Ein einfacher junger Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im Graubündischen. Er fuhr auf Besuch für drei Wochen.
Wer immer diese Sätze vom Anfang des "Zauberbergs" gelesen hat, wird sie nicht vergessen. Erst recht nicht, wenn er am Ende des Buches feststellen muss, dass alles völlig anders wurde: dass aus den drei Wochen sieben lange Jahre mit am Anfang unabsehbaren Ereignissen geworden waren. Erst im Rückblick erfahren wir, welche Geheimnisse uns am Anfang noch verborgen blieben.
Rückblicke: heute auf einhundertundfünfzig Jahre. Es ist uns fast unmöglich, wirklich zu "vergegenwärtigen", wie wir sagen, was seine Epoche für Thomas Mann bedeutet und welche geschichtlichen Veränderungen er während seines langen Lebens erfahren hat. Als Thomas Mann sich 1950, also genau zur Hälfte der Zeit, die uns heute von seinem Geburtstag trennt, an seine frühen Jahre erinnert, da staunt er selbst: dass er noch Kaiser Wilhelm I. mit eigenen Augen gesehen, dass er erlebt hat, wie die ersten Telefone in die Kontore der Kaufleute kamen, das erste elektrische Licht, das Fahrrad und sogar die Bügelfalte der Herrenhose, damals eine unerhörte Neuheit.
Eine lang verwehte Zeit – und eine kaum mehr vorstellbare Art künstlerischer Existenz: Thomas Mann war durch und durch Künstler, Schriftsteller, seinem Werk hingegeben wie kaum ein anderer. Fast Tag für Tag schrieb er, fast Tag für Tag studierte er Quellen, Lexika, führte Gespräche mit Kennern unterschiedlichster Wissensbereiche für den Hintergrund seiner Bücher. Die tägliche kreative Arbeit, die fast unaufhörliche Produktion erstaunte schon seine Zeitgenossen, angefangen bei seiner Familie, die ihn auch deshalb den "Zauberer" nannte.
Aber er zauberte nicht, Schreiben und künstlerische Produktion waren auch für ihn ein praktisches Handwerk und ein innerer Kampf – das Warten auf den Kuss der Muse war seine Sache nicht. Er wusste auch immer um die nötigen Voraussetzungen für seine Arbeit. Sein eigenes Leben und Erleben gehörten unbedingt zu diesen Voraussetzungen, auch seine Herkunft hier aus der Hansestadt Lübeck, und auch die umgebende Landschaft. Einerseits sagt er: Ich bin Städter, Bürger, ein Kind und Urenkelkind deutsch-bürgerlicher Kultur
, andererseits spricht er in denselben Erinnerungen auch vom Dank an das Meer meiner Kindheit, der Lübecker Bucht
. Und fährt fort: Und wenn man meine Farben matt fand, […] so mögen gewisse Durchblicke zwischen silbrigen Buchenstämmen in eine Pastellblässe von Meer und Himmel daran schuld sein, auf denen mein Auge ruhte, als ich ein Kind und glücklich war.
Meer und Himmel, das nördliche Licht, der weite Horizont – das fand Thomas Mann auch in den Dünen der Kurischen Nehrung. Ich freue mich schon heute darauf, dass ich in wenigen Wochen mit dem litauischen Präsidenten, der dorther stammt, Thomas Manns Sommerhaus in Nida wiedersehen werde, jenes Haus, in dem ihm nur drei Sommer vergönnt waren, ehe er sich zur Flucht aus Deutschland gezwungen sah.
Auch dort hat er geschrieben. Auch dort ist seine tägliche Arbeit undenkbar ohne die innerste Umgebung, seine Familie. Zuerst seine Frau Katia, die ihm in seiner oft schwierigen Art, in seinen künstlerischen Gestaltungsproblemen, in seinen politischen Aktivitäten auf eine selbstlose und unersetzliche Weise zur Seite stand. Im großbürgerlichen Haushalt der frühen gemeinsamen Jahre ebenso wie an den Orten des Exils.
