Was dort in der dunklen Tiefe liegt, ist Leben von unserm Leben.
Viele von Ihnen werden diesen Satz kennen, stammt er doch von einem der berühmtesten Vertreter Ihres Faches, von Ernst Curtius, dessen Name auch eng mit der Geschichte Ihres Instituts hier in Athen verbunden ist. Das Leben von unserm Leben
zu erforschen, es freizulegen und zu bewahren, damit wir uns ein Bild machen können, wie die Menschen in der Antike gelebt haben: Viel treffender lässt es sich wohl nicht formulieren, was Archäologen und Altertumsforscher in Europa seit Jahrhunderten angespornt hat – und es bis heute tut, wenn auch mit anderen, immer wieder neuen Fragestellungen.
Ohne die wissenschaftliche Vorarbeit, ohne die Leidenschaft des großen Gelehrten Ernst Curtius für die römische und vor allem für die griechische Antike wäre das bis dahin private archäologische Institut in Berlin wohl kaum in ein Reichsinstitut umgewandelt worden – und die Abteilung des heutigen Deutschen Archäologischen Instituts hier in Athen vielleicht niemals gegründet worden. Die Bewunderung der griechischen – und römischen – Antike, die auch uns Deutsche spätestens seit Johann Joachim Winckelmann erfasst und die deutsche Aufklärung und die Weimarer Klassik geprägt hat, sie fand mit der Gründung des DAI ihren wissenschaftlichen Kulminationspunkt. Es ist ja kein Zufall, dass Ihr Institut hier in Athen am 9. Dezember 1874, dem Geburtstag Winckelmanns, eröffnet wurde. Überall siehst Du Dich von ehrwürdigen Denkmälern des Altertums und herrlichen Werken der neuern Kunst und des reinsten Geschmacks umgeben
, schwärmt schon Glycera im Briefroman "Menander und Glycerion" von Christoph Martin Wieland. Athen, so heißt es dort weiter, lasse alle anderen Städte zu Dörfern verblassen – Athen, das der große Aufklärer übrigens nie gesehen hat. Die Bewunderung für das antike Griechenland, für die Wiege unserer Demokratie ist heute nicht mehr ganz so schwärmerisch. Ungebrochen ist sie dennoch. Kein Wunder also, dass es jedes Jahr Tausende von Deutschen hierher zieht, die die antiken Stätten besichtigen.
Ich gestehe, dass auch ich mich dieser Faszination nicht entziehen kann. Wie schön, dass ich bei dieser Reise, meiner vierten als Bundespräsident nach Griechenland, heute in diesem wunderschönen Gebäude im Herzen Athens mit Ihnen gemeinsam den 150. Geburtstag feiern kann. Herzlichen Dank für die Einladung, ich freue mich, dass ich dabei sein kann! Es gibt nur wenige deutsche Forschungseinrichtungen, die nicht nur auf eine so lange, sondern auch eine so glanzvolle Geschichte zurückblicken können – ich bin sehr gespannt auf die Ausstellung zu Ihrem Jubiläum, die wir gleich noch sehen werden.
Die Geschichte des DAI Athen ist mit einem weiteren großen Namen verbunden, der uns vor zwei Jahren aus Anlass des 200. Geburtstags intensiv beschäftigt hat, Heinrich Schliemann natürlich, dessen so verschlungener wie faszinierender Lebensweg ihn von einem Dorf im Mecklenburgischen nach Griechenland führte; nicht zu vergessen ein anderer Name, Wilhelm Dörpfeld, dem Grabungsarchitekten des Riesenprojekts in Olympia und späteren ersten Direktor des DAI. Und noch viele weitere Namen, die zu dieser Geschichte gehören. Ganz am Anfang war hier nur ein Wissenschaftler tätig, Otto Lüders, der erster Direktor dieses Instituts war, oder wie man damals noch sagte: Sekretär. Aber schon bald wuchs das DAI, und dieses architektonische Kleinod wurde ein Treffpunkt für Forscherinnen und Forscher aus vielen Ländern. Und ich kann gut verstehen, dass sich die Dachterrasse dieses Hauses mit ihrem großartigen Blick schon im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute! Wie schön, dass auch unser Empfang gleich dort stattfinden wird.
