Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat einen Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zur sozialen Pflichtzeit verfasst, der unter dem Titel Steinmeier: Pflichtzeit festigt die Demokratie
am 26. Mai erschienen ist:
Vor etwa einem Jahr habe ich einen verpflichtenden Dienst an der Gesellschaft vorgeschlagen. Die öffentlichen Reaktionen waren sehr unterschiedlich. Einige waren erschrocken. Eine Pflicht zum Dienst? Das könnten wir den Menschen nicht zumuten. Von manchen Jüngeren hieß es: Auch das noch, als ob Corona uns nicht schon genug Lebenszeit und Entfaltungsfreiheit geraubt hat!
Es gab aber auch viel Zustimmung. Viele Menschen sind regelrecht elektrisiert von der Vision: eine Zeit des Miteinanders, eine gleiche Pflicht für alle, ein Dienst für unsere Demokratie.
Kalt gelassen hat die Frage wohl kaum jemanden. Die Debatte führen wir so intensiv wie nie zuvor, und darüber freue ich mich. Ich will jetzt präzisieren, welche Bedingungen für eine soziale Pflichtzeit zu erfüllen sind und welche Formen sie haben kann.
Die Zustimmung zur sozialen Pflichtzeit erreicht in der ganzen Gesellschaft etwa 65 Prozent. Das ist ermutigend. Bei den Jüngeren fällt sie geringer aus und liegt knapp über 50 Prozent. Hier sehe ich einen Prüfstein für die weitere Diskussion. Dass Ältere mit ihrer Mehrheit über die Pflicht von Jüngeren entscheiden, wäre falsch. Es müssen alle Generationen dazu bereit sein. Das ist mein Ziel.
Deshalb gleich zu der zentralen Frage: Warum muss es eine Pflicht sein? Es gibt ja die Freiwilligendienste und das freiwillige Engagement. In der Tat kümmern sich Millionen in unserem Land jeden Tag um Menschen, die Hilfe brauchen. Sie sind für andere da, oft neben ihrem Beruf. Ich bin dankbar für die Verantwortung, Hilfsbereitschaft und Tatkraft, die in unserer Gesellschaft steckt. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Engagement in vielen Vereinen, Notdiensten, Hilfsorganisationen an Nachwuchsmangel leidet. Wahr ist auch, dass an vielen Orten immer dieselben Personen das Ehrenamt tragen. Viele Strukturen der Solidarität werden in der modernen Gesellschaft brüchig. Es fehlt ihnen zunehmend an Breite, Dauer und Verlässlichkeit.
Eine Pflicht ist nicht einfach nur Zwang. Denken wir einen Moment darüber nach. Wenn alle angesprochen sind und sich alle beteiligen, dann erfahren sich auch alle als gleiche Bürgerinnen und Bürger. Mit der Pflicht sagt der demokratische Staat: Du zählst, Du trägst Verantwortung und Du bist Teil dieser Demokratie! Du wirst gebraucht!
Und zwar für eine gerechtere, eine menschliche und nachhaltige Gesellschaft. Die Pflichtzeit ist praktischer Einsatz für die Demokratie und für eine lebenswerte Zukunft.
Wir geben mit der sozialen Pflichtzeit eine Antwort auf die destruktiven Seiten der sozialen Zersplitterung. Ich mache mir Sorgen, dass die Abwendung der Menschen voneinander früher oder später die Grundlage unserer Demokratie aushöhlt. Wer sich nur noch von seiner Gruppe bestätigen lässt, wer nur noch denkt und fühlt, was in der eigenen Blase gedacht und gefühlt wird, der verliert sein Mitgefühl mit anderen und oft auch den Respekt vor ihnen. Eine allgemeine Pflichtzeit führt zur Begegnung mit Leuten, denen wir sonst wenig oder nie begegnen oder die wir nur im Vorbeigehen in ihrer beruflichen Funktion erleben, aber nicht in ihrer Menschlichkeit. Indem wir ihnen näherkommen, lernen wir auch etwas über das Leben anderer. Ambiguitätstoleranz
nennt es die Sozialphilosophie. Gemeint ist die Fähigkeit, sich nicht so leicht befremden und ängstigen zu lassen, wenn ein Mitmensch ganz anders tickt als man selbst.
