Beitrag in der FAZ: "Rückbesinnen auf die Grundideen Europas"

Schwerpunktthema: Zeitungsbeitrag

11. Oktober 2018

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der griechische Präsident Prokopis Pavlopoulos haben am 11. Oktober einen gemeinsamen Namensbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Tageszeitung Kathimerini veröffentlicht. Darin heißt es: "Wir müssen jeden Tag aufs Neue Demokratie erringen, um sie kämpfen. In noch nie dagewesenem Ausmaß seit Ende des Kalten Krieges stehen unsere Werte und Überzeugungen unter Druck."

Austausch mit Prokopis Pavlopoulos, dem Präsidenten der Hellenischen Republik (Archivbild)

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der griechische Präsident Prokopis Pavlopoulos haben anlässlich des Staatsbesuchs in der Hellenischen Republik einen gemeinsamen Namensbeitrag verfasst, der am 11. Oktober unter der Überschrift Rückbesinnen auf die Grundideen Europas in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in der griechischen Tageszeitung Kathimerini erschienen ist:

Wir treffen uns bereits zum zweiten Mal als Staatsoberhäupter unserer Länder in Athen. Der Ort unserer Zusammenkunft steht wie kein anderer in Europa für unsere tiefen gemeinsamen Wurzeln, die weit über das deutsch-griechische Verhältnis hinausweisen. Das heutige Europa ist ohne das griechische Erbe, ohne die Athener Demokratie eines Perikles nicht denkbar.

Aber wir treffen uns heute unter besonderen Bedingungen. Bedingungen, die uns eindringlich vor Augen führen, dass die Demokratie, die hier ihren Ursprung hat und die wir in den vergangenen Jahren als selbstverständliche Grundlage unserer Gesellschaften verstanden haben, heute angefochten ist. Und dass wir jeden Tag aufs Neue Demokratie erringen, um sie kämpfen müssen. In noch nie dagewesenem Ausmaß seit Ende des Kalten Krieges stehen unsere Werte und Überzeugungen unter Druck. Autoritäres Denken, das wir nach dem Zusammenbruch der Totalitarismen überwunden glaubten, tritt wieder in den Vordergrund und ist leider für viele Menschen ein Quell der Faszination. Der Rückzug auf das Nationale und Euroskeptizismus sind vielerorts in der Europäischen Union im Aufwind. Die Europäische Union wird überdies von vielen nicht mehr als historische Errungenschaft, als Garantin für Frieden und Menschenrechte, für Wohlstand und soziale Gerechtigkeit verstanden. Die Erinnerung daran, was für ein langer und beschwerlicher Weg es von den Abgründen der Weltkriege bis zum vereinten, demokratischen und friedlichen Europa war, und die Strahlkraft dieses vereinten Europa drohen zu verblassen.

Griechenland und Deutschland muss diese Entwicklung in besonderem Maße wachrütteln. Für beide Länder war das Friedensprojekt der europäischen Einigung die Antwort auf die sehr unterschiedlichen Irrwege unserer jeweiligen Geschichte. Für Deutschland war es der Weg zurück in die Staatengemeinschaft nach dem unvorstellbaren Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus. Im Falle Griechenlands ging es um den Ausbau der Demokratie nach der brutalen Militärherrschaft. Und daraus entsteht für uns heute eine besondere, ganz persönliche Verantwortung für das Gelingen dieses einzigartigen Projekts.

Zwischen unseren beiden Ländern wurden im Lauf der Jahrzehnte überaus enge Bande geknüpft. Wir pflegen harmonische und enge wirtschaftliche und politische Beziehungen. Und vor allem sind es die unzähligen menschlichen Beziehungen, die unsere Länder verbinden. Dabei war diese Freundschaft alles andere als selbstverständlich. Unsere gemeinsame Geschichte ist reich an vielen Höhen, aber leider auch an abgrundtiefen Katastrophen. Dass wir es geschafft haben, im Wissen um die Vergangenheit eine gemeinsame europäische Gegenwart zu schaffen, ist ein kostbarer Schatz, den wir bewahren müssen. Gerade aus dem schmerzhaften Kapitel unserer Beziehungen erwächst unsere Verantwortung, für Freiheit und die Würde eines jeden Menschen einzutreten, Unrecht, Willkür und Verbrechen entgegenzutreten und die Demokratie zu schützen. Es erwächst daraus ferner unsere Verantwortung, einzustehen für dieses Friedensziel, das von unschätzbarem Wert ist und zu dem es nach unserer festen Überzeugung keine echte Alternative gibt.

Wir brauchen dieses gemeinsame Europa in der Welt von heute mehr und dringender als zuvor. So unterschiedliche Gefahren wie ein vermeintlich ideologisch begründeter Terrorismus oder der langsame, aber ungeheuer folgenschwere Klimawandel machen nicht an nationalen Grenzen halt. Und gerade wenn sich traditionelle Verbündete von uns entfernen und der multilateralen Zusammenarbeit eine Absage erteilen, muss unsere Antwort umso mehr in Europa liegen. Wir müssen dieses geeinte Europa bewahren und wo immer möglich stärken – das ist unser historischer Auftrag.

Aber wir wissen auch: Diesem Auftrag können wir nur gerecht werden, wenn die europäische Idee der Verbindung von freiheitlichen, demokratisch verfassten Gesellschaften über nationale Grenzen hinweg auch ihre innere Kraft und Ausstrahlung behält. Wenn die Europäische Union die Menschen wieder davon überzeugen kann, dass sie Antworten findet auf die drängendsten Anliegen ihrer Bürgerinnen und Bürger – als eine politische Ordnung, die Sicherheit, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit gewährleistet, zugleich aber auch entschlossen den äußeren Bedrohungen begegnen kann. Und wenn die EU nachfolgenden Generationen, die in der Zukunft für ihr Gelingen Verantwortung tragen, eine gute Perspektive bieten kann.

Dazu braucht sie effiziente Entscheidungsmechanismen und starke Durchsetzungsinstrumente. Und dazu müssen wir uns rückbesinnen auf das, was die EU in den vergangenen Jahrzehnten so weit getragen hat, auf ihre Grundideen, auf gemeinsame kulturelle und geistige Wurzeln und auf die Solidarität ihrer Mitglieder. Nur so kann die Europäische Union weiter Hoffnungsträgerin sein für eine gerechtere und friedlichere Welt, die sie für unsere Generation war. Wir beide wollen weiterhin unseren Beitrag dazu leisten. Aber es liegt an uns allen, dass der europäische Traum auch für unsere Kinder und Enkelkinder lebendig und verheißungsvoll bleibt.