"Leuchtende Vorbilder, die uns zeigen, wie wichtig es ist, Hass und Intoleranz entgegenzutreten"

Schwerpunktthema: Rede

Santiago de Chile, , 4. März 2025

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat Ana María Wahrenberg und Rudi Haymann mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. "Sie beide haben sich um Deutschland, um unser Land in herausragender und bewundernswerter Weise verdient gemacht", würdigte er die Verdienste der beiden Ausgezeichneten.

Es zählt zu den schönsten Aufgaben eines deutschen Bundespräsidenten, Menschen für das auszuzeichnen, was sie für andere oder unser Land getan haben und tun. In Berlin – gelegentlich auch in anderen Regionen Deutschlands – habe ich Gelegenheit, solche Verdienste zu würdigen. Wenn ich das heute sozusagen am anderen Ende der Welt, 13.000 Kilometer von Berlin entfernt, tun darf, ist das zwar außergewöhnlich, aber nicht weniger wichtig. Auch hier in Chile begegnen wir unserer Geschichte, der Erinnerung an millionenfachen Mord, den Deutsche an Juden verübt haben. Wohin wir als Deutsche gehen, unsere Geschichte begleitet uns, und die Verantwortung aus dieser Geschichte auch. Wir können ihr nicht entfliehen, wir können sie nicht ignorieren. Sie ist Teil von uns. Die Shoah bleibt Teil von uns. Sie ist eine Geschichte der Täter und eine Geschichte der Opfer.

Und genauso, wie es für uns keinen Schlussstrich unter unsere Verantwortung geben kann, gibt es nur wenige Orte, so entlegen sie auch sein mögen, an denen diese Erinnerung nicht fortlebt. Wer wüsste das besser als Sie beide, liebe Frau Wahrenberg, lieber Herr Haymann! Sie leben Ihre Leben im Zeichen der Erinnerung und der Versöhnung. Für Ihr jahrzehntelanges Engagement gegen das Vergessen, für Zivilcourage und Menschlichkeit darf ich Sie heute mit dem Bundesverdienstkreuz auszeichnen.

Sehr geehrte Frau Wahrenberg, Sie wurden 1930 in Berlin geboren und wanderten neun Jahre später, nach den Schrecken der Pogromnacht des 9. November 1938, mit Ihren Eltern nach Chile aus. Gerade noch rechtzeitig, denn mehr als zwanzig Ihrer Angehörigen, die geblieben sind, darunter Ihre Großeltern, wurden während der Shoah ermordet. 1970 zog es Sie gemeinsam mit Ihrem Mann zurück nach Berlin, wo Sie ein anderes Deutschland kennenlernten. Ein Land, das endlich damit begonnen hatte, seine Vergangenheit aufzuarbeiten. Als Sie dann dreizehn Jahre später wieder zurückgingen nach Chile, brachten Sie auch ein anderes Bild ihrer alten Heimat in die neue Heimat mit.

Sie wurden zur Mittlerin zwischen den Generationen und zur starken Stimme gegen Hass und Ausgrenzung. Wichtig ist doch immer der Mensch selbst, das ist Ihre tiefe Überzeugung, und genau das ist es auch, was Sie besonders an junge Menschen weitergeben möchten. Ihnen ist es ein Herzensanliegen, dass Kinder und Jugendliche die Geschichte aus erster Hand kennenlernen. Gleichzeitig leben wir in einer Zeit, in der das Wissen um den Holocaust in der jüngeren Generation weltweit schwindet und Zeitzeugen immer weniger werden.

