Namensbeitrag in der Tageszeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung zur Wahl des Präsidenten in den USA

Schwerpunktthema: Zeitungsbeitrag

8. November 2020

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat zum Ausgang der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten einen Artikel verfasst, der am 8. November unter dem Titel "Deutschlands Chance" auf faz.net und am 9. November in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist. Darin schreibt er: "Nutzen wir die Chance, gemeinsam mit einem von Joe Biden regierten Amerika die Demokratie und die Kraft der Vernunft in unseren Gesellschaften zu erneuern."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seinem Arbeitszimmer (Archivbild)

Die amerikanischen Wählerinnen und Wähler haben entschieden. Joe Biden wird der 46. Präsident der Vereinigten Staaten. Nach einem erbitterten Wahlkampf und einer beispiellosen gesellschaftlichen Polarisierung in den letzten Jahren liegen die größten Herausforderungen des neuen Präsidenten ohne Zweifel zuhause, im eigenen Land. Wir können für die Menschen in Amerika nur hoffen, dass es ihnen gelingt, wieder eine verbindende Idee von der Zukunft ihres Landes zu entwickeln.

Was aber bedeutet dieser Wahlausgang für uns in Deutschland und Europa? Zahlreich sind die Stimmen derer, die schon zu wissen glauben, dass sich gar nicht viel ändert, dass es viel Kontinuität geben wird, gerade in außenpolitischen Streitfragen. Das ist nicht ganz falsch. Und doch übersehen die Skeptiker das Wesentliche. Sie laufen damit Gefahr, die große Chance zu verpassen, die sich Deutschland jetzt bietet. In drei großen Fragen haben wir in den zurückliegenden Jahren in den Abgrund geblickt. Vieles ist beschädigt, aber noch nicht zerstört.

Erstens tritt mit der Wahl von Joe Biden wieder in den Vordergrund, was uns über den Atlantik im Tiefsten verbindet. Die Amerikaner waren die ersten, die uns Deutschen Demokratie nach 1945 zugetraut haben. Wir Deutschen sollten die letzten sein, die ihnen Lektionen in Demokratie erteilen. Wenn uns nichts sonst verbinden würde, dann wären wir, Deutsche und Amerikaner, immer noch Demokraten. Das verbindet uns, sicherlich mehr als mit jeder anderen Region der Welt, gewiss enger als mit China oder Russland.

Thomas Mann warnte vor achtzig Jahren: Es ist mit der Selbstverständlichkeit der Demokratie in aller Welt eine zweifelhafte Sache geworden. Das ist heute so wahr wie damals. Die Zukunft der Demokratie beginnt nicht damit, sie anderen zu erklären, sondern sie bei uns selbst weiterzuentwickeln. Die Zukunft der Demokratie aber ist nicht ohne eine Idee von der Demokratie der Zukunft zu gewinnen. Das gilt insbesondere mit Blick auf die technologischen Entwicklungen, die vom Silicon Valley ausgehen und unsere politischen Meinungsbildungsprozesse umkrempeln. In diesen Fragen sind wir unterwegs ins Offene, Amerikaner, Deutsche, Europäer, alle Demokraten – nun wieder gemeinsam. Es gibt eine unersetzliche menschliche Qualität, die bleiben muss: die Vernunft. Ohne Vernunft funktioniert Demokratie nicht. Es ist ein schreckliches Schauspiel, wenn das Irrationale populär wird, so Thomas Mann 1943 in der Library of Congress. Deshalb war der 3. November ein guter Tag für die Demokratie – nicht nur in den Vereinigten Staaten. Ein Tag, der das Vertrauen in die Demokratie gestärkt hat. Nutzen wir die Chance, gemeinsam mit einem von Joe Biden regierten Amerika die Demokratie und die Kraft der Vernunft in unseren Gesellschaften zu erneuern.

Zweitens tritt an die Stelle eines Amerika, das sich als mächtigstes Land der Welt zuletzt der rücksichtslosen Durchsetzung kurzfristiger Interessen verschrieben hat, wieder ein Amerika, das um die Bedeutung von Allianzen und Verbündeten weiß. Ein Amerika, das seine Macht nicht allein als Macht über andere versteht, sondern als Macht zum Erreichen gemeinsamer Ziele. Ein Amerika, das sich in seinem Handeln auch dem Ziel einer gerechteren, besseren Welt verpflichtet sieht. Ein Amerika, das aus wohlverstandenem Eigeninteresse die Stärke des Rechts über das Recht des Stärkeren stellt.