Zu ihrem siebzigsten Geburtstag sagt Thomas Mann in aller Öffentlichkeit: Solange Menschen meiner gedenken, wird ihrer gedacht sein […] zum Lohn ihrer Lebendigkeit, ihrer aktiven Treue, unendlichen Geduld und Tapferkeit.
Wie sehr seine Frau eine ganz und gar eigenständige, bewundernswerte Persönlichkeit war und dennoch sein Werk ohne sie undenkbar wäre, haben Inge und Walter Jens in der Biographie dargestellt, die unter dem Titel "Frau Thomas Mann. Das Leben der Katharina Pringsheim" ein Bestseller wurde.
Komplizierte Persönlichkeiten waren sie alle in der Familie Mann – ein deutscher Familienroman, der so viele Gestaltungen in Büchern oder Filmen erfahren hat, wie der keiner anderen Familie des vergangenen Jahrhunderts. Und wenn wir heute glauben, der Vater, der Zauberer, sei von allen der Komplizierteste gewesen, dann nur deswegen, weil er uns den nicht vernichteten Teil seiner ausführlichen Tagebücher hinterlassen hat: ein ganz eigener Lebensroman, vielleicht das erstaunlichste und anrührendste seiner Werke.
Hier erscheint uns jemand, der noch den kleinsten Begebenheiten des Alltags – und vor allem den kleinsten Widrigkeiten des Alltags! – eine offenbar übergroße Bedeutung beigemessen hat. Es ist jedenfalls nichts zu unwichtig, als dass es nicht getreulich protokolliert würde. Eine buchstäblich grenzenlose Aufmerksamkeit auf sich selber. Auch Ereignisse von wirklich historischem Gewicht werden am gleichen Tag noch von Bemerkungen etwa über Verdauungsprobleme, zu kaltes Wetter zum Spaziergang oder den schön gebadeten Pudel begleitet.
Aber seltsam: Ausgerechnet diese Tagebücher haben eine so große Leserschaft gewonnen, fast eine Gemeinde, wie Marcel Reich-Ranicki einmal schrieb, dass sie sogar, bei Tagebüchern nicht allzu häufig, als Taschenbücher erschienen.
Attraktiv sind wohl nicht die körperlichen Befindlichkeitsbeschreibungen, die sich so leicht parodieren lassen und so schnell zum Spott über einen so übertrieben hypochondrischen Charakter verführen. Es ist wohl vielmehr diese ungeheure Fülle an täglichen Lektüren, Begegnungen, Beobachtungen, Briefwechseln, Gedanken, Bildern, Zeitschriften, Kinofilmen, Theaterbesuchen, an Schallplatten- und Radio-Auditionen, politischen Nachrichten und ästhetischen Auseinandersetzungen, und eben auch an feinsten körperlichen und seelischen Empfindungen, wozu auch, was heute niemand mehr verschweigt, seine homosexuellen Neigungen gehören: Es ist dieses ganze tagtägliche Kaleidoskop, das uns Leser staunen und immer wieder auf den nächsten Tag im Tagebuch neugierig werden lässt. Was hat dieser Mensch alles an Leben in seiner ganzen großen und auch in seiner ganzen banalen Fülle an sich herangelassen und in sich aufgenommen?
Vielleicht liegt hier, in dieser übergroßen Sensibilität, ein Schlüssel – einer, nicht der Schlüssel! –, der uns die unvergleichliche Fülle seines eigentlichen literarischen Werkes begreifen lässt. Und vielleicht auch seines aktiven politischen Wirkens, vor allem seit Beginn der Exilzeit in Amerika.
Das menschliche Leben in seiner ganzen Fülle – ausprobiert, erfahren, erlitten an sich und in sich selbst, in den Tiefen und an den Oberflächlichkeiten des eigenen Lebens.
