"Es gab noch nie eine so wichtige Zeit, um für Europa zu kämpfen"

Schwerpunktthema: Rede

Brügge/Belgien, , 21. Juni 2024

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei der Abschlusszeremonie des akademischen Jahres am Europakolleg Brügge eine Rede gehalten.

Was für ein Tag! Heute schließen Sie Ihr Studium am Europakolleg unter dem stolzen Namen Madeleine Albright ab. Sie haben hart gearbeitet, um hierherzukommen; Sie haben auch während Ihres Studiums hier hart gearbeitet; Sie haben die Abschlussprüfungen hinter sich gebracht – und jetzt möchten wir alle hier im Saal, Ihre Dozentinnen und Dozenten, Ihre Eltern, Ihre Freunde und auch ich, Ihnen sagen: herzlichen Glückwunsch, lieber Abschlussjahrgang 2024! Sie haben es geschafft!

Ich bin sicher, Sie alle sind gespannt auf das, was vor Ihnen liegt. Sie sind gespannt darauf, in die Welt hinauszuziehen und sie mitzugestalten. Doch bevor es soweit ist, gebe ich Ihnen einen präsidialen Ratschlag mit auf den Weg: Atmen Sie erst einmal tief durch, und genießen Sie diesen besonderen Moment in Ihrem Leben! Freuen Sie sich über das Wissen, das Sie aus dieser schönen Stadt Brügge mitnehmen – einer Stadt wie im Märchen, nicht wahr? Seien Sie stolz darauf, was Sie erreicht haben, verbringen Sie Zeit mit Ihren Freundinnen und Freunden, die Sie in Ihrer Zeit hier am Kolleg kennengelernt haben – und wer weiß, vielleicht wird aus der einen oder anderen Freundschaft sogar etwas mehr. Das soll hier durchaus vorkommen, habe ich gehört.

Genießen Sie also Ihren Sommer – und als deutscher Bundespräsident muss ich hinzufügen: Bitte schauen Sie die Fußball-Europameisterschaft! Bisher ist es ein fesselndes Turnier mit vielen starken Mannschaften, und noch weiß niemand, wer gewinnen wird. Doch hier kommt ein weiterer herausragender Aspekt des Europakollegs ins Spiel: Da hier Studierende aus wirklich allen europäischen Ländern Europas versammelt sind, wissen wir sicher, dass einige von Ihnen am Ende feiern werden – und die anderen können dann mit ihnen feiern.

Dieser Abschlussjahrgang 2024, der den Namen Madeleine Albright trägt, ist genauso vielfältig wie unser wunderbarer Kontinent: Studierende aus 50 Ländern, mit verschiedensten Lebenserfahrungen und Ansichten.

Doch es gibt etwas, das Sie eint: Europa ist wichtig für Sie. Der Dienst an der Öffentlichkeit ist wichtig für Sie. Das Wunder der Europäischen Union, von Nationen, die sich für Frieden statt Krieg entschieden haben, für Zusammenarbeit statt Auseinandersetzung, für eine gemeinsame Zukunft statt einer gespaltenen Vergangenheit – das ist wichtig für Sie. Dafür zu sorgen, dass auf den Schlachtfeldern in Flandern, die Sie alle besucht haben, nie wieder das Blut junger Europäerinnen und Europäer im Namen des Nationalismus und des Hasses vergossen wird – das ist wichtig für Sie.

Ich bin sicher, dass Sie alle, auch Ihre Freundinnen und Freunde in Natolin und Tirana, Ihren Platz finden werden, um für das Wunder Europas zu arbeiten, um an seiner Zukunft zu arbeiten. Wo auch immer es Sie letztlich hinziehen wird – in die Institutionen Ihrer Heimatländer oder der Europäischen Union, in die Diplomatie oder in NGOs –, ich zolle Ihnen Anerkennung dafür, dass Sie sich für das Gemeinwohl einsetzen wollen. Für das Wohl Europas.

