Die Schriftstellerin Helga Schubert, die heute hier bei uns ist, hat uns in ihrem Buch "Vom Aufstehen" ihr Leben in Geschichten erzählt. Sie beschreibt sich darin als Kriegskind, Flüchtlingskind, Kind der deutschen Teilung
und hält dann in der Erzählung "Meine neuen Schuhe" fest: Der 3. Oktober ist für mich ein Feiertag, und zwar von Anfang an: Vom 3. Oktober 1990 an.
Mittlerweile ist es schon eine Tradition geworden, dass wir zu diesem Feiertag hier im Schloss Bellevue Menschen ehren, die sich auf besondere Weise um unser wiedervereintes Land verdient gemacht haben. Für mich persönlich ist die Ordensverleihung zum Tag der Deutschen Einheit ein Feiertag vor dem Feiertag, auf den ich mich jedes Jahr ganz besonders freue. Und das liegt natürlich nicht an dem Tag selbst, sondern an Ihnen, liebe Ehrengäste! Wie schön, dass Sie heute hier sind, seien Sie herzlich willkommen im Schloss Bellevue!
Der Tag der Deutschen Einheit, den unser Land übermorgen feiert, steht in diesem Jahr im Zeichen eines doppelten Jubiläums: Im Mai wurde unser Grundgesetz 75 Jahre alt, und im November erinnern wir an 35 Jahre Friedliche Revolution und Mauerfall. Nachdem die Alliierten Deutschland und Europa vom Nationalsozialismus befreit hatten, schufen zunächst der Konvent von Herrenchiemsee und dann der Parlamentarische Rat 1949 die Grundlage für eine freiheitliche Demokratie in Westdeutschland. Und im Herbst 1989 waren es die mutigen Männer und Frauen in der DDR, die sich mit ihrer Friedlichen Revolution selbst von der SED-Diktatur befreiten, die Mauer zum Einsturz brachten und ein in Freiheit und Vielfalt geeintes Deutschland möglich machten.
1949 und 1989 – das sind zwei wichtige Wegmarken der deutschen Demokratiegeschichte. Der Blick zurück in die Geschichte macht uns aber auch bewusst: Mit den großen historischen Momenten allein ist es nicht getan.
Wir wissen: 1949 wurde in Westdeutschland zwar das Grundgesetz verabschiedet, aber nach der Zeit des Nationalsozialismus waren noch viele Prägungen aus der Zeit der Diktatur existent, und manche fremdelten noch mit der neuen Demokratie. Es dauerte, bis sich in der Gesellschaft eine demokratische politische Kultur entwickelte, immer wieder angestoßen und getragen vom Engagement der Bürgerinnen und Bürger.
Und wir wissen auch: Nach der Friedlichen Revolution und der Aufbruchstimmung von 1989 brachte der Umbruch für viele Menschen in Ostdeutschland enorme Härten mit sich. So mancher erlebte die Zeit nach der Wiedervereinigung als Entwertung erworbener Fähigkeiten oder als Verlust des gesellschaftlichen Status und zog sich zurück – so dass der Schwung der Friedlichen Revolution, die Bereitschaft, für die freiheitliche Ordnung einzustehen, für sie zu kämpfen, sie mitzugestalten, verloren gingen. Dabei brauchen wir diesen Schwung, die Aufmerksamkeit und den Einsatz der Bürgerinnen und Bürger gerade heute!