In den Zeitdimensionen Ihrer Disziplin, der Archäologie, mögen 150 Jahre kaum mehr als der sprichwörtliche Wimpernschlag sein. Aber was Sie in diesen eineinhalb Jahrhunderten freigelegt, erforscht, entdeckt haben, das beeindruckt nicht nur mich. Dass Sie von Beginn an zum Auswärtigen Amt gehörten, hat Ihre Arbeit geprägt. Sie sind bis heute ein wichtiger Akteur in der deutschen auswärtigen Kulturpolitik, an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik, und so haben Sie Ihre Rolle immer verstanden. Ihre Aufgabe ist heute, in einer Zeit, in der Wissenschaft immer häufiger in Misskredit gezogen wird und das Vertrauen bei manchen in wissenschaftliche Erkenntnisse schwindet, noch größer geworden.
"Digging it diplomatically" – besser könnte man Ihren Auftrag wohl kaum fassen. Seit 150 Jahren graben Sie in der Kultur und Geschichte einer anderen Nation, wie Sie, liebe Frau Sporn, es einmal gesagt haben – in enger und vertrauensvoller Zusammenarbeit mit den griechischen Behörden und mit griechischen und auch internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Wenn das keine hohe Diplomatie ist! Mehr als 160 Projekte haben Sie in dieser Zeit durchgeführt, von der Altsteinzeit bis zum Mittelalter, was für eine stolze Bilanz! Projekte, die über die Zeit fortbestehen, wie das im einstigen Heiligtum von Olympia, das nächstes Jahr sein 150-jähriges Jubiläum feiert. Welche Begeisterung die olympische Idee, die dort in der Antike ihren Anfang nahm, bis heute hervorrufen kann, das haben wir alle in diesem Sommer in Paris erlebt. Aber es kommen auch immer wieder neue Projekte und Aufgaben hinzu.
Sie, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des DAI Athen, Sie waren und sind wichtige Kulturvermittler und tragen mit Ihrer Arbeit entscheidend zu den guten Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern bei – Beziehungen, die auch Höhen und Tiefen hatten, wie auch die Geschichte Ihres Instituts. Ich möchte Ihnen allen heute für Ihre großartige Arbeit danken! Sie ist heute, in einer Zeit, in der unsere europäischen Demokratien stärker angefochten werden und wir alles dafür tun müssen, damit wir in Europa auch in Zukunft in Freiheit leben können, umso wichtiger!
Dass Sie auch die Geschichte des DAI Athen während der beiden Weltkriege und insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus, dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte, aufarbeiten, das möchte ich hier nicht unerwähnt lassen und Ihnen dafür herzlichen Dank sagen. Es ist wichtig, dass wir uns erinnern. Erinnern an die Verbrechen, die Deutsche auch hier in Griechenland begangen haben und die in Deutschland kaum bekannt sind. Es bewegt mich zutiefst, dass ich morgen gemeinsam mit Überlebenden und Angehörigen von Opfern der Massaker der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg an der Gedenkfeier in Kandanos auf Kreta teilnehmen kann. Ich bin überzeugt: Wir müssen uns erinnern an das, was geschehen ist, damit es nicht wieder geschieht. Und ich bin sehr dankbar, dass wir morgen gemeinsam gedenken und gemeinsam erinnern.
Dass wir uns erinnern, dass wir um unsere Anfänge, um die Anfänge der europäischen Zivilisation hier in Griechenland wissen, um das Leben von unserm Leben
, das ist Teil unserer Identität als Europäer. Denn dieses Leben und Denken prägt uns Europäer bis heute; auf den Anfängen im antiken Griechenland gründen unsere liberalen Demokratien.
Erinnerung freizulegen und zu bewahren, das ist auch die DNA Ihrer Arbeit. Gestrig oder gar veraltet ist sie ganz und gar nicht. Heute forschen Sie in den Ausgrabungsstätten hier in Griechenland auch zu brennend aktuellen Themen wie dem Klimawandel und der Frage, in welcher Beziehung die Menschen in der Antike zu ihrer Umwelt standen. Darum wird es auch bei der Musik gehen, die wir später noch hören: ein Cello-Konzert in der antiken Stätte Kerameikos, bei dem es um genau diese Beziehung zwischen Mensch, Natur und Kultur gehen wird.
Meine Mission ist erfüllt
, schrieb der eingangs erwähnte Heinrich Schliemann im Überschwang, als er glaubte, den Schatz des Priamos entdeckt zu haben; ein Irrtum, wie wir heute wissen. Ihre Mission, die heute eine andere ist als vor 150 Jahren, die ist, davon bin ich überzeugt, noch lange nicht erfüllt. Ich wünsche Ihnen auch in Zukunft viel Erfolg bei Ihrer wichtigen Arbeit!
Herzlichen Glückwunsch zum Hundertfünfzigsten!