Ich zolle Ihnen Anerkennung und habe größten Respekt, dass Sie sich für diesen Weg entschieden haben, denn wir alle wissen: Es sind historisch schwierige Zeiten, in denen Sie sich in den Dienst für das Gemeinwohl stellen. Russlands Krieg gegen die Ukraine, der brutale Angriff der Hamas auf Israel und das Leid der Männer, Frauen und Kinder in Gaza. Die Bedrohungen für unsere Demokratien sowohl von außen als auch von innen. Die Verlockungen des Populismus und des Extremismus, wie gerade bei den Europawahlen deutlich wurde. Die Bekämpfung des Klimawandels und die tiefgreifenden Auswirkungen der Energiewende sowie der digitalen und wirtschaftlichen Transformation in all unseren Gesellschaften. Ja, es ist eine wahrhaft schwierige Zeit, um sich in den Dienst der Öffentlichkeit zu stellen.

Jede Generation vernimmt den Ruf der Geschichte. Jede Generation steht vor prägenden Herausforderungen. Aber wenn man sich die Welt um uns herum anschaut, lässt sich, glaube ich, zu Recht sagen: Von Ihrer Generation wird mehr verlangt als von vielen Generationen vor Ihnen.

Gestatten Sie, dass ich Sie einige Jahrzehnte in die Vergangenheit mitnehme. Vor dreiunddreißig Jahren stand ich an Ihrer Stelle. Um es gleich dazuzusagen: Ich habe das Europakolleg nicht besucht. Ich habe bis Anfang dreißig nicht daran gedacht, in die Politik oder den öffentlichen Dienst zu gehen. Im Jahr 1991 – ich hatte gerade meine Promotion abgeschlossen und bereitete mich auf eine wissenschaftliche Laufbahn vor – bekam ich einen Anruf von Brigitte, einer guten Freundin, die kurz zuvor einen Posten in der neuen niedersächsischen Landesregierung in Hannover angetreten hatte. Sie sagte zu mir: "Frank, das ist eine spannende Zeit hier, du musst zu uns kommen!"

Und tatsächlich war das eine spannende Zeit, eine Zeit voller Zuversicht. Die Mauer war weg. Die Menschen in Ostdeutschland hatten eine friedliche Revolution vollbracht. Deutschland war ein wiedervereintes Land im Herzen Europas. Die Völker Osteuropas hatten sich ihre Freiheit erkämpft und das Joch der Sowjetunion abgeworfen. Von Tallinn bis Timișoara, von Vilnius bis Varna bauten die Menschen ihre Nationen neu auf und stellten die Weichen für ihren Weg in die europäische Familie. Freiheit und Demokratie schienen überall auf dem Vormarsch. Die Geschichte war auf unserer Seite! Als ich also in den öffentlichen Dienst eintrat, war meine Einstellung: Die Welt wird von Tag zu Tag besser, und ich möchte dabei helfen. Ich möchte meinen Teil dazutun.

Der Gegensatz zu heute könnte größer nicht sein. Optimismus ist ein knappes Gut – insbesondere in unserem Teil der Welt, in einem Europa, in dem der Krisenmodus die neue Normalität zu sein scheint. Ihre Generation, die sich nun in den Dienst der Öffentlichkeit stellt, hat deshalb eine ganz andere Perspektive: Die Welt scheint von Tag zu Tag schlechter zu werden. Deshalb muss die Einstellung sein: Lasst uns alles daransetzen, dass es anders kommt!

Ich habe größten Respekt davor! Wenn der Wind der Geschichte die eigenen Segel nicht füllt – wie viel schwerer und auch wie viel wichtiger ist es dann, sich für das Gemeinwohl einzusetzen!

Auf der Gewinnerseite zu stehen, ist einfach. Es ist einfach, für Real Madrid zu sein. Umso schwerer ist es, sich auf das Spielfeld zu begeben und mitzukämpfen, wenn das gegnerische Team vorn liegt, wenn man von den Tribünen ausgepfiffen wird, wenn es in Strömen regnet. Ich verspreche, dass das meine letzte Fußball-Analogie ist – schließlich ist Politik kein Spiel. Unsere Zukunft ist kein Spiel.

Liebe Studierende, ich bin nicht hier, um über die dunklen Wolken der Gegenwart oder die helleren Tage der Vergangenheit zu sprechen. Das wäre weder hilfreich noch angemessen. Nein, ich bin hier, um über Sie zu sprechen – über die wunderbaren jungen Menschen, die etwas bewirken wollen, auch in schwierigen Zeiten. Ich bin hier, um darüber zu reden, was es braucht, damit man etwas bewirken kann. Was es braucht, damit Sie Ihre Zukunft gestalten können, anstatt sie zu erdulden.