Denn heute erleben wir ja, wie die freiheitliche Demokratie wieder angegriffen wird, von außen wie von innen. Wir erleben Wahlerfolge von politischen Kräften, die die Institutionen der freiheitlichen Demokratie verachten, verächtlich machen und Menschenfeindlichkeit verbreiten. Und gerade in solchen Zeiten ist es wichtig, uns daran zu erinnern, dass wir das Erbe von 1949 und 1989 jeden Tag aufs Neue leben und verteidigen müssen. Und noch wichtiger ist es, dass wir die vielen Menschen in unserem Land sichtbar machen, die genau das tun! Bei all den Sorgen, die uns aktuell beschäftigen, sehen wir manchmal gar nicht mehr, was wir alles füreinander tun, und sehen nicht, was uns trotzdem miteinander glückt. Lassen Sie uns genau darauf schauen: auf Menschen, die Mut machen, dass eine gute, eine bessere Zukunft möglich ist! Auf engagierte Menschen wie Sie, liebe künftige Ordensträgerinnen und Ordensträger, ohne die es diesen Feiertag vor dem Feiertag nicht gäbe.
Heute werden 28 Frauen und Männer aus allen Teilen unseres Landes ausgezeichnet. 28 ganz unterschiedliche Menschen, manche einer breiten Öffentlichkeit bekannt, andere, die sich jenseits des Scheinwerferlichts eher im Stillen für andere und unser Land engagieren. Aber sie alle haben etwas gemeinsam: Sie zeigen uns, wie das ganz praktisch geht, die Werte unserer Demokratie mit Leben zu füllen.
Sie alle machen uns bewusst, wie viel wir bewegen und zum Besseren wenden können, gerade weil wir in einem freien, vielfältigen und demokratischen Land leben. Sie alle, liebe Ehrengäste, leisten Großartiges: in Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft und Sport, im Beruf und im Ehrenamt. Sie alle sind es, die unser Land stark machen – in den verschiedensten Bereichen und jede und jeder auf ganz eigene Art und Weise. Und das bedeutet eben auch: Unser Land kann noch stärker werden, wenn noch mehr Menschen Ihrem Beispiel folgen.
35 Jahre ist es jetzt her, dass hunderttausende Menschen in Leipzig und anderen Städten in der DDR auf die Straße gingen: für Reisefreiheit und demokratische Wahlen, gegen Bevormundung und Bespitzelung. Manche hier im Saal waren damals dabei. Mutig sind sie aufgestanden, haben ihre Stimme erhoben und friedlich protestiert, ohne Gewalt. Ohne diese Menschen, ohne die erste Friedliche Revolution in Deutschland wären wir kein wiedervereinigtes Land. Ich bin allen Menschen, die damals so großen Mut aufbrachten, zutiefst dankbar.
Wofür die Oppositionellen 1989, aber auch schon 1953 auf die Straße gingen und wogegen sie kämpften, das darf nicht in Vergessenheit geraten. 35 Jahre, das ist eine Generation; eine ganze Generation, die Deutschland in den Jahren der Teilung selbst nicht miterlebt hat. Was es bedeutete, in einer Diktatur zu leben, was es bedeutete, gegen einen übermächtigen Staat, der alle Lebensbereiche kontrollierte, schließlich aufzustehen, das können sich manche heute gar nicht mehr vorstellen. Einige von Ihnen hier im Saal kämpfen als Zeitzeugen gegen das Vergessen, und dafür sind wir ihnen sehr dankbar.
Literatur, Musik und Fotografie erzählen auf eigene Weise von der Zeit des geteilten Deutschlands. Und sie lassen dabei etwas aufscheinen, was wir so zuvor vielleicht noch nicht gesehen haben, was uns bisher aus unterschiedlichen Gründen verborgen blieb. Kunst kann berühren, uns mitfühlen lassen und uns zueinander bringen. Das sage ich, weil unter uns hier im Saal Künstlerinnen und Künstler sind, die Fotografien, Romane und Erzählungen geschaffen haben, die genau solch eine Kraft entfalten. Ihre Werke sind ein Geschenk an uns alle. Sie helfen uns, auch wenn sie uns humorvoll gelegentlich den Spiegel vorhalten, uns als Gesellschaft besser zu verstehen. Sie bringen uns ins Gespräch miteinander, und das war nie so wichtig wie jetzt im Augenblick.
