"Wir müssen Wege finden, um unseren Staat wirksamer zu machen"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 12. November 2024

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Schirmherrschaft der "Initiative für einen handlungsfähigen Staat" übernommen. Der Staat müsse die Menschen dabei unterstützen, ihre Potenziale auszuschöpfen, sagte er bei der Auftaktveranstaltung. "Wenn wir die Handlungsfähigkeit unseres Staates stärken, dann stärken wir auch das Vertrauen in unsere Demokratie."

Seit einigen Tagen befinden wir uns in der Tat in einer außergewöhnlichen innenpolitischen Lage. Deshalb lassen Sie mich gleich zu Beginn klarstellen: Die "Initiative für einen handlungsfähigen Staat“, die wir heute gemeinsam starten mit Ihnen allen, das ist nicht die Reaktion auf die Entwicklung seit Mittwochabend vergangener Woche. Denn dieses Projekt wird seit Monaten vorbereitet, und der Termin für den heutigen Start stand seit Langem fest. Wichtiger noch: Diese Initiative, der Menschen mit ganz unterschiedlichen parteipolitischen und politischen Auffassungen angehören, sollte nie und soll auch jetzt kein Kommentar zur Tagespolitik oder zu bestimmten Regierungskonstellationen sein.

Ganz im Gegenteil, könnte ich sogar sagen: Gerade weil Blockierungen und Erstarrungen nicht über Nacht, nicht einmal in nur einer Legislaturperiode entstehen, will die Initiative eben über den Tag hinausdenken. Sie ist bewusst breit und langfristig angelegt. Sie will Vorschläge erarbeiten, um unseren föderalen Rechts- und Sozialstaat, seine Leistungen, seine Angebote im Interesse der Bürgerinnen und Bürger schneller, wirksamer, klarer und zuverlässiger zu machen – ob es um Föderalismus oder Verwaltung geht, um Wirtschaft und Standort, Bildung und Soziales, Resilienz und Sicherheit, um Digitalisierung, Energiepolitik oder manchen Wandel unserer Gesellschaft.

Unser Land braucht eine handlungsfähige Regierung. Wie das rasch und von den Verfahren her zuverlässig geschehen kann, darüber rede ich im Augenblick an anderen Tischen mit den Beteiligten. Je eher es einen gemeinsamen Fahrplan gibt, umso besser.

Aber: Jenseits davon, zugleich und davon unabhängig brauchen wir aber auch einen prüfenden Blick auf unseren Staat und seine Strukturen. Denn ich bin überzeugt: Wenn die freiheitliche Demokratie heute auch in unserem Land wieder angefochten wird, dann hat das jedenfalls auch damit zu tun, dass Menschen unzufrieden mit dem Zustand und der Leistungsfähigkeit ihres Staates sind. Das Vertrauen bei vielen Bürgerinnen und Bürgern in die Problemlösungskraft, in die Entscheidungsfähigkeit und deshalb in die Nützlichkeit der freiheitlichen Demokratie, ihrer Institutionen und Repräsentanten, dieses Vertrauen hat ganz offenbar gelitten; ist in Teilen der Gesellschaft sogar erodiert.

Wir alle erleben in unserem Alltag, dass unser föderaler Rechts- und Sozialstaat an manchen Stellen nicht so funktioniert, wie er funktionieren könnte, wie er funktionieren sollte. Und wir erleben, dass unser Staat nicht das liefert und leistet, was wir von ihm erwarten; dass er dem Anspruch, den wir selbst an unser Land haben, zu häufig nicht gerecht wird. Wenn Züge verspätet oder gar nicht fahren, wenn es mancherorts immer noch kein schnelles Internet gibt, wenn Brücken kaputt, Stromnetze überlastet, Schulgebäude baufällig sind, dann bröckeln eben nicht nur Wände, dann bröckelt auch das Vertrauen in unseren Staat und seine Einrichtungen. Und genau das nimmt uns eben den Schwung, den wir in dieser Zeit so dringend brauchen!

Deshalb dürfen wir keine Zeit verlieren. Wir müssen Antworten auf die Frage finden, wie wir unseren Staat besser handlungsfähig machen können. Und genau das wollen Sie, liebe Gäste, in den kommenden Monaten tun. Ich freue mich, dass die Initiative für einen handlungsfähigen Staat heute ihre Arbeit aufnimmt. Und ich freue mich, dass Sie alle hier im Saal bei dem Auftakt mit dabei sind. Seien Sie uns deshalb herzlich willkommen hier im Schloss Bellevue!