Es gibt ein Wort, das von zentraler Bedeutung ist für alle Politik: Realismus. Die Welt so nehmen, wie sie ist, sie aber nicht so lassen – das ist Realismus.

Ich stelle diesen Begriff in den Mittelpunkt meiner Rede, weil ich glaube, dass wir Europäerinnen und Europäer neu darüber nachdenken müssen, was Realismus in diesem kritischen Moment, in dieser krisengeschüttelten Zeit bedeutet. Viele von uns fragen: Was sollen wir tun, was können wir hoffen zu erreichen, welche Zugeständnisse müssen wir machen, wenn wir in einer Welt, die sich in vielerlei Hinsicht zum Schlechteren zu entwickeln scheint, etwas Gutes bewirken wollen?

Viele Jahre lang schienen Realismus und Idealismus, schienen Tat und Anspruch sich wie von selbst zu ergänzen. Und: Natürlich ist es einfacher, in der Welt aktiv zu sein, Risiken einzugehen, in neue Partnerschaften zu investieren, politisch wie wirtschaftlich, wenn man glaubt, dass es allgemein aufwärts geht. Wenn man glaubt, dass die Welt als Ganze sich in Richtung Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit bewegt.

Dass Realismus und Idealismus in die gleiche Richtung zeigen, das war eine Vorstellung, die vor allem in meinem Land besonders stark war, in Deutschland, wo wir davon ausgingen, dass das Glück unserer Nation – friedliche Vereinigung, Demokratie, Wohlstand – sich linear auf die übrige Welt ausdehnen und auch in die Zukunft erstrecken würde.

Dieser Glaube ist uns gründlich abhandengekommen – insbesondere seit der Zeitenwende des 24. Februar 2022. An jenem 24. Februar hat Wladimir Putin nicht nur die Ukraine angegriffen – er hat die gesamte Sicherheitsarchitektur unseres Kontinents in Trümmer gelegt. Er zerstörte die Idee einer Ordnung, gebaut auf Regeln und friedlicher Koexistenz, an der wir mit viel Mühe gearbeitet hatten.

Anstatt Frieden und Wohlstand weiter verbreiten zu können, finden wir uns heute in einer Lage wieder, in der wir erneut aufrüsten, in der wir Waffen in die Ukraine zur Verteidigung gegen den Aggressor schicken und unsere eigene Wehrhaftigkeit auf allen Ebenen verstärken: im militärischen Bereich, bei Energie und Handel, in unseren demokratischen Institutionen.

Für viele, insbesondere für junge Menschen, die dies sehen, scheint es, als würden Wirklichkeit und Ideal immer weiter auseinanderdriften, als würden unser Handeln in der Welt und unsere Ziele für die Welt mehr und mehr auseinanderklaffen.

Wie gehen wir damit um? Einige sagen, unser Handeln sei falsch. Andere wiederum sagen, unsere Ideale seien halbherzig. Ich glaube: Mehr denn je müssen wir uns engagieren! Auch wenn wir im Gegenwind der Geschichte stehen – tief im Herzen bin ich nach wie vor Realist. Ich glaube nach wie vor, dass es besser ist, etwas zu versuchen und zu scheitern, als es nie zu versuchen und immer recht zu behalten. Ich glaube, dass es besser ist, zu handeln und von der Geschichte gerichtet zu werden, als nicht zu handeln und über andere zu richten.

Wenn ich mich in diesem Saal umschaue, wenn ich all die jugendliche Energie sehe, all die Fähigkeiten und Verbindungen, die Sie hier entfaltet haben, so bin ich tief überzeugt, dass Sie es versuchen werden und dass Sie Gutes bewirken werden.

Keine Abschlussfeier, keine Festrede kann ohne wohlmeinenden Rat der älteren Generation enden. Hier also der meine: Was braucht es? Ich denke, Realismus in unserer Zeit verlangt dreierlei von Ihnen: Demut, Mut und die Bereitschaft zu Kompromissen.

