Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat einen Beitrag für die Wochenzeitung Die Zeit
verfasst, der am 14. März unter der Überschrift Deutsch und frei
erschienen ist:
Die Zukunft ist offen. Selten war uns das so bewusst wie heute. Freiheit und Demokratie stehen unter Druck, autoritär verfasste politische Systeme treten immer selbstbewusster auf die Weltbühne, alte Gewissheiten geraten ins Rutschen. Vom Ende der Geschichte
, vom Sieg des Westens und vom unumkehrbaren Weg Richtung weltumspannender Demokratie spricht niemand mehr. Gerade in Zeiten von Veränderung und Ungewissheit neigen wir Deutschen nicht gerade zu übermäßiger Zuversicht. Im Gegenteil, allzu oft verfallen wir in lähmenden Pessimismus. Ich glaube, unser Blick in die Zukunft hängt auch damit zusammen, wie wir auf die Vergangenheit schauen. Die verheerenden Folgen nationalistischer Selbstüberhebung und Demokratieverachtung stehen uns warnend vor Augen. Das ist richtig so. Das Bewusstsein dafür, Wachsamkeit und Skepsis bleiben geboten. Dennoch sollten wir fragen: Gibt es nicht auch Ereignisse und Vorbilder in unserer Demokratiegeschichte, die uns inspirieren, die Ansporn geben und Mut machen können? Gab es nicht Zeiten – denken wir etwa an den Weimarer Aufbruch vor 100 Jahren –, in denen große Umwälzungen auch große Errungenschaften hervorbrachten? Errungenschaften, die unsere Demokratie bis heute prägen und stark machen; Heldinnen und Helden, auf die wir stolz sein können? Ich meine, wir haben unsere Freiheits- und Demokratiegeschichte in unserem Denken über Zukunft zu lange vernachlässigt, und das sollten wir ändern!
Ein Beispiel: Wenn bei einer großen Demonstration für eine offene Gesellschaft die Farben Schwarz-Rot-Gold nicht gezeigt werden sollen, dann offenbart sich, wie groß die Defizite in Sachen Demokratiegeschichte heute sind. Schwarz-Rot-Gold ist doch nicht das Aushängeschild eines engstirnigen Nationalismus, sondern das Wahrzeichen von Freiheit und Demokratie. Freiheitskämpfer seit dem Hambacher Fest von 1832 trugen mutig, oft unter Lebensgefahr, diese deutsche Trikolore. Und im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold
organisierten sich Millionen liberale, christliche und soziale Demokraten für die Weimarer Republik und gegen den Nationalsozialismus.
Demokratiegeschichte kann in Deutschland nicht als gradlinige Erfolgsgeschichte erzählt werden. Sie darf auch nie als Konkurrenz, sondern muss immer im Wissen um die Diktatur und ihre Wurzeln verstanden werden. Das Erinnern an den Holocaust und die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges hat für unser deutsches Selbstverständnis herausragende Bedeutung gewonnen. Hinzu kamen die Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Würdigung ihrer Opfer. Und vergessen wir nicht: Diese Erinnerungskultur musste erstritten werden, bevor sie Konsens werden konnte. Bürgerschaftliches Engagement und eine kritisch-aufklärerische Wissenschaft haben sich gegen Verdrängen und Beschweigen durchgesetzt. Diese Erinnerungskultur ist eine Errungenschaft dieser Republik, und sie bleibt für heutige und kommende Generationen unverzichtbar. Sie kennt keinen Schlussstrich.
Kurzum: Was sich nicht wiederholen soll, darf nicht vergessen werden. Aber auch an das, was Vorbild war, was Bestand und Zukunft haben soll, muss erinnert werden. Nicht nur Diktatur und Verbrechen bieten demokratisches Lernpotential, auch der Kampf für Freiheit und Demokratie in unserer Geschichte sollte uns leiten. Demokratiegeschichte kann zeigen, was Einzelne zu leisten vermögen, wie Gleichheit erstritten und wie demokratische Institutionen entwickelt wurden. Und auch beim Erinnern an die Diktatur darf unser Interesse nicht bei den Tätern haltmachen. Der ostdeutsche Theologe Richard Schröder hat mit Blick auf die DDR beklagt, dass mehr an Teilung, Überwachung und Verfolgung erinnert werde als an die Opposition. Es stimmt, es gibt wichtige Gedenkstätten, die an die Untaten der Stasi und ihre Opfer erinnern, aber wo ist der Ort, an dem von der Friedens-, Umwelt- und Demokratiebewegung erzählt wird? Wer kennt etwa außerhalb von Rostock Arno Esch, den liberalen Jura-Studenten, der sein Engagement für Demokratie und Recht bereits 1951 mit dem Leben bezahlen musste? Im Berliner Bendlerblock, wo die Widerständler vom 20. Juli 1944 ihre Zentrale hatten, wird heute an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in ganzer Breite vorbildlich erinnert. Aber wo ist der authentische Ort, der den mutigen Oppositionellen in der DDR gewidmet ist? Auch Opposition und Widerstand sind wichtige Teile der deutschen Freiheits- und Demokratiegeschichte.