Das macht uns auf schmerzliche Weise deutlich, wie kostbar Ihr Engagement ist. Bei unzähligen Besuchen in Schulen, mit Ihren Vorträgen und Publikationen, vor allem aber mit Ihrer offenen, charismatischen Art sprechen Sie junge Menschen an und halten Ihre Geschichte lebendig, Ihre Geschichte als Teil dunkelster Jahre deutscher Geschichte. Wir alle wissen, wir müssen neue Formen finden, um die Erinnerung zu bewahren und weiterzugeben. Aber wir dürfen und wir werden nicht darin nachlassen, die Erinnerung an die Nachkommenden weiterzutragen, damit nicht wieder geschieht, was einmal geschehen ist – das verspreche ich Ihnen, liebe Frau Wahrenberg!

Sie, liebe Frau Wahrenberg, haben es sich zur Aufgabe gemacht, an die Shoah zu erinnern und ihren Opfern und den Überlebenden auch hier in Chile eine Stimme zu geben. Eine Stimme der Versöhnung und der Verständigung. So sind Sie ein bewundernswertes Vorbild für Toleranz, Menschlichkeit und Zivilcourage. Dafür werden Sie heute geehrt.

Lieber Herr Haymann, auch Sie führen, wie Frau Wahrenberg, bis zum heutigen Tage ein Leben, das ganz im Zeichen der Versöhnung, des Erinnerns und der Gestaltung einer besseren Zukunft steht. Und auch Ihre Geschichte ist eine ganz besondere. Sie wurden 1921 ebenfalls in Berlin geboren und kamen im Jahr 1938 im Teenageralter im Rahmen eines Kindertransports nach Haifa, in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina, und waren einer der Mitbegründer des Kibbuz Beit Zera im Norden des heutigen Staates Israel.

Später, als die Nationalsozialisten in Nordafrika vorrückten, meldeten Sie sich freiwillig zu den britischen Streitkräften und arbeiteten aufgrund Ihrer umfassenden Kenntnisse über Deutschland mit dem britischen Geheimdienst zusammen. Als mutiger, unerschrockener Soldat waren Sie an der Befreiung Roms und später bei Kriegsende an der Verhaftung von NS-Verbrechern in Italien beteiligt. Sieben Jahre nach Ihrer Flucht aus Deutschland wurden Sie von Rom aus als „siegreicher britischer Soldat“ nach Berlin versetzt – und dort trafen Sie Ihren Onkel wieder, der das Konzentrationslager Theresienstadt überlebt hatte. Alle anderen jüdischen Familienmitglieder, mit Ausnahme Ihrer nach Chile entkommenen Eltern, hatten den Holocaust nicht überlebt.

Was für ein Glück muss es gewesen sein, dass Sie hier in Chile nach zehn Jahren Ihre Eltern wiedersehen konnten. Und Sie machten hier eine beeindruckende Karriere als Innenarchitekt. Vor allem aber erzählten Sie immer wieder Ihre Geschichte des Widerstands, Ihren Weg vom Verfolgten zum Soldaten. Und – besonders beeindruckend – Sie erzählen sie ohne Groll oder Zorn. Vielmehr mahnen Sie immer zum Frieden und setzen sich Ihr Leben lang für Versöhnung und Demokratie ein.

Mit dem Erzählen Ihrer Geschichte, mit Ihrer Autobiographie haben Sie einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit geleistet und nachfolgenden Generationen ein Zeitdokument von größter Bedeutung hinterlassen.

Frau Wahrenberg und Herr Haymann sind leuchtende Vorbilder, die uns zeigen, wie wichtig es ist, Hass und Intoleranz entgegenzutreten, gerade in der jetzigen Zeit. Sie beide haben sich um Deutschland, um unser Land in herausragender und bewundernswerter Weise verdient gemacht. Ein Land, das ihnen einst die Heimat nahm und dem sie den so viel zurückgaben. Wir können für dieses große Geschenk nicht dankbar genug sein. Liebe Frau Wahrenberg, lieber Herr Haymann, es ist für unser Land eine Ehre, dass Sie diese Orden tragen.

Vielen Dank, dass Sie heute hier sind! Und nun freue ich mich, Ihnen den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verleihen zu dürfen. Meine herzlichen Glückwünsche im Namen unseres ganzen Landes!