Demut bedeutet: Sie haben nicht immer recht. Niemand hat immer recht – außer in der Welt von Twitter und Tiktok. Die Welt der sozialen Medien hat verheerende Auswirkungen auf die Qualität unseres öffentlichen Diskurses. Selbstgerechtigkeit, Schwarz-Weiß-Denken, vorschnelle, polemische und aggressive Urteile – das bringt Klicks und Likes. Was wir brauchen, ist das Gegenteil: den Lärm herausfiltern, der anderen Seite wirklich zuhören, die Grautöne der Welt wahrnehmen und mit ihren Widersprüchen umgehen – das ist nötig, aber das ist schwierig.

Ich sage das auf individueller Ebene, aber ich denke, es gilt auch auf systemischer Ebene. Es gilt auch für das europäische Projekt. Ja, wir haben allen Grund, an unsere Werte zu glauben und sie zu verteidigen. Wir haben allen Grund, auf unsere freiheitlichen Demokratien und unsere europäischen Institutionen, die wir aufgebaut haben, stolz zu sein und sie zu schützen. Jedoch dürfen wir uns aufgrund unserer Werte und Institutionen niemals überlegen fühlen oder selbstgefällig werden!

Wie Timothy Garton Ash in seinem wunderbaren Buch "Europa: Eine persönliche Geschichte" schrieb: Wenn wir Europas vielschichtiges Erbe feiern, laufen wir immer Gefahr, in pauschale Behauptungen über die Einzigartigkeit und quasi natürliche Überlegenheit der europäischen Zivilisation zurückzufallen. Solche pauschalen Behauptungen, solche Überlegenheit und Selbstgerechtigkeit spielen am Ende nur China und Russland mit ihren antiwestlichen Narrativen in die Hände, und es schadet einem unserer wichtigsten strategischen Interessen als Europäer, nämlich Partnerschaften zu bilden mit all den Ländern rund um den Globus, in Asien, Afrika und Lateinamerika, die aufstreben und ihren rechtmäßigen Platz auf der Weltbühne suchen.

Lassen Sie uns nicht vergessen: Europas "vielschichtiges Erbe", unsere Geschichte der Aufklärung und Emanzipation ist – aus der Sicht vieler in der Welt – untrennbar verknüpft mit einer Geschichte von Imperialismus, Kolonialismus und Unterdrückung. Als Europäer dürfen wir die dunklen Seiten unserer Geschichte nie ausblenden. Nur indem wir anerkennen, dass Europas Geschichte – in dieser Hinsicht – voller Doppelmoral steckt, können wir verhindern, heute einer neuen Doppelmoral anheimzufallen. Das meine ich mit Demut.

Zweitens: Mut. Einer der Gründe, warum soziale Medien für Menschen attraktiv sind, ist die Einfachheit. Es ist einfach, laut zu sein. Es ist einfach, seine Meinung kundzutun und es dabei zu belassen. Aber Bekundungen ändern rein gar nichts. Sich austauschen, Gemeinsamkeiten suchen, nach Lösungen streben und dementsprechend handeln, das bewirkt Änderungen!

In einer Zeit, in der sich die Welt so unvorhersehbar entwickelt wie nie zuvor, gibt es für das, was Sie in Politik oder öffentlichem Dienst tun, keinerlei Erfolgsgarantie. Daher braucht es Ihren Mut. Sie werden in europäischen Angelegenheiten tätig sein, in der Politik auf nationaler Ebene oder in der Diplomatie, Sie werden dabei Ihre ganze Leidenschaft und Ihren ganzen Verstand einbringen – und trotzdem können Sie nie sicher sein, welches Urteil die Geschichtsbücher fällen werden.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ihre geschätzte Rektorin, meine gute Freundin Federica Mogherini, war schon immer eine furchtlose Diplomatin. Nie wissend, was in fünf oder zehn oder zwanzig Jahren sein wird, war sie immer bestrebt, etwas im Jetzt zu bewirken. Liebe Federica, ich denke oft an die langen Tage und Nächte vor zehn Jahren zurück, als wir mit Iran über das Ende seines Atomprogramms verhandelt haben. Konnten wir damals in die Zukunft schauen? Wussten wir, wie sich die Dinge im Nahen und Mittleren Osten entwickeln würden? Nein. Aber eines weiß ich: Der über Jahrzehnte einzige Moment, in dem sich Irans nukleare Anreicherung nachweislich verringerte, waren die drei Jahre von 2015 bis 2018, als das Nuklearabkommen in Kraft war, bevor die Trump-Regierung beschloss, es einseitig aufzukündigen. Und wenn ich mir die zerstörerische Kraft vor Augen führe, die Iran heute in der Region entfaltet, dann bin ich froh, dass dieses Regime keine Atomwaffen besitzt, und ich glaube nach wie vor, dass wir dafür arbeiten müssen, dass es nie soweit kommt.