Die Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit, davon bin ich überzeugt, sensibilisiert auch für unsere Gegenwart. Sie zeigt uns, wie wichtig es ist, für die Werte der liberalen Demokratie zu streiten und für gegenseitigen Respekt voreinander einzutreten. Deshalb zeichnen wir heute Menschen aus, die unsere lebendige und vielfältige Erinnerungskultur mitgestalten, ganz vielfältige, unterschiedliche Perspektiven einbringen und eins gemeinsam haben: für Toleranz und Verständnis zu werben und die Bedingungen dafür zu verbessern. Wir zeichnen heute zum Beispiel Menschen aus, die sich für den jüdisch-muslimischen Dialog engagieren. Ein Dialog, von dem wir gerade im Augenblick erleben, wie notwendig er ist, aber auch, wie schwer er geworden ist seit dem 7. Oktober. Und wir haben Respekt davor, dass Menschen den Mut aufbringen, diesen Dialog weiter zu führen. Sie zeigen, wie ein gutes, respektvolles Miteinander in einer Gesellschaft der Verschiedenen gelingen kann und was es dafür braucht: Begegnung, Austausch und Offenheit – miteinander reden und einander zuhören.
Liebe künftige Ordensträgerinnen und Ordensträger, Sie alle wissen, wie wichtig es ist, füreinander einzutreten und sich gegenseitig zu unterstützen. Demokratie lebt vom Miteinander – und Ihr Engagement zeigt das ganz ausdrücklich. Sie schließen sich zusammen und treten für Solidarität und Menschlichkeit ein: in Sport, Wissenschaft und Unterhaltung, auch in der Kommunalpolitik, auch in der Wirtschaft. Sie engagieren sich für Inklusion in Kultur und Medien, Sie setzen sich ein für faire Bildungschancen, für Weltoffenheit und Courage in der Gesellschaft, in Ihrem Unternehmen, in Ihrer Region. Wenn Hilfe gebraucht wird, sind Sie diejenigen, die mit anpacken: ehrenamtlich, in Situationen großer Not, immer und immer wieder. Sie sind da und stehen an der Seite Ihrer Mitmenschen. Mit Empathie und Leidenschaft tragen Einzelne dazu bei, dass das Bild von Deutschland auch im Ausland ein positives bleibt.
Und auch im Umwelt- und Klimaschutz machen sich viele von Ihnen stark. Mit innovativen Ideen und bahnbrechenden Forschungen setzen Sie sich für eine lebenswerte Zukunft ein. Sie zeigen, dass wir nicht nur umdenken müssen, sondern neue Ansätze auch erfolgreich umsetzen können. Sie haben den Mut, Dinge anders zu denken und neue Wege zu gehen. Alles das brauchen wir so dringend, um die großen Zukunftsaufgaben, von denen Sie alle wissen, bewältigen zu können.
In einem Wort: Sie alle zeigen, dass wir gemeinsam etwas verändern, gemeinsam etwas gestalten können. Was uns dabei verbindet, das sind die demokratischen Werte, auf denen unsere freiheitliche Demokratie gründet. Diese Werte, die seit 75 Jahren in unserem Grundgesetz festgeschrieben sind und die die Menschen in der DDR vor 35 Jahren für den Ostteil unseres Landes erkämpft haben, sind das Fundament unseres Zusammenlebens. Und wir werden dafür eintreten, kämpfen und streiten, damit sie das bleiben. Was aber wichtig ist: Diese Werte sind nicht einfach nur abstrakte Artikel in unserer Verfassung. Sie, meine Damen und Herren, Sie zeigen mit Ihrem Handeln, wie wir sie leben können, und das nicht nur einmal im Jahr, sondern Tag für Tag. Und genau dafür danke ich Ihnen heute im Namen unseres ganzen Landes!
Herzlichen Dank Ihnen – und vor allem herzlichen Glückwunsch!