Und das menschliche Leben in seiner ganzen Fülle – dargestellt, plausibel gemacht einem staunenden Publikum in einem Werk, das an Themenfülle, an Stilformen und Sprachspielen seinesgleichen sucht; und das schließlich auch das politische Engagement, das Engagement für Humanität und Individualität, gerade in Zeiten der Inhumanität und des Faschismus, wie die fast selbstverständliche andere Seite seiner Arbeit erscheinen lässt: Wäre es das, was Thomas Manns bleibende Bedeutung begründet?
Für seine Werke haben Kenner Interpretationen und Analysen vorgelegt – nicht zuletzt in der "Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe", die einen vorbildlichen verlegerischen Umgang mit dem Erbe des großen Autors darstellt. Vieles würde uns heute verschlossen bleiben ohne die ausführlichen Erläuterungen, die gerade für uns heutige Leser gedacht sind.
Ich will, für meinen Gedankengang, nur an den Reichtum an Figuren in seinem Werk erinnern. Da sind die "Buddenbrooks". So nahe kommt Thomas Mann literarisch nie mehr seiner eigenen Herkunft, seiner Familie, seiner Vaterstadt – und doch ist hier, bei aller Wirklichkeitsnähe, alles Kunst, auch jede seiner Figuren. Diese Kunst macht den Roman bis heute zu einem der wohl meistgelesenen.
Dann der "Zauberberg": ein Abschied vom alten Europa, das sich symbolisch in einem Sanatorium versammelt. Ein Roman der Debatten, der intellektuellen Verwirrung und der Suche. Thomas Mann beginnt diesen Schlüsselroman einer letztlich großen Selbstrevision, einen Roman, in dem er selber Rechenschaft vor sich ablegt, schon vor dem Ersten Weltkrieg, schon vor 1914. Seine Kriegsreden und -schriften, seine "Betrachtungen eines Unpolitischen" – hier werden sie in den Streitgesprächen, ja auch in den innerlich zerrissenen Figuren selbst, einer neuen Prüfung unterzogen. Wir werden als Leser Zeugen einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung: Aufklärung und Humanismus gegen totalitäre Versuchungen bis hin zum Gottesstaat – alles wird gedanklich gewogen und ausprobiert. Der lange Weg führt den Autor, Thomas Mann, letztlich zu einer Konsequenz: Ein gedeihliches, ein freies Zusammenleben der Verschiedenen kann nur, so sagt er, in einer Republik, einer Demokratie gelingen, nur so kann die allgemeine Gereiztheit, die im "Zauberberg" als Vorahnung eines großen Krieges immer präsent ist, politisch und gesellschaftlich aufgelöst werden. In seiner Rede "Von deutscher Republik", in der er 1922 die Weimarer Demokratie entschieden verteidigt und als in unser aller Hände gegeben darstellt, zieht er öffentlich eindeutig diese politische Konsequenz.
Noch einmal zurück zum Roman: Hauptperson im "Zauberberg" ist Hans Castorp, ein Sorgenkind des Lebens
– wie wir alle, die wir unseren Weg in dieser zerrissenen Welt suchen. Ihm – und uns – begegnet ein Panoptikum von Personen. So sehr sie auch Vorbilder in der Wirklichkeit haben mochten: Sie alle sind Kreationen im Kopf des Autors; von hervorstechenden Merkmalen über die Eigentümlichkeiten des Sprechens bis hin zu den allerkleinsten Tics: ganz und gar ausgedacht, aber gleichzeitig auch ganz und gar lebendige, jedem Leser sofort und für immer vor Augen stehende Menschen.
Seinen größten Roman, "Joseph und seine Brüder", lässt Thomas Mann dann zu biblischen Zeiten spielen. Die kurze alttestamentliche Josephs-Geschichte baut er zu einem regelrechten Erzähluniversum aus. Sicher: Es ist große Kunst, glaubwürdige Personen dieser uralten Welt erstehen zu lassen, es ist auch große Kunst, dafür einen ganz eigenen Sprachstil zu finden. Ganz große Kunst ist es aber vor allem, einen Roman über Religion zu schreiben und gleichzeitig eines der klügsten Bücher über die "condition humaine", die Bedingungen menschlichen Daseins in all seinen Dimensionen.
