An diesem Ort spricht zuerst die Stille. Die Stille der verlassenen Stadt Oradour-sur-Glane, die Stille der Ruinen, der ausgebrannten Autos, der leeren Straßen, über die niemand mehr geht. Aber vor allem: die Stille der Menschen, deren Leben an einem einzigen Tag so brutal beendet wurde. Ausgelöscht. Ein lebendiger Ort mit seinen Menschen, die in Freud und Leid ihr normales Leben lebten, mit Kindern, die spielten und sich in der Schule aufs Leben vorbereiteten. Ausgelöscht.
Wer hier spricht, muss dieser Stille gerecht werden. Wer hier spricht, spürt die Autorität des Leids und der Opfer, die Autorität der tiefen Trauer. Hier werden die großen Worte klein – sie müssen standhalten vor der Sprachlosigkeit, die mit großem Leid einhergeht.
Es waren 643 Dorfbewohner die am 10. Juni 1944 von Angehörigen der 2. SS-Panzer-Division "Das Reich“ in einer einzigen Aktion getötet wurden. Ein ganzes Dorf. Wer die Schilderungen Überlebender liest, kann sich ein Bild von der Unbarmherzigkeit der Mörder machen.
Der Tod ist ein Meister aus Deutschland
. Vielleicht haben Sie, Monsieur le Président, lieber Emmanuel, an diesen Satz des deutschsprachigen jüdischen Dichters Paul Celan gedacht, als wir vor ein paar Tagen am Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin standen. Heute erinnere ich hier daran. Er ist ja an vielen Orten Europas grausame Wahrheit geworden. Auch hier, in Oradour-sur-Glane. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.
Jeder Überlebende des Massakers vom 10. Juni 1944 hätte das sofort bezeugt.
Ich bin bewegt und dankbar, dass ich heute als Deutscher an diesem Ort zu Ihnen allen sprechen darf. Ich möchte im Namen Deutschlands meine Erschütterung und meine Trauer zum Ausdruck bringen: über die unfassbaren, die so grausamen und unmenschlichen Verbrechen, die Deutsche hier, wie zuvor auch schon in Tulle, begangen haben. Und ich möchte meine Beschämung darüber eingestehen, dass danach Mörder straflos geblieben sind, dass schwerste Verbrechen nicht gesühnt wurden. Hier hat mein Land noch einmal eine zweite Schuld auf sich geladen.
Gerade deswegen sage ich: Es sind sehr mutige Menschen, die es zugelassen haben, dass wir als Deutsche hier sein können. Und es sind mutige Menschen, die ein besonderes Versöhnungswerk begonnen haben. Die Beziehung zwischen den Orten Oradour-sur-Glane und Hersbruck, die sich langsam entwickelt hat, wird jetzt durch einen Freundschaftspakt besiegelt. Dafür bin ich unendlich dankbar. Versöhnung nämlich findet an ganz konkreten Orten des Leids statt – oder gar nicht.
Staatsmänner – wie General de Gaulle und Kanzler Adenauer in Reims, wie Präsident Mitterrand und Kanzler Kohl in Verdun – können solcher Versöhnung symbolisch vorangehen. Das war und das ist schon viel. Aber wirkliche Versöhnung geschieht in der alltäglichen Begegnung zwischen Menschen, die an dieses Leid erinnern – als Nachfolgende der Täter und als Nachfolgende der Opfer.
Heute sind zwei Frauen unter uns. Die eine ist Enkelin eines Täters, die andere eines Überlebenden. Jahrzehnte nach der Tat haben sie sich kennengelernt, sich die Geschichten ihrer Großväter erzählt und zueinander Vertrauen gewonnen. Sie begreifen ihre Erinnerung als Auftrag, an Verständigung und Versöhnung mitzuwirken.
Das ist eine Versöhnung, die nicht vergisst. Aber sie richtet den Blick nicht nur auf die Vergangenheit. Sie wird gelebt in einer neuen Gegenwart und hofft auf eine bessere Zukunft. Für uns, für Deutsche und Franzosen, ist die Hoffnung auf eine bessere Zukunft Wirklichkeit geworden: die Wirklichkeit der deutsch-französischen Freundschaft. Vor wenigen Tagen haben wir die deutsch-französische Freundschaft bei deinem Staatsbesuch, lieber Emmanuel, in Deutschland gefeiert. Ich danke Dir dafür, mein Freund.
Und wenn wir auch heute auf eine gute Zukunft hoffen, auf Frieden und Freiheit für unsere Kinder und Enkel, dann gibt uns diese Hoffnung zugleich einen Auftrag. Unser Auftrag ist die Europäische Union! Gerade am Tag nach den europäischen Wahlen sage ich: Vergessen wir nie, was Nationalismus und Hass in Europa angerichtet haben! Vergessen wir nie das Wunder der Versöhnung, das die Europäische Union erreicht hat! Schützen wir unser vereintes Europa!
Und vergessen wir nie den Wert der Freiheit – unserer Freiheit, für die so große Opfer gebracht wurden. Vier Tage vor dem Massaker von Oradour waren die alliierten Streitkräfte in der Normandie gelandet. Es standen diesen tapferen Soldaten, die zum großen Teil aus weit entfernten Gegenden der Welt stammten, noch schwere, verlustreiche Kämpfe bevor. Aber sie haben geholfen, Frankreich und letztlich auch meinem Land die Freiheit von Diktatur und Terror zu bringen.
Auch heute gilt: Die Freiheit muss erkämpft und sie muss verteidigt werden. Damit Menschen in Frieden leben können – Männer, Frauen und Kinder. Hier, in Oradour-sur-Glane und in Hersbruck, in Frankreich, in Deutschland und in ganz Europa.
Daran möchte ich hier und heute auch erinnern. 80 Jahre ist Oradour jetzt her. Vergessen werden wir nicht.
Ich danke Ihnen noch einmal, dass ich hier sein darf, dass ich zu Ihnen sprechen konnte und dass Sie das wunderbare, das, nach allem was geschehen ist, erstaunliche Werk bewahren und fortsetzen: das Werk der Versöhnung.