Ein aufmerksamerer Blick für unsere Demokratiegeschichte bedeutet beileibe keine nationale Nabelschau. Im Gegenteil, er verbindet uns immer wieder mit unseren Nachbarn in Europa und unseren Partnern in der Welt. Beim Hambacher Fest wehten nicht nur schwarz-rot-goldene, sondern auch polnische und französische Flaggen. Ein demokratischer Patriotismus in Deutschland weiß: 1789, 1848, 1918, 1949 und 1989 sind allesamt auch hoffnungsvolle Wendemarken der europäischen Geschichte. Sie führen uns in Europa nicht auseinander, sondern zusammen.
Beim Nachdenken über den Umgang mit unserer Freiheits- und Demokratiegeschichte lohnt ein Blick über die Grenzen. Frankreich begeht den 14. Juli, den Tag des Sturms auf die Bastille, als Nationalfeiertag. Niemandem dort gilt die Französische Revolution als gescheitert, weil ihr zunächst der Terror Robespierres, die Herrschaft Napoleons und drei weitere Monarchien folgten. In den Vereinigten Staaten, wie Deutschland ein Föderalstaat mit vielen dezentralen Erinnerungsorten, übernimmt die Bundesverwaltung mit dem National Park Service die Verantwortung für demokratische Erinnerungsorte – von Washingtons Geburtshaus bis zur Independence Hall in Philadelphia.
Auch in Deutschland fließt viel Steuergeld an historische Orte. Das Residenzschloss in Dresden wird für 380 Millionen Euro saniert, für die Gruft der Hohenzollern im Berliner Dom werden fast 16 Millionen Euro aufgewendet, und für das Bismarck-Denkmal in Hamburg will der Bund 6,5 Millionen Euro ausgeben. Dafür gibt es gute Argumente, und der Aufwand ist gerechtfertigt. Aber was investieren wir in die Orte unserer Demokratiegeschichte? Das Hambacher Schloss ist uns jedes Jahr ganze 100.000 Euro wert, und für die Frankfurter Paulskirche, vielleicht Deutschlands bekanntester Ort demokratischen Ringens zur Mitte des 19. Jahrhunderts, wenden wir aus Bundesmitteln bislang keinen Cent auf.
Philadelphia ist die Partnerstadt von Frankfurt am Main, doch der Umgang mit den Erinnerungsorten in beiden Städten könnte unterschiedlicher kaum sein. In der Paulskirche tagte 1848/49 die gewählte deutsche Nationalversammlung und schuf dort die erste deutsche Verfassung, die unsere Verfassungsordnung bis heute stark prägt. 2023 jähren sich die demokratische Revolution und die Nationalversammlung zum 175. Mal. Warum hat Deutschland nicht den Ehrgeiz, die Paulskirche bis dahin zu einer modernen Erinnerungsstätte für die Demokratie zu machen? Ein authentischer Ort, der an Revolution, Parlamentarismus und Grundrechte nicht nur museal erinnert, sondern zu einem Erlebnisort wird, der Wissen, Bildung und Debatte verbindet? Der Eigentümer der Paulskirche ist die Stadt Frankfurt. Aber so wie dort 1848 für ganz Deutschland Geschichte geschrieben wurde, so ist heute die Zukunft der Paulskirche auch eine Aufgabe, mit der wir Frankfurt nicht ganz allein lassen sollten.
In Berlin und Bonn leisten großartige Museen und der Bundestag wichtige Beiträge zur Erinnerungsarbeit. Aber es gibt weitere herausragende Orte der deutschen Freiheits- und Demokratiegeschichte: Das Hambacher Schloss, der Friedhof der Märzgefallenen und die Festung Rastatt, das Weimarer Nationaltheater, Herrenchiemsee und die Nikolaikirche in Leipzig zählen dazu. Sie alle sollten nicht nur Ereignisorte sein, sondern wir sollten gemeinsam dafür sorgen, dass sie Lernorte der Demokratie werden. Darüber hinaus gibt es unzählige weitere Orte der Demokratiegeschichte, kleine und große, bekannte und weniger bekannte. Ich denke etwa an das Geburtshaus von Georg Büchner in Riedstadt und das von Matthias Erzberger in Buttenhausen, das Teehaus in Trebbow, wo sich Widerständler des 20. Juli trafen, an Denkmäler wie jenes für die Unterzeichnung der Weimarer Verfassung in Schwarzburg oder für die frühen Großdemonstrationen im Herbst 1989 in Plauen.