Die entschiedene Humanität Thomas Manns, die "Joseph und seine Brüder" literarisch so prägt, schließt natürlich auch Betrug, Verrat, Verbrechen, ja jede Art von Sünde nicht aus. Aber es regiert hier ein Blick tiefen Verstehens, ein Blick gnädigen Verzeihens, eine Andeutung fast himmlischen Erbarmens. Und der Stil, im biblisch klingenden Tonfall, ist von schmerzlich-wissender, manchmal auch von freundlich-gelassener Ironie geprägt. Er offenbart Satz für Satz das Wissen um jede denkbare menschliche Größe, aber auch um alle denkbaren menschlichen Schwächen. Das vor allem macht die Humanität dieses großen Werks aus.
Diesem Blick zugrunde liegt das zentrale Thema dieser Tetralogie: die Humanisierung der Religion. Wie Abraham Gott entdeckte
heißt ein Kapitel in zweiten Band – und man könnte auch sagen: Wie Abraham Gott erfand. Wie aus uralten Stammestraditionen, gemischt mit Traditionen aus Ägypten, eine Religion entsteht, die den Ewigen mit den sterblichen Menschen kommunizieren lässt – Missverständnisse und Konflikte mit eingeschlossen. Darstellung einer Humanisierung von Religion: Das ist das kühne Projekt Thomas Manns, und es verbindet nicht nur Religion mit Humanität; es ist am Ende auch – sehr verkürzt gesagt – der Versuch einer Darstellung guter, humaner Politik und Thomas Manns Forderung solcher Politik.
Denn: Eine unerhörte Gnade lässt Joseph in Ägypten vom Verstoßenen seiner Brüder zum Premierminister des Pharao werden. Dessen Wirken zeigt die Verwirklichung einer sozialen und humanen Politik, wie sie Thomas Mann in diesen Jahren selber bei Franklin D. Roosevelt und seinem New Deal in Amerika kennengelernt und damals bewundert hatte.
Thomas Mann, so kann man sagen, hat "Joseph und seine Brüder" 1926 mit seiner biblisch-jüdischen Thematik, ja: als antifaschistisches Romanprojekt begonnen, als ein bewusstes Zeugnis der Verbundenheit deutscher und jüdischer Kultur. Die Freundin Ida Herz schreibt ihm im Dezember 1933: Was […] uns deutsche Juden an Ihrem Werk so besonders rührt: es ist für uns die Inkarnation der liebenden Verschmelzung des deutschen Geistes mit dem jüdischen.
Gleichzeitig verstand Mann sein Werk auch als Zeugnis der Verwurzelung des Christentums in seiner unaufgebbaren jüdischen Herkunft. Und dazu, siebzehn Jahre nach Beginn des ersten Bandes, erscheint 1943, zwei Jahre vor Ende des Krieges, der letzte Band, gleichnishaft mit einem Lob auf humane, soziale, das Individuum wertschätzende Politik.
Inzwischen hatte Thomas Mann selber eine politische Aktivität entwickelt wie noch nie zuvor. Er war, wie es jüngst der Literaturwissenschaftler Kai Sina dargestellt hat, zu einem politischen Aktivisten geworden.
Zwar hatte er schon 1926, genau als er "Joseph und seine Brüder" zu schreiben begonnen hatte, dem neu belebten zionistischen "Komitee Pro Palästina" ein entschiedenes Grußwort gewidmet; zwar hatte er schon 1922 sein Bekenntnis zur Republik abgelegt und schließlich Anfang 1937 in seinem offenen Brief an die Bonner Universität den endgültigen Bruch mit jenem Deutschland des Rassenwahns und der Gewalt öffentlich gemacht – aber erst jetzt wurde er zu dem, was man zu Recht, wie gesagt, einen politischen Aktivisten nennen kann.