Der Film, den wir eben gesehen haben, der vermittelt so ein wenig von der Stimmung, die mir jedenfalls immer wieder begegnet und begegnet ist. Dann, wenn ich meinen Amtssitz für mehrere Tage in kleinere oder mittelgroße Städte im Land verlege. Ja, viele Menschen sind besorgt wegen der allgegenwärtigen Krise. Das stimmt, und das ist keine Überraschung. Aber viele, die während meiner Ortszeiten auf mich zukommen, sind auch in dieser schwierigen Zeit voller Mut und voller Tatkraft. Viele wollen loslegen, Veränderung voranbringen, Zukunft gestalten in ihrer Stadt. Aber sie müssen eben auch zu häufig erleben, dass staatliche Strukturen sie eher behindern und bremsen, weil zum Beispiel Spielräume für pragmatisches Handeln fehlen oder sich Vorgaben verschiedener Behörden aneinander reiben und sich gegenseitig widersprechen.

Wenn ich das so sage, dann hat das nichts mit meinen grundsätzlichen Zweifeln an Staat und Verwaltung zu tun. Denn staatliche Regeln und Kontrolle sind natürlich nicht per se fragwürdig, sondern staatliche Regeln und Kontrolle dienen zunächst einmal einem von demokratischen Mehrheiten beschlossenen politischen Zweck. Rechtssicherheit, soziale Gerechtigkeit, fairer Wettbewerb, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Datensicherheit, vieles andere mehr – all das ist nach meiner Überzeugung ohne Staat und ohne Regeln nicht zu haben. Und vielleicht sind wir in Deutschland noch ein bisschen mehr als andere darauf bedacht, dass es zu keinerlei Bevorzugung, zu keinerlei Benachteiligung gegenüber anderen Leistungsbeziehern, gegenüber anderen Wettbewerbern kommt.

Ganz unterschiedliche Regierungskoalitionen haben deshalb in ihrer jeweiligen Amtszeit, wahrscheinlich oft in jeweils bester politischer Absicht, neue Regeln und Vorschriften geschaffen. Der Ruf nach Entbürokratisierung ist allgegenwärtig und unbestreitbar berechtigt, aber wenn Sie mich fragen immer auch ein bisschen vordergründig. Hohe und höchste individuelle Erwartungen an den Staat führen in der Folge häufig genug zu administrativen Prozessen, mit anderen Worten zu Bürokratie. Deshalb geht es für mich nicht nur um Entbürokratisierung. Wir müssen – ganz zentral, finde ich – auch unsere Erwartungen an den Staat überprüfen. Deshalb spreche ich weniger von Entbürokratisierung, sondern lieber von Staatsreform.

Dazu zählt auch die Beziehung zwischen den staatlichen Ebenen – zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Beispiel: Setze ich den Schwerpunkt auf möglichst gleichförmige Umsetzung von gesetzgeberischen Zielen, dann sind Verfahren und Vorschriften, die genau das sicherstellen sollen, kaum zu vermeiden. Setze ich den Schwerpunkt eher auf Zweckerreichung und weniger auf gleiche Verfahren und gleiche Entscheidungskriterien, dann ist das in Zeiten hoher Mobilität, in denen Menschen ihren Wohnort und das Bundesland wechseln, auch nicht ohne Folgeprobleme. Beim Thema Bildung sind die Debatten alt und jedem bekannt.

Ein ähnliches Spannungsverhältnis erleben wir hinsichtlich demokratischer Legitimation durch breite Beteiligung von Bürgern und Interessengruppen auf der einen Seite und der Effektivität und Effizienz des Staatshandelns auf der anderen Seite. Mit anderen Worten: Die Legitimation des demokratischen Staates leidet, wenn Bürgerinnen und Bürgern am Prozess der Entscheidungsfindung nicht beteiligt sind. Sie leidet aber auch, wenn das Maß an Beteiligung dazu führt, dass Lösungen in immer größeren Zeitabstand zur Problementstehung geraten. Das ist natürlich kein Plädoyer gegen Beteiligungsverfahren. Aber was ich sagen will: Die Balance von In- und Output der Demokratie, die muss immer wieder neu hergestellt werden.