Ich bin überzeugt, dass eine soziale Pflichtzeit eine verbindende Erfahrung in einer Gesellschaft der verschiedenen Lebenswege ermöglicht. Sie kann gegeneinander abgeschottete Lebenswelten öffnen – reich und arm, Abiturienten und Hauptschüler, jung und alt, Stadt und Land, Ost und West, Nord und Süd, diese oder jene Religion, Kultur, Herkunft, Orientierung, Identität. Das ist kein Widerruf der individuellen Entfaltung, die zur Stärke der modernen freien Gesellschaften zählt. Wir wachsen in der Auseinandersetzung mit anderen Milieus. Es geht darum, dass selbstbewusste Individuen an Orten zusammenfinden, an denen sie gemeinsam etwas bewirken. Freiheit als Gesellschaftsentwurf geht nicht in einer isolierten Ich-Perspektive auf. Sie benötigt lebendige Beziehungen zu anderen Menschen, in denen sich eine verantwortungsbewusste Persönlichkeit entwickeln kann. Hilfe geben und Hilfe empfangen, die eigene Stärke als nützlich und gewinnbringend für Mitmenschen erleben, mit denen wir nicht verwandt sind, die nicht unserem Freundeskreis, ja nicht einmal der eigenen Generation angehören, in Kooperation mit anderen Menschen Probleme lösen – dies sind Dimensionen unseres Lebens, mit denen wir nicht nur durch Worte, sondern durch Taten alles stärken, was uns verbindet.
Genau diese Fähigkeiten sind auch notwendig, damit unsere Demokratie funktioniert. Denn nur wer sich in andere hineinversetzen kann, wer unterschiedliche Perspektiven gelten lässt, wird bereit sein, Kompromisse zu schließen oder mitzutragen. Demokratische Politik muss dies jeden Tag leisten: einen möglichst fairen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen finden, die für sich genommen alle eine Berechtigung haben.
Mein Wunsch wäre es, dass die soziale Pflichtzeit länger dauert als eine Hospitation oder ein Praktikum. Sechs Monate sollten es schon sein, aber auch nicht mehr als ein Jahr. Sie sollte in unterschiedlichen Phasen des Lebens absolviert werden können: Die Zeit nach dem Schulabschluss oder der Berufsausbildung liegt nahe, als Moment der Orientierung und des Neuanfangs im Leben. Aber auch später, als Auszeit im Beruf, kann ein solcher Dienst besonders sein. Jeder und jede sollte die Wahl haben.
Eines muss uns bewusst sein. Es wird eine soziale Pflichtzeit in Deutschland nur dann geben, wenn wir einen größeren politischen Konsens erreichen. Denn erstens müssen wir unsere Verfassung ändern, und dafür braucht es eine verfassungsändernde Mehrheit in gewählten Parlamenten, die wir heute für eine Pflichtzeit noch nicht haben. Zweitens stimmt es eben nicht, dass der Staat durch eine Dienstpflicht Geld sparen kann. Im Gegenteil, er muss für eine soziale Pflichtzeit Geld aufwenden, um den auskömmlichen Lebensunterhalt und die Unterkunft der Dienstleistenden sicher zu stellen, aber auch für eine gute Begleitung der Dienstzeit mit Schulungen und Seminaren. Wir müssen also gewillt sein, uns den Dienst an der Gemeinschaft etwas kosten zu lassen, in diesen Dienst an der Demokratie zu investieren. Auch das ist ein Prüfstein unserer Ernsthaftigkeit.
Die Pflichtzeit kommt, wenn wir Bürgerinnen und Bürger sie wollen. Ich werbe dafür. Denn sie wäre ein Gewinn für die innere Festigkeit unserer demokratischen Lebensweise in unsicheren Zeiten.