Unermüdlich reist der nun bald Siebzigjährige in anstrengenden Vortragstourneen in große und kleine Städte der Vereinigten Staaten, er wirbt für den Kampf gegen den Faschismus, für die Demokratie. Getragen von der Überzeugung, dass nur in der Demokratie die Individualität eines jeden Menschen, seine Würde und die Entfaltung wahrer Humanität gesichert sein können.
Das praktische Christentum spielt dabei für Thomas Mann eine immer größere Rolle. Dazu trug Präsident Roosevelt bei, der, wie Mann sagt, Religion als sozialen Fortschritt im Zeichen der Gottesfurcht
verstand, als Achtung vor dem Individuum und was man hier ‚mercy‘ nennt, Erbarmen, Güte
. Auch Manns Engagement in der First Unitarian Church of Los Angeles gehört dazu, in der er seine Enkel taufen lässt und gelegentlich predigt. Christentum, schreibt Thomas Mann 1949, ist die Demokratie als Religion – wie man sagen kann, dass die Demokratie der politische Ausdruck des Christentums ist
. Warum schreibt er das? Er schreibt es vielleicht auch, so verstehe ich es, gegen alle, die damals und zu allen Zeiten und allerorten Religion für autoritäre Ziele in Anspruch nehmen und missbrauchen.
Das bedeutendste Engagement gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft sind vielleicht die Radioansprachen, die Thomas Mann im Krieg über den deutschsprachigen Dienst der BBC an seine "Deutschen Hörer" richtet. Mit allen Mitteln wirkungsvoller Rhetorik, ohne Schnörkel, wie es sonst kaum seine Art war, ohne Angst vor plakativen Formulierungen, vielmehr mit Sarkasmus, mit Polemik, mit unverhohlener Verachtung für Diktatur und ihre willigen Vollstrecker. Ein ums andere Mal auch mit grimmigen Voraussagen des gerechten Schicksals, das den deutschen Verbrechern und allen, die ihnen willig folgen, blühen werde.
Und er klärt auf, er klärt über das auf, von dem viele nicht wissen wollten – und später nicht gewusst haben wollten: Er spricht von den Konzentrationslagern, von dem Schicksal der Juden. Er erzählt von der Aktion der Geschwister Scholl und ihrer Verurteilung zum Tod. Von den unaufhörlichen Lügen der Propaganda. Vor allem aber verbittet er sich, dass ausgerechnet die an Verbrechen gegen die Menschlichkeit Schuldigen die deutsche Kultur und deren Verteidigung für sich reklamierten dürften. Und wenn es ihn auch große innere Überwindung kosten muss, der doch Deutschland und die großen Zeugnisse seiner Kultur wie kaum jemand verstand und liebte, rechtfertigt er den alliierten Bombenkrieg.
In der Schreibwerkstatt seines Hauses in Pacific Palisades wurden all diese Polemiken, auch die unzähligen Vorträge, Essays und Briefe geschrieben, mit denen Thomas Mann auch politisch Einfluss zu nehmen versuchte. Erst vor wenigen Jahren konnten wir dieses Haus, das "Weiße Haus des Exils", möglicherweise vor dem Abriss retten. Dieses Haus war für viele Jahre Thomas Manns Familiensitz, Werkstatt und zugleich Treffpunkt von vielen aus Nazideutschland vertriebenen Künstlern, Autoren und Intellektuellen wie Bruno Walter, Bruno Frank, Lion Feuchtwanger, und natürlich auch seinem Bruder Heinrich und vielen anderen. Dieses Haus ist heute ein so wichtiger Ort des Austausches in einem schwierig gewordenen transatlantischen Dialog geworden.
