf vor 75 Jahren im Westen und seit 33 Jahren im vereinten Deutschland einen Freiraum der politischen Selbstaufklärung. 1945 erfolgte die Befreiung vom NS-Regime durch die Alliierten. In der Zeit seither haben sich die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik von dem verhängnisvollen autoritären, nationalistischen Erbe selbst befreit und sind nüchterne, vorsichtige Verfassungspatrioten geworden.

Im Laufe der Jahrzehnte hat diese Gesellschaft viele, auch harte Konflikte ausgetragen. Der Streit um die Wiederbewaffnung, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, Studentenrevolte, Linksterrorismus, Friedensbewegung, im geeinten Deutschland dann Asylrecht, Atomausstieg, Sozial- und Wirtschaftsreformen oder europäisches Krisenmanagement – es wurde hart miteinander gestritten, und es wurden heiß umkämpfte Beschlüsse gefasst. Aber der freiheitlich-demokratische Staat hat sich immer behauptet. Das ist möglich gewesen, weil die Spielregeln der Verfassung nicht nur eingehalten wurden, sondern auch akzeptiert waren. Zu diesen Spielregeln gehört, dass wir anderer Meinung sein können, dass wir einander nicht zu mögen brauchen, dass wir die Vorstellungen von anderen vehement ablehnen können – aber dass wir all das auch jedem anderen zubilligen müssen. Was das Volk will, darüber befindet keine Ideologie oder Mythologie, sondern der Mehrheitsbeschluss des frei gewählten Parlaments.

Auch wer sich im Namen einer gefühlten, schweigenden oder eigentlichen Mehrheit zu Wort meldet, muss es ertragen, dass er in der Minderheit ist. Die repräsentative Demokratie gibt einer frei gewählten Mehrheit Gestaltungsmöglichkeiten auf Zeit. Die so legitimierten Regierungen wiederum müssen ein Eigeninteresse haben, sich der Rückbindung zum Volk zu vergewissern. Wie weit das gelingt, darauf gibt der jeweils nächste Wahltag die Antwort.

Unser Grundgesetz verträgt harte und härteste Auseinandersetzungen. Verfassungsfeinde jedoch kann es nicht integrieren – und wir dürfen die Gefahr, die von ihnen ausgeht, nicht ignorieren. Politische Gegnerschaft ist eines, Verfassungsfeindschaft etwas ganz anderes.

Was ist also zu tun? Im Kampf gegen den Extremismus gibt es eine historische Lehre, die sich wie ein roter Faden durch den Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee zieht – und die bis heute gilt: Eine Demokratie muss wehrhaft sein gegen ihre Feinde. Niemals wieder sollen demokratische Freiheitsrechte missbraucht werden, um Freiheit und Demokratie abzuschaffen. Robust und wehrhaft schon im politischen Alltag zu sein, heißt zuerst, den Willen zum politischen Widerspruch zu beweisen und die auftrumpfenden Lügen von Freiheitsfeinden nicht mit Schweigen oder Beschwichtigungen hinzunehmen und dadurch noch zu ermutigen. Klarer, entschiedener, ja kämpferischer Widerspruch der demokratischen Parteien ist zum Beispiel immer dann gefordert, wenn Agitatoren in einer kommunalen Versammlung unsere Demokratie als System, Unrechtsregime oder Diktatur verunglimpfen und ihre Beseitigung fordern.

Wo in unseren Kommunen Menschenverachtung und Gewaltrechtfertigung um sich greifen, da wird eine bedeutende Grenze verletzt. Es ist die Grenze, hinter der Inhumanität, Herzenskälte, menschenfeindlicher Hass beginnen. Wo eine rohe, gewaltbereite Bürgerlichkeit den Ton bestimmt und andere zum Schweigen bringt, wird die Achtung der Menschenwürde aller berührt, die unsere Verfassung der Politik zugrunde legt.

Kein mündiger Wähler kann sich auf mildernde Umstände herausreden, wenn er sehenden Auges politische Kräfte stärkt, die zur Verrohung unserer Gesellschaft und zur Aushöhlung der freiheitlichen Demokratie beitragen. Wie jemand seinem Unmut, seiner Enttäuschung oder seinem Protest Ausdruck gibt, darauf kommt es an. Kritik und Opposition bringen uns bei der Lösung von Problemen weiter und sind eine Säule der Demokratie. Extremismus und Verfassungsfeindschaft zerstören sie. Diese Unterscheidung treffen zu können, ist jedem Menschen zuzumuten – am Stammtisch, in den sozialen Medien ebenso wie an der Wahlurne.

Wir haben es also selbst in der Hand, die Verächter unserer Demokratie in die Schranken zu weisen. Und wir alle – jede Politikerin und jeder Politiker, jede Bürgerin und jeder Bürger –, wir haben eine gemeinsame Verantwortung. Wir genießen in diesem Land viele Rechte, doch gerade deshalb haben wir auch eine besonders ernste Pflicht: Freiheit und Demokratie, die vor 75 Jahren im Konvent von Herrenchiemsee als Antwort auf Diktatur, Krieg und Völkermord entstanden sind, müssen wir mit Mut und Entschlossenheit gegen ihre Feinde verteidigen.

Die Unantastbarkeit der Menschenwürde und das Demokratieprinzip sind durch die Verfassung selbst jeder Abschaffung entzogen. Recht und Gesetz sind in Kraft. Aber politisch müssen wir uns immer im Klaren sein: Unsere Verfassung verliert ihre Gültigkeit an dem Tag, an dem sie uns gleichgültig wird. Wir Bürgerinnen und Bürger leben und schützen, verwirklichen und entfalten sie. Wenn wir das tun, bleibt unsere Verfassung spürbar und stark, und unsere Demokratie wird leben.