Was für ein herrlicher Sommertag! Ein Tag wie gemacht für ein Picknick im Freien, umgeben von Freunden und Familie. Man breitet Decken auf der Wiese aus, hört Musik, spielt Karten, genießt kleine Köstlichkeiten, ist unbeschwert und fröhlich miteinander. Und jeder bringt etwas mit.
Also nichts wie hin
, das sagten viele heute vor 35 Jahren. Man kann es sich lebhaft vorstellen: wie es hier aussah, als zum Paneuropäischen Picknick geladen wurde, mit Flugblättern mit handgemalter Anfahrtsskizze, die kalte und warme Speisen am Ort und Stelle
versprachen; wie es hier klang, fröhlich und schwungvoll, nach traditionellem Tanzhaus
; wie es hier roch, nach Speckbraten und Lagerfeuer
und Pörkölt aller Arten. Es war alles da, was man für ein Picknick braucht.
Doch die Picknick-Besucherinnen und Besucher aus der DDR, die mit ihren Familien die Sommerferien in Ungarn genossen, brachten noch zwei weitere Dinge mit: ihren Reisepass. Und all ihren Mut.
Es gibt im Ungarischen ein Sprichwort: Sok kicsi sokra megy.
Wörtlich übersetzt heißt das, so habe ich mir sagen lassen: Viel Kleines läuft auf viel hinaus
, oder wie wir im Deutschen sagen würden: Steter Tropfen höhlt den Stein.
Was hier in Debrecen und in Sopron seinen Anfang nahm, war wie eine Art Katalysator für das, was gärte, gab Anschub für die weitere Entwicklung – bis hin zum Fall des Eisernen Vorhangs vor inzwischen 35 Jahren. Aus einem Picknick an einem Sommertag wurde die größte Massenflucht aus der DDR seit dem Bau der Mauer. Das Paneuropäische Picknick markierte den ersten Riss in der Berliner Mauer. Und keine drei Monate später war sie, war die Mauer gefallen.
Dass die Deutsche Einheit ausgerechnet in Ungarn einen entscheidenden Schritt nach vorn kommen sollte, das hat meines Erachtens zwei Gründe:
Deutsche aus Ost und West liebten ihren Urlaub in Ungarn. Seit Mitte der 1960er Jahre fanden hier jeden Sommer deutsch-deutsche Verwandtentreffen statt. Durchaus naheliegend, denn für die Bürgerinnen und Bürger der DDR war die Alster in Hamburg damals viel weiter weg als der Balaton. Und besonders schön war es hier außerdem.
In einem Reiseführer aus dem Jahr 1988 klang das so: Abend für Abend verbrüdern sich die Deutschen aus Ost und West und spielen Doppelkopf. […] Ungarn – das bedeutet Treffpunkt, Transitland, Brücke zwischen Ost und West. Das Land ist Ort tausendfacher ungeordneter Begegnungen in der sonst so sauber nach Lagern und Kulturen getrennten Welt.
Man kann sagen: In Ungarn waren die Deutschen aus Ost und West – zuweilen unter grimmiger Beobachtung der Stasi – den Sommer über wieder vereint; über ihre gemeinsame Liebe für das Land der Thermalbäder, der sonnengereiften Tomaten und des süßen Weins.
Aber wichtiger noch der zweite Grund: Der zweite Grund waren die Ungarinnen und Ungarn selbst. Was hier an der Grenze zu Österreich seinen Anfang nahm, ging Hand in Hand mit den gesellschaftlichen Umbrüchen: Ungarn öffnete sich gen Westen, trat IWF und Weltbank bei, später der Genfer Flüchtlingskonvention, und schon seit Januar 1988 konnten Ungarinnen und Ungarn dank des sogenannten "Weltpasses" frei reisen. Das Streben der Ungarinnen und Ungarn nach Freiheit und Demokratie elektrisierte förmlich den ganzen Kontinent, machte das Land zum Treiber von Reformen, zum Vorreiter des Wandels. Und es machte die Ungarinnen und Ungarn selbst zu Unterstützern der Menschen, die aus der DDR fliehen wollten. In den folgenden Wochen nach dem Paneuropäischen Picknick machten sich Tausende DDR-Bürger über Ungarn auf den Weg in die Freiheit. Ungarn öffnete von hier aus ein Fenster, das zur gesamten Welt hin aufging. Das werden wir in Deutschland nie vergessen. Und wir bleiben den Ungarn auf immer dankbar dafür.
Das Paneuropäische Picknick gehört wie die singende Menschenkette im Baltikum und die Montagsdemos in Leipzig zu den großen Freiheitsbewegungen des Jahres 1989. Ohne Ungarn, ohne den unbändigen, unbezwingbaren Freiheitswillen der Menschen in Mittel- und Osteuropa, ohne ihren Widerstand gegen Fremdbestimmung und Unterdrückung, ohne all das wäre die Deutsche Einheit nicht denkbar. Wir verdanken diese Einheit auch der Freiheitsliebe der Ungarinnen und Ungarn und ihrer Leidenschaft für Europa. Wir brauchen diese Leidenschaft für Europa auch heute!
Sopron ist ein Symbol für europäische Solidarität, für Freiheit und Einheit. Für Selbstbestimmung statt Abschottung. Diese Werte einen uns Europäerinnen und Europäer. Und seit 2004 ist auch Ungarn Mitglied der Europäischen Union. Mit mehr als 83 Prozent stimmten damals die Menschen hier für den Beitritt. Und auch zwanzig Jahre später noch sagen fast genauso viele Ungarinnen und Ungarn, dass sie sich als Bürger der Europäischen Union fühlen.
Ich wünsche mir, dass wir – Ungarn und Deutsche – diesen Jahrestag von Sopron zum Anlass nehmen, noch einmal unserer gemeinsamen europäischen Bestimmung nachzuspüren. Ich bin überzeugt: Ungarn und Deutsche, wir brauchen einander, und wir beide brauchen die Europäische Union! Gemeinsam haben wir sie errichtet, und gemeinsam wollen wir sie in Zukunft gestalten – als Partner und als Freunde, im Geiste Soprons: mutig und getragen von Solidarität, Freiheit und Einheit.