Dafür braucht es Mut, und ich glaube, Mut ist heute im Nahen Osten dringend nötig. Seit dem 7. Oktober herrscht unbeschreibliches Leid. Ich habe das Kibbuz Be’eri im Süden Israels besucht, das von der Hamas verwüstet wurde. Ich habe die Blutflecken, die niedergebrannten Häuser gesehen. Und ich habe Palästinenserinnen und Palästinenser aus dem Gazastreifen getroffen, die Mütter, Brüder, Kinder verloren haben. Die alles verloren haben, was sie aufgebaut hatten.

Aber, meine lieben Freundinnen und Freunde, Bekundungen – ob Bekundungen der Solidarität oder der Empörung – ändern nichts an der Lage vor Ort. Die einzige Möglichkeit für einen Weg aus dem Elend besteht meines Erachtens darin, sich weiterhin dafür einzusetzen, dass die verbleibenden Geiseln freikommen und ein Waffenstillstand verhandelt wird. Das allein kann der erste Schritt für einen politischen Prozess sein. Und jeder politische Prozess muss beide Seiten zu einer Zukunft in Sicherheit, Würde und Selbstbestimmung führen. Das ist der Mut, den sowohl Palästinenser als auch Israelis verdienen – das ist der Mut, den ich von den Verantwortlichen überall erwarte, in Israel und in der Region. Den Mut zu sagen: So kann es nicht weitergehen. Ja, eine Zweistaatenlösung lag noch nie so weit weg – aber sie war auch noch nie so dringend nötig!

Drittens: Kompromisse. Kompromisse sind – aus Sicht der Medien – das Element der Demokratie, das am wenigsten sexy ist, und doch sind sie – so glaube ich – das wichtigste. Und die Geschichte hat gezeigt: Kompromisse waren immer der stärkste Motor der europäischen Integration. Sie alle wissen, dass nächtelange Verhandlungen im Europäischen Rat alles andere als glamourös sind. Im Gegenteil, sie kosten Nerven.

Aber so funktioniert Europa. Ich sage sogar: Das ist das Schöne an Europa! Kompromisse schaffen Zusammenarbeit. Zusammenarbeit schafft Einheit. Einheit schafft Stärke. Und wie viel Stärke haben wir in den vergangenen zwei Jahren im Angesicht von Putins Krieg gezeigt! Als er in die Ukraine einfiel, dachte Putin, der Westen sei schwach und gespalten. Wir haben ihn eines Besseren belehrt. Wir in Europa, wir in der NATO waren stärker und geeinter als je zuvor – und wir müssen die Ukraine weiter so lange wie nötig unterstützen.

Zusammenarbeiten und zusammenbleiben, das wird, wie Sie alle wissen, nach den Europawahlen nicht leichter sein. Kompromisse werden weiterhin nötig sein, aber meine Jahre in Brüssel haben mich gelehrt: Kompromisse lassen sich nur im Geiste Europas finden und nicht gegen den Geist Europas. Ja, alle führenden Politikerinnen und Politiker in Europa werden für ihre eigene Agenda, für die Anliegen ihrer eigenen Bevölkerung gewählt. Aber: Wenn wir alle nur unseren eigenen Weg durchsetzen wollen und dabei das große Ganze Europas auseinanderreißen, dann gewinnt niemand, sondern dann ist alles verloren.

Es gab noch nie eine so schwierige Zeit, um für Europa zu kämpfen – und es gab noch nie eine so wichtige Zeit, um für Europa zu kämpfen!

Meinen herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Abschluss am Europakolleg. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass Sie für Ihr Europa kämpfen werden – mit Mut und Demut, mit offenem Geist und offenem Herzen. Europa ist wichtig für Sie. Und glauben Sie mir: Sie sind wichtig für Europa.