Auch die in Deutschland ausgeprägte Klagebereitschaft führt gelegentlich dazu, dass Vorschriften immer enger, immer detaillierter ausgestaltet werden. Wem sage ich das? Kaum ein Bebauungsplan, kaum eine Erschließungssatzung, kaum ein Ergebnis eines Ausschreibungsverfahrens, das nicht beklagt wird. Dagegen ist nichts zu sagen. Nur: Jede erfolgreiche Klage führt in der Regel auf Seiten der Verwaltung dazu, dass Verfahrenskriterien geschärft, oft genug erweitert werden, um dann zukünftige Klagerisiken zu vermindern.

Nicht zuletzt erleben wir, dass Neues geregelt wird, ohne dass Altes in Frage gestellt wird; dass Vorschrift auf Vorschrift gehäuft wird. Gerade bei untergesetzlichen Regelungen gibt es weder ein Verfallsdatum noch eine regelmäßige Überprüfung.

Ich erinnere mich selbst, dass ich vor vielen Jahren – dreißig Jahren jetzt schon – in Niedersachsen damals in der Landesregierung mal mit einem Entbürokratisierungsprozess betraut war, bei dem ich zu überprüfen hatte, wie viele Berichte eigentlich jährlich in einer Landesregierung eingehen, veranlasst werden. Und wir sind auf das erstaunliche Ergebnis – die Zahl ist nicht das Thema –, auf 1400 Berichte gekommen, für die jemand arbeiten muss, ganze Stäbe arbeiten müssen, um sie jedes Jahr aktualisiert zu halten. Einer der Berichte, auf die wir gestoßen sind, hatte die Überschrift "Kartoffeln nach Berlin“. Jetzt müssen Sie sich vorstellen: Dieses Projekt lief im Jahre 1994/1995. "Kartoffeln nach Berlin“ war ein Thema während der Berlin-Blockade, in der aus Niedersachsen Nahrungsmittel, unter anderem Kartoffeln, nach Berlin geliefert wurden. Die Blockade war 45 Jahre vorbei, den Bericht gab es immer noch. Das hat niemanden gestört, weil man 45 Jahre lang diesen Bericht jedes Jahr mit Fehlanzeige beantwortet hat. Ich nehme das nur als Beispiel, dass, glaube ich, die Vermutung gerechtfertigt ist, dass es viele solche Berichte und Berichtspflichten gibt, die die Überprüfung verdienen.

Ich verzichte auf weitere Beispiele. Aber was ich sagen will: Im Laufe der Jahre ist auf diese Weise ein Regulierungsdickicht entstanden, das selbst Fachleute manchmal kaum durchschauen. Oft ist nicht mehr zu erkennen, wo die Entscheidungen fallen und wer für ihre Umsetzung verantwortlich ist. Und im Verlaufe des europäischen Integrationsprozesses ist die Komplexität eher noch gewachsen. Mit anderen Worten: Wer schon mal eine Schraube angezogen hat, der weiß, nach fest kommt lose. So ähnlich ist es auch bei der Regulierung: Wer seine Sache überdreht, erreicht manchmal das Gegenteil des Gewünschten. Regeln, die Klarheit schaffen sollen, vermehren dann die Verwirrung und führen bei Bürgerinnen und Bürgern eher zu Frust.

Und bei meinen Ortszeiten bekomme ich genau das zu hören: Da ist der Chef einer Baufirma, der sich um einen öffentlichen Auftrag bewerben, den öffentlichen Auftrag übernehmen will und dann aber auf höchst anspruchsvolle Ausscheibungsvorschriften trifft, die er ohne zusätzliche Arbeitskraft für sein Unternehmen gar nicht abarbeiten kann, als Handwerker oder kleines, mittelständisches Unternehmen. Da ist die Handwerksmeisterin, die sich mit ihren Berichtspflichten, Aufzeichnungspflichten völlig überfordert fühlt; der Glasproduzent, der Fachkräfte aus dem Ausland einstellen muss und einstellen will, aber dabei an bürokratischen Hürden scheitert; der pflegebedürftige Rentner, dem es unmöglich ist zu verstehen, welche staatlichen Leistungen er bei welcher Stelle mit welchem Formular beantragen muss; die berufstätige Mutter, die ihre Amtsangelegenheiten gern digital erledigen würde, aber mit Papierstapeln zum persönlichen Termin bei der Behörde erscheinen muss. Das ist nur das eine; es gibt auch das andere: die ältere Frau, die mir gegenüber empört über die da oben geschimpft hat. Warum? Nicht weil es zu wenig Digitales gibt, sondern weil sie die Erfahrung gemacht hat, dass man in den Behörden ja mit keinem mehr telefonieren und mit keinem mehr sprechen kann. Und sie sagt halt: Wir brauchen nicht noch mehr Digitales, wir brauchen mehr Beratungsstellen, wo man hingehen kann! Das ist der Widerspruch, mit dem wir zurechtkommen müssen.

