Antwort auf Meinung zu einer sozialen Pflichtzeit

Schwerpunktthema: Zeitungsbeitrag

18. Juli 2022

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat auf einen Kommentar der 14-jährigen Schülerin Alma von Raggamby in der Tageszeitung Die Welt reagiert. Am 18. Juli ist seine Antwort erschienen: Ich glaube, das 'Wir' kann eine neue Chance bekommen in einer sozialen Pflichtzeit, also einer Zeit des gemeinnützigen Tuns, in der der Respekt vor dem Leben und den Lebensentwürfen von anderen wächst.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seinem Arbeitszimmer (Archivbild)

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat auf einen Kommentar der 14-jährigen Schülerin Alma von Raggamby reagiert, der am 29. Juni unter der Überschrift "Dienstpflicht? nein danke" in der Tageszeitung Die Welt erschienen war. Die Antwort des Bundespräsidenten erschien am 18. Juli ebenfalls in Die Welt.

Liebe Alma,
vor einigen Tagen hast Du in der Tageszeitung Die Welt einen Kommentar zur sozialen Pflichtzeit geschrieben. Ich finde Deine Argumente sehr interessant, umso mehr, als ich es für wichtig halte, dass sich auch sehr junge Menschen wie Du an der Debatte über die Idee einer sozialen Pflichtzeit beteiligen. Und deshalb möchte ich Dir gerne antworten.

Ich verstehe Deine Sorge, dass allein junge Menschen zum Dienst an der Gesellschaft verpflichtet werden könnten. Dass sie Tätigkeiten ausüben sollten, die sonst niemand machen würde und die schlecht bezahlt sein könnten. Daher möchte ich meine Antwort an Dich nutzen, um ganz klar zu sagen: Genau das will auch ich nicht.

Was ich möchte, ist, dass wir Ideen und Wege finden, wie wir als Gemeinschaft wieder mehr füreinander da sein können. Als ich die Idee einer sozialen Pflichtzeit aufgebracht habe, ging es mir deshalb vor allem darum, offen zu sein. Diese Zeit soll eben nicht von vornherein auf bestimmte Altersgruppen begrenzt sein. Es muss kein Jahr sein; sie kann kürzer gestaltet werden oder vielleicht flexibel: nicht am Stück, sondern in Teilabschnitten.

Liebe Alma, wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen ganz überwiegend in ihrer sozialen Bubble aufwachsen und verbleiben, erst in der Schule, dann bei der Ausbildung oder im Studium; auch im Beruf setzt sich die Distanz fort. Wir nutzen soziale Medien so intensiv wie nie zuvor und laufen so Gefahr, nur mit Gleichgesinnten und an gleichen Themen Interessierten zu kommunizieren. Die Jahre der Pandemie haben die Tendenzen noch verstärkt.

Meine Sorge ist, dass durch die soziale Distanz auch die Vorurteile wachsen – zwischen Jung und Alt; zwischen Arm und Reich; zwischen den hier Geborenen und den Eingewanderten; zwischen Religionen und Kulturen. Deshalb wünsche ich mir, dass wir Möglichkeiten finden, um uns wieder über die sozialen Grenzen hinweg begegnen zu können.

Ich bin wie Du, liebe Alma, gegen staatliche Bevormundung und Gängelung. Ich will, dass jeder junge Mensch die Chance hat, mit seinen Talenten und Neigungen den eigenen Weg und sein persönliches Glück zu suchen. Nur: Wer in einer Demokratie das "Ich" sucht, muss das "Wir" mitdenken. Und ich glaube, das "Wir" kann eine neue Chance bekommen in einer sozialen Pflichtzeit, also einer Zeit des gemeinnützigen Tuns, in der der Respekt vor dem Leben und den Lebensentwürfen von anderen wächst. Womöglich könnte man diese Pflichtzeit nicht nur in sozialen Einrichtungen absolvieren, sondern auch bei der Feuerwehr, beim THW, beim Katastrophenschutz oder bei der Bundeswehr. Die denkbaren Möglichkeiten sind fast unendlich.

Liebe Alma, ich würde mich freuen, wenn wir alle die Diskussion über die soziale Pflichtzeit weiterführen – und sich auch weiter junge Menschen wie Du darin einbringen.

Sei ganz herzlich gegrüßt von
Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident