Zeichnen – das tue ich eigentlich schon, solange ich denken kann. Wie die Kinder aus Bullerbü, über deren Abenteuer ich früher so gerne las, wuchs ich in einem kleinen Dorf auf. Mein Vater war Tischler, und zu Hause roch es stets nach Leim, Sägemehl und frisch geschnittenem Holz. Vielleicht kommt meine Vorliebe fürs Zeichnen daher, dass ich unter Handwerkern groß geworden bin und bei uns ständig irgendetwas mit den Händen gemacht wurde. Stift und Papier waren da nie weit entfernt.
Auf jeden Fall habe ich bereits als kleiner Junge viel gezeichnet. In der Schule, wenn mir im Chemieunterricht langweilig war, kritzelte ich manchmal heimlich am Heftrand herum. Lange Zeit hatte ich sogar den Traum, Architekt zu werden, denn – so stellte ich mir das vor – dann könnte ich einfach jeden Tag nach Lust und Laune Zeichnungen anfertigen. Wäre das nicht herrlich? Aus diesem Berufswunsch wurde leider nichts, aber das mit dem Zeichnen hat sich seit meiner Schulzeit nicht geändert. Verratet es keinem, aber noch heute, wenn ich in langen Sitzungen bin, male ich nach wie vor gerne kleine Bilder. Mal sind es Menschen und Tiere, mal sind es Pflanzen und Häuser. Am liebsten jedoch zeichne ich Elefanten.
Ihr fragt euch vielleicht: Wieso ausgerechnet Elefanten? Nun, ich fand schon immer, dass Elefanten sehr beeindruckende Tiere sind. Bedächtig und willensstark, zugleich hochsensibel und mit einem bemerkenswerten Gedächtnis ausgestattet. Auch wenn ich vielleicht nicht ganz so ein gutes Gedächtnis wie ein Elefant habe, kann ich mich noch an die Zeit vor 20 Jahren erinnern: Damals, als meine Tochter noch ein Baby war, schob ich regelmäßig sonntagmorgens den Kinderwagen durch den Stadtwald von Hannover in Richtung Zoo. Während meine Tochter schlief, saß ich manchmal stundenlang im Café vor dem Elefantengehege und las Zeitung. Ab und zu warf ich einen Blick auf die sanften Bewegungen der Dickhäuter. Ich beobachtete sie gerne. Was für eine wunderbare Ruhe und Gelassenheit sie ausstrahlten!
Aber Elefanten sind nicht nur schön anzusehen, sondern können uns Menschen auch eine ganze Menge beibringen. Richtig bewusst ist mir das einmal beim Lesen eines tollen Buches geworden. Es ist von Sten Nadolny, heißt Die Entdeckung der Langsamkeit und ist mein Lieblingsbuch. In der Geschichte träumt John Franklin, ein englischer Kapitän im 19. Jahrhundert, davon, mit dem Schiff zum Nordpol aufzubrechen. Um sich diesen Wunsch zu erfüllen, muss er eine Menge Hürden überwinden, denn John ist anders als seine Mitmenschen: Er ist außergewöhnlich langsam. Schon als kleiner Junge ist er viel langsamer als die anderen Kinder und kann beim gemeinsamen Spielen keine Bälle fangen, weil er nicht flink genug ist. Und wie das unter Kindern in der Schule manchmal so ist, wird der kleine John verspottet, weil er anders ist. Er wird zum Außenseiter. Trotzdem lässt sich John nicht unterkriegen und hält an seinem Traum fest, eines Tages zur See zu fahren. Mit Geduld und Beharrlichkeit arbeitet er daran, seine Schwäche in eine Stärke zu verwandeln. Denn Langsamkeit heißt ja nicht Stillstand, sondern bedeutet nur, dass alles etwas länger dauert und dass man sich Zeit nehmen und mit mehr Ruhe und Sorgfalt denken und handeln kann. Ich bin ein Entdecker
, sagt John. Und damit meint er sowohl die Entdeckung von neuen Welten als auch die Entdeckung seiner eigenen Langsamkeit. Für beides nimmt er sich die Zeit, die er braucht.
Wahrscheinlich wundert ihr euch, warum ich euch von diesem Buch erzähle und was das Ganze mit Elefanten zu tun hat. Nun ja, erinnert euch John mit seiner Langsamkeit nicht auch ein wenig an einen gemächlichen Dickhäuter? Bedächtigkeit, Sensibilität, Klugheit – all diese Wesenszüge, die John gegenüber seinen gehetzten und spottenden Mitmenschen zeigt, zeichnen auch Elefanten aus. Je mehr ich während des Lesens darüber nachdachte, desto mehr kam mir John wie ein menschgewordener Elefant vor. Durch Nadolnys Buch wurde mir also klar, was wir uns so alles von dem Charakter dieser Tiere abschauen können. Es ist, wie ich finde, ein sehr schönes Beispiel dafür, welch besondere Rolle die Literatur bei unserer Gedankenbildung einnimmt. Lesen ist wichtig, denn es regt das Denken und die Fantasie an, es hilft dabei, Wissen und Ideen zu verknüpfen und sich eine eigene Meinung zu bilden.
Wir dürfen also das Lesen nicht vernachlässigen oder gar verlernen. Gerade heute sind die Eigenschaften des Elefanten von großer Bedeutung, denn in unserem digitalen Zeitalter wird alles immer schneller. Vor gut 200 Jahren wurde John Franklin von den rasenden Geschwindigkeiten des Fortschritts seiner Zeit überwältigt. Lokomotiven, Rechenmaschinen, Fotografie – wie sollte man bei diesen ganzen neuen Erfindungen bloß mitkommen? Im Vergleich dazu verläuft unser Leben jetzt noch viel eiliger. Jeden Tag werden wir aufs Neue überrollt von der Flut von Posts und Likes. Es ist daher wichtiger denn je, dass man sich genug Zeit nimmt, um alles zu verarbeiten, besser zu verstehen und sich eigene Gedanken zu machen.
Sich Zeit nehmen – das wünsche ich mir für die Kinder von heute. Und wo, wenn nicht hier in der ZEIT, wäre es passender, diesen Wunsch zu formulieren?
Schon so manches Mal in meinem Leben war der Elefant mein Vorbild. Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages als Bundespräsident am Schreibtisch in Schloss Bellevue sitzen würde. Vieles im Leben ist nicht planbar. Manche Türen öffnen, andere Türen schließen sich. Und wenn man eine wichtige Entscheidung im Leben zu treffen hat, ist es wichtig, bei sich selbst zu sein. Seinen Weg Schritt für Schritt zu gehen und mit Aufmerksamkeit, Ruhe und Bedacht zu handeln – so wie die Elefanten, die ich so gern mag.