Viele dieser Orte werden von Ehrenamtlichen mit großem Einsatz gepflegt. Ihr Engagement ist wichtig. Wenn die Demokratie eine Staatsform für alle ist, dann gilt das für die Pflege ihrer Geschichte ganz genauso. Denjenigen, die sich dafür schon heute engagieren, will ich ausdrücklich danken. Aber die Existenz dieser Erinnerungsorte ist oft prekär, ihre Möglichkeiten begrenzt, die Öffnungszeiten eingeschränkt. Viele Orte bekommen nicht die Gestaltung und die Aufmerksamkeit, die sie verdienen.
Seit 2017 haben sich immerhin 41 Einrichtungen zur Arbeitsgemeinschaft Orte der Demokratiegeschichte
zusammengeschlossen. Diese Vernetzung und Selbstorganisation war ein wichtiger erster Schritt. Aber brauchen wir nicht auch eine bundesstaatliche Repräsentanz und systematische Förderung von Erinnerungsstätten der Demokratiegeschichte? Der Bund sollte sich dieser Aufgabe annehmen und gute Projekte unterstützen, neue anregen und sie in ganz Deutschland bewerben – damit Orte, Ereignisse und Personen unserer Demokratiegeschichte endlich die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen. Welche institutionelle Form dafür gebraucht wird, darüber sollten alle, die es angeht, miteinander ins Gespräch kommen.
Auch Gedenktage prägen unsere Erinnerungskultur. Sie geben historisch-politische Orientierung und setzen Impulse für die Erinnerungsarbeit im Land. Mit der Einführung des Holocaust-Gedenktages ist es 1996 gelungen, am Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz einen in ganz Deutschland beachteten Moment des Innehaltens und der Erinnerung zu schaffen. Der 3. Oktober, unser Nationalfeiertag, ist der Überwindung der deutschen Teilung und der Wiedergewinnung unserer staatlichen Einheit gewidmet. Diese Einheit war auch das Ergebnis einer Freiheits- und Demokratiebewegung, trotzdem fehlt uns bis heute ein Tag, an dem wir die ganze Vielfalt demokratischer Traditionen unserer Geschichte würdigen – und vor allem: an dem wir Freiheit und Demokratie auch feiern können. Ein Tag, der sich mit einem demokratischen Patriotismus verbinden kann.
Heribert Prantl schrieb: Wären die Deutschen Franzosen, dann wäre der 18. März ein Tag für Jubel und Feuerwerk.
Warum der 18. März? Weil an diesem Tag 1793 in Mainz die erste Republik in Deutschland ausgerufen wurde, 1848 in Berlin die demokratische Revolution ihren Höhepunkt erlebte und 1990 die erste freie Volkskammerwahl in der DDR stattfand. Der 18. März zeigt die demokratische Entwicklung vom Streben nach bürgerlicher Gleichheit bis hin zu freien Wahlen – und er erinnert an jenen Völkerfrühling
, der damals Menschen in ganz Europa erfasste. In allen politischen Lagern gibt es viel Zuspruch für die Idee, den 18. März zum nationalen Gedenktag zu machen. Bis 2020, wenn sich die erste freie Volkskammerwahl zum 30. Mal jährt, sollten Bund und Länder die Frage beantworten, ob sie einen solchen Gedenktag erstmals gemeinsam begehen wollen.
Erinnerung darf sich aber – gerade an Gedenktagen – nicht in Ritualen und Feierstunden erschöpfen. Sie ist eine Aufgabe für viele: für den Geschichtsunterricht der Schulen, die Heimatvereine und Geschichtswerkstätten, die Stadtarchive und Museen, die Volkshochschulen und Bildungsstätten, vielleicht sogar fürs Durchforsten der Familiengeschichte auf dem eigenen Dachboden. Grabe, wo du stehst
– das ist ein gutes Motto für die demokratische Spurensuche. Wie verlief im November 1918 die Revolution in Ihrem Ort? Wer waren die ersten Frauen, die sich in Ihrer Heimatstadt politisch engagierten? Was geschah im Herbst 1989 in Ihrer Gemeinde? Solche Ansätze sind mindestens ebenso wichtig wie Museen und Gedenktage.
Ich denke dabei ganz besonders an die jungen Menschen in unserem Land. Eine ganze Generation kennt heute kein anderes Deutschland als ein vereintes, demokratisches Land in einem vereinten, friedlichen Europa. Das ist ein unschätzbares Glück – und zugleich eine Gefahr. Denn: Selbstverständlich war die Demokratie in diesem Lande nie, und sie ist es auch heute nicht. Wer sich mit unserem langen und verschlungenen Weg zur Demokratie, mit ihren vergessenen Heldinnen und Helden ebenso wie mit den Irr- und Abwegen beschäftigt, der wird sehen: Die Demokratie ist uns Deutschen wahrlich nicht in die Wiege gelegt. Wir müssen, immer aufs Neue, für sie arbeiten, für sie streiten. Deshalb verdient unsere Demokratiegeschichte mehr als freundliches Desinteresse. Sie braucht Neugier, Herzblut und, ja, auch finanzielle Mittel.