Und hier schreibt der Zauberer, selbst während seines kräftezehrenden Engagements, immer weiter auch an neuen Werken. Zwei besonders bemerkenswerte erscheinen kurz nach dem Krieg, "Doktor Faustus" und "Der Erwählte". Die Besprechungen in den deutschen Feuilletons waren zu großen Teilen niederschmetternd. Wer Kritiken aus dieser Zeit in den kommentierten Ausgaben nachliest, ist noch heute erschüttert: Wie sehr versuchten auch solche, die eben noch Parteigenossen, SS-Angehörige oder treue Mitläufer waren, unter dem Deckmantel literarischer Kritik Exilierten und Emigranten wie Thomas Mann Treulosigkeit und Verrat nachzusagen. Selbstkritik war nicht eben weit verbreitet in den ersten Jahren nach dem Krieg, von Reue gar nicht zu sprechen. Das hier sich spiegelnde kulturelle Klima war von demokratischer, humanitärer Gesinnung noch sehr weit entfernt. Ich erspare uns Namen und Zitate – es ist ja, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun, für jeden, der will, alles nachlesbar.
Viel wichtiger ist: Thomas Mann schrieb weiter. Und je länger, umso wichtiger wurde für ihn der Humor. Über seinen Josephs-Roman schreibt er 1945 rückblickend: Er habe geglaubt und gehofft, ein wenig höhere Heiterkeit […] in eine verfinsterte Welt gebracht
zu haben. Und 1947 bekennt er: Das Komische, das Lachen, der Humor erscheinen mir mehr und mehr als Heil der Seele […] Wer zur Zeit von Hitlers Siegen den ‚Joseph‘ schrieb, wird sich auch vom Kommenden nicht unterkriegen lassen.
Thomas Mann ist nur noch gelegentlich, nie mehr dauerhaft nach Deutschland zurückgekehrt. Auch nicht mehr nach Amerika, das sich gewandelt hatte, in dem er von der in den 1950er Jahren wachsenden Intoleranz zum einen zutiefst enttäuscht war und selbst sogar Verfolgung befürchten musste. Aber ob er sich das heutige Amerika hätte vorstellen können, in dem Kunst und Wissenschaft, in dem Universitäten, die zum Stolz dieses freien Landes gehörten, das ihm Zuflucht gewährt hatte, gefährdet sind; dass diese Toleranz im Kern bedroht ist? Jedenfalls wusste er und sagte es in einer hellsichtigen Rede von 1938, dass Demokratie heute kein gesichertes Gut, dass sie angefeindet, von innen und außen her schwer bedroht, dass sie wieder zum Problem geworden ist
. Seine Botschaft, wie wir sie heute verstehen: Die Demokratie – einmal errungen – sie bleibt nur, wenn die Menschen sich in ihr und für sie einsetzen, wenn sie sie verteidigen.
In seinem letzten Exil, in der Schweiz, ist Thomas Mann gestorben und begraben worden – bis zum Schluss immer auch ein Außenseiter, mit dem betont bürgerlichen Habitus als lebenslangem Schutz.
Inzwischen ist er geworden, was er sich wohl erträumt hatte: ein deutscher Klassiker. Durch die großen Editionen, durch Gedenkfeiern und Jubiläen wie dieses hier, und nicht zuletzt durch jede einzelne Lektüre.
Wer immer sich heute von Thomas Mann verzaubern lässt, der macht sich auf eine Reise voller Überraschungen – für drei Wochen oder für sieben Jahre: zu großen menschlichen Erfahrungen, zu ein bisschen höherer Heiterkeit
, aber auch zu Humanität und Freiheit, deren Voraussetzungen Demokratie und das Engagement für sie sind.
Eine Bemerkung zum Schluss: Noch in seiner letzten Rede, hier in Lübeck, im Mai 1955 zur Verleihung der Ehrenbürgerschaft, nur drei Monate vor seinem Tod, hat Thomas Mann an seinen Deutschlehrer erinnert, den Ordinarius der Untersekunda
, wie man damals sagte. Der habe einst, als man in der Klasse Schiller las, darüber befunden: Das ist nicht das erste-beste, was Sie lesen, das ist das Beste, was Sie lesen können!
An diesem 150. Geburtstag dürfen wir das wohl einmal auch auf ihn selber beziehen, den Untersekundaner aus Lübeck, der zu einem der größten deutschen Autoren wurde, auf Thomas Mann. Ich versichere Ihnen: Das ist das Beste, was Sie lesen können.