Und da sind, ganz wichtig, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister – einige sind heute hier im Saal –, die viele gute Ideen für ihre Städte und Gemeinden haben, aber nicht selten erleben müssen, dass die Vielzahl und Dichte der Regeln ihnen wenig oder kaum Spielräume lässt. Ich lade immer wieder, die Bürgermeister wissen das, Gruppen von Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen ein und höre dann, dass manche von ihnen so viel damit zu tun haben, die Vorgaben, die sie haben, zu durchdringen, umzusetzen und zu beaufsichtigen, dass ihnen manchmal schlichtweg die Zeit fehlt, sich um das zu kümmern, was sie sich vorgenommen hatten beziehungsweise wofür sie gewählt wurden.

Ohne einen leistungsfähigen Staat geht es nicht! Gerade heute, in dieser Zeit der Krisen und Veränderungen, brauchen wir einen Staat, der die vielen engagierten Menschen in unserem Lande bestmöglich dabei unterstützt, ihre Potenziale auszuschöpfen. Einen Staat, der seinen Teil tut, um die Kräfte, die in Wirtschaft und Gesellschaft stecken, besser zur Entfaltung zu bringen. Die diesjährigen Wirtschaftsnobelpreisträger haben gezeigt und darauf hingewiesen, wie wichtig rechtsstaatliche Institutionen für Wachstum und Wohlstand sind.

Aus vielen Gründen müssen wir deshalb Wege finden, um unseren Staat, seine Behörden und Einrichtungen leistungsfähiger zu machen, will sagen bürgernäher, moderner, klarer, verlässlicher und vor allen Dingen wirksamer. Es geht darum, den Werkzeugkasten des Staates aufzuräumen, einzelne Werkzeuge zu schärfen, damit er Probleme schnell und gut lösen und Leistungen schnell und gut erbringen kann! Ich behaupte nicht, dass das eine leichte Aufgabe ist. Aber es ist, davon bin ich überzeugt, eine lohnende Anstrengung im Dienst unserer Demokratie!

Deshalb bin ich sehr froh, dass die Gründer der "Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ vor einiger Zeit auf mich zugekommen sind. Wir haben in den letzten Monaten einige Male zusammengesessen, diskutiert, und ich habe sehr gern die Schirmherrschaft über dieses Projekt übernommen. Die Initiatorin und die Initiatoren werden uns gleich selbst erläutern, was sie sich vorgenommen haben. Mir persönlich war es sehr wichtig, dass diese Initiative keine reine Expertenkommission im ganz klassischen Sinne ist. Denn sie setzt besonders auch auf das Wissen und die Erfahrung von Praktikern, von Oberbürgermeistern, Unternehmerinnen, Handwerkern, Schulleiterinnen und vieles andere mehr.

Ich danke jedenfalls allen, die sich in den kommenden Monaten in den Arbeitsgruppen einbringen wollen. Ich danke den beteiligten Stiftungen für ihre Unterstützung! Ihnen hier im Saal und allen anderen, dass Sie sich mit Ihrer Zeit dieser anspruchsvollen Aufgabe widmen. Ihnen allen meinen herzlichen Dank!

Ich wünsche mir, dass Sie kreative und greifbare Vorschläge entwickeln, dass Ihre Empfehlungen breit diskutiert werden, dass Sie Politik und Verwaltung zu Reformen anregen können. Und mir ist sehr bewusst: Das ist alles leichter gesagt als getan. Es wird nicht auf einen Schlag gelingen. Aber selbst wenn wir das wissen, darf das eben keine Ausrede sein, es nicht zu versuchen! Es wäre fahrlässig, finde ich, sich nicht auf den Weg zu machen! Denn wenn wir die Handlungsfähigkeit unseres Staates stärken, dann stärken wir, davon bin ich überzeugt, auch das Vertrauen in unsere Demokratie. Und ich finde, das ist jede Anstrengung wert!

Ich freue mich jetzt auf die Worte von Herrn Voßkuhle, Frau Jäkel, Herrn Rohe. Und ich bin gespannt auf die Diskussion, die danach kommt. Vielen Dank!