Diese Ideen und Ideale, die stets den Kern des politisch-kulturellen Westens ausgemacht haben, geprägt von einem aufgeklärten Amerika, haben keine geographischen Grenzen. Sie kennen keine Hautfarbe. Sie sind der Gegenentwurf zum Rückzug ins Nationale, der heute noch mehr als früher in die Sackgasse führt.

Mit der Rückkehr der USA zu diesen gemeinsamen Idealen bietet sich die Chance, der Erosion der internationalen Ordnung Einhalt zu gebieten. Statt einer Welt, in der sich jeder nur selbst der Nächste ist, haben wir die Chance, die Logik der Zusammenarbeit neu zu beleben. Das konkreteste Beispiel dafür wäre die Zusammenarbeit bei der Überwindung von Covid-19. Kein Land fehlt so sehr wie die USA, um wirklich als Weltgemeinschaft auf die Pandemie eine Antwort zu geben. Erst mit den USA gibt es eine echte Chance, fairen und gerechten Zugang zu Therapien und Impfstoffen für alle Menschen weltweit zu organisieren.

Einer drohenden internationalen Anarchie, in der nur maximum pressure zählt, können die USA mit der Rückkehr in das Pariser Klimaschutzabkommen, mit einer erneuerten Zusammenarbeit in der Welthandelsorganisation, in der Nordatlantischen Allianz und auch zur Eindämmung des iranischen Nuklearprogramms wieder einen optimistischeren Entwurf unserer gemeinsamen Zukunft entgegensetzen.

Drittens eröffnet ein Präsident Biden die Chance eines amerikanischen Partners, der die Zusammenarbeit der europäischen Demokratien in der Europäischen Union wieder als wertvolles und verbindendes Projekt sieht. Was für eine Chance! Denn machen wir uns nach den Erfahrungen der letzten vier Jahre nichts vor: Gegen amerikanische Spaltungsversuche ist europäische Einheit nicht zu gestalten.

Auch unter einem Präsidenten Biden wird Europa für die USA nicht mehr so zentral sein wie früher. Das neue Gravitationszentrum amerikanischer Interessen und Herausforderungen liegt in Asien. Wir müssen deutlich machen, warum Europa dennoch für Amerika zählt. Dazu gehört: Nur ein Europa, das sich selbst glaubwürdig schützen will und kann, wird die USA in der Allianz halten können. Wir Deutsche müssen verstehen, dass ein starkes Europa unsere Investition in dieses transatlantische Verhältnis ist. Erst dann hat unsere Partnerschaft mit den USA wieder eine strategische Klammer, die auch Differenzen in einzelnen Politikbereichen aushalten wird. Deshalb ist es so wichtig, dass wir Deutsche alles tun, um Europa stark zu machen. Wenn wir in Europa investieren, werden es andere Europäer auch tun. Das wird uns nicht leichtfallen. Und es wird uns mehr kosten und sollte uns mehr wert sein als nur Geld. Das gilt auch für unsere Zusammenarbeit in Sicherheit und Verteidigung. Unser Werben für eine weltweite Logik der Kooperation wird nicht aus einer Position der Schwäche gelingen. Darin liegt der wahre Kern der Debatte über europäische Souveränität.

Einigkeit in diesen drei großen Fragen kann das Fundament eines neuen transatlantischen Einverständnisses bilden. Dann beginnt die Arbeit an den vielen drängenden Problemen. Die Krisen sind mit dieser Wahl nicht verschwunden, nicht in Syrien, nicht in Libyen, nicht in der Ostukraine und nicht im Cyberraum. In vielen dieser Fragen unterscheiden sich unsere historischen Erfahrungen, unsere geographische Nähe, bisweilen auch unsere Interessen. Wie sollen wir umgehen mit einem immer robuster auftretenden, im Innern immer stärker verhärteten China? Wie mit dem allzu oft destruktiv agierenden Russland, wie mit der schwierigen Türkei, mit der Instabilität im Sahel? Dort und anderswo werden wir um die richtigen Antworten ringen. Das wird nicht leicht. Umso wichtiger, dass wir nicht lange bei den Gratulationen verweilen, sondern uns gemeinsam an die Arbeit machen. Umso wichtiger, dass wir als Deutsche unseren eigenen, starken Beitrag leisten. Von alleine wird nichts gut. Aber: in den für uns wirklich existenziellen Fragen könnte der Unterschied zwischen den schwierigen, ja zerstörerischen letzten vier Jahren und dem, was die kommenden vier Jahre an Chancen bieten, kaum größer sein.

Amerika hat sich entschieden. Darin liegt Deutschlands Chance. Es ist unsere Verantwortung, sie auch beherzt zu ergreifen.