"Walter Lübcke starb mitten unter uns, als einer von uns."

Schwerpunktthema: Rede

Kassel, , 2. Juni 2024

Am 2. Juni bei der Gedenkfeier zum 5. Jahrestag der Ermordung von Walter Lübcke hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Kassel eine Rede gehalten. Er mahnte: "Extremistische Gewalt tötet und sie will Demokratie zerstören."

Ich würde sagen, es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten.

Wir alle kennen diesen Satz: Man muss für Werte eintreten.

Walter Lübcke hat ihn gesagt.

Er hat ihn damals in der Situation nicht einmal sehr getragen ausgesprochen. Er hat ihn als Argument verwendet. Denn er stand in diesem Moment gerade mitten in einer Diskussion, in jener Bürgerversammlung in Lohfelden, in der es im Herbst 2015 um eine neue Erstaufnahmestelle für Asylsuchende ging. Die Stimmung war aufgeheizt. Organisierte Provokateure hatten sich im Raum verteilt. Sie riefen Parolen, schürten die Emotionen. Und Walter Lübcke hielt stand. Er stellte sich der Debatte. Er verteidigte die Menschenwürde, verteidigte die Mitmenschlichkeit. Er verteidigte die Grundwerte in unserem Land.

Man muss für Werte eintreten: Dieser Satz ist zu seinem Vermächtnis geworden.

Er steht auf einem Gedenkstein der nach ihm benannten Schule, ist der Titel eines Theaterstücks. In ihm verdichtet sich das, was Walter Lübcke in seinem Leben getan hat.

Wir alle wünschten, dieser Satz wäre nicht zu einem Vermächtnis geworden. Er wäre weiter ein Argument geblieben, das Walter Lübcke in Diskussionen verwendet. Wir alle wünschten, Walter Lübcke könnte weiter das sein, was er bis zum 2. Juni 2019 war: ein aufrechter Demokrat, der Verantwortung übernahm. Ein Politiker, der sich einsetzte, ein zugewandter, neugieriger Mitmensch. Ein Held des Tuns.

Und, was für Sie liebe Angehörige, liebe Freunde von Walter Lübcke unendlich viel wichtiger wäre: weiter ein Ehemann, ein Vater, ein Großvater, ein Bruder, ein Freund zu sein.

Aber Walter Lübcke lebt nicht mehr. Heute vor fünf Jahren hat er seine aufrechte Haltung als Demokrat, sein Engagement für unser Gemeinwesen mit dem Leben bezahlt.

Der Täter – oder, wie manche vermuten, die Täter – ermordeten ihn auf eine Weise, die alle Zeichen einer Hinrichtung tragen sollte. Der Schuss kam aus nächster Nähe. Walter Lübcke starb mitten unter uns, in seinem Zuhause, wo er friedlich auf der Terrasse saß, einen Frühsommerabend genoss und wo er sich auf den nächsten Tag mit seiner Familie, mit seinem damals ersten Enkelkind freute, das drinnen im Haus zum ersten Mal übernachtete.

Für solch eine grausame Tat gibt es nur eine Bezeichnung: Das ist Terror.

Es ist schwer und es tut weh, sich diesen Tathergang in Erinnerung zu rufen. Und unendlich schwerer muss es sein, liebe Familie Lübcke, immer und immer wieder darüber nachzudenken. Auch und besonders deshalb, weil es trotz vieler Versuche der juristischen und politischen Aufklärung immer noch offene Fragen gibt, die quälend sind, quälend für Sie sind.

Es ist schwer für Sie, aber Sie denken darüber nach. Und das ist nötig. Denn es ist wichtig, genau hinzusehen, und weiter aufzuklären, was war. Wichtig auch deshalb, weil wir als Gesellschaft nicht nur in diesem Fall, aber auch hier schnell an den Punkt kommen, an dem jemand sagt: Was hier geschehen ist, war unvorstellbar. Ich kann das verstehen. Es ist menschlich. Die Behauptung der Unvorstellbarkeit ist ja auch ein Zeichen großer Erschütterung. Aber sie ist eben auch ein Schutzreflex, um das Geschehen weit weg von sich zu halten. Aber weit weg darf es nicht sein. Wir müssen begreifen, was passiert ist an diesem 2. Juni 2019. Wir müssen die ganze Dimension dieser brutalen Tat begreifen.

Dieser rechtsextreme Terrorakt hatte eine klare Botschaft: Walter Lübcke starb mitten unter uns, als einer von uns. Die Tat zielte auf ihn, sie zielte aber auch auf uns als Gesellschaft.

Walter Lübcke ist gehasst, er ist getötet worden von denen, die unsere liberale, demokratische Gesellschaft hassen. Er musste sterben, weil er die Werte verteidigte, die unsere Gesellschaft ausmachen. Deshalb geht dieser Mord uns alle an, und er darf uns niemals ruhen lassen.

Der Mord an Walter Lübcke war ein rechtsterroristisch motivierter Mord an einem Politiker in unserer Republik. Die Erfahrung des linksextremistischen Terrors hatte die Republik mit der sogenannten RAF gemacht, die gezielt Repräsentanten des demokratischen Staates entführt und ermordet hat. Unsere Republik hat sich damals gegen diesen Terrorismus gestellt und ihn mit großer politischer Geschlossenheit bekämpft.

Heute brauchen wir diese Geschlossenheit im Kampf gegen den rechtsextremen Terror. Vergessen wir nicht: Die Kontinuität der rechtsextremen Gewalt gegen Menschen in unserem Land reicht lange zurück – und sie geht weiter. Die lange Spur des rechtsextremen Terrors, dem in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni 2019 Walter Lübcke zum Opfer fiel, sie zieht sich leider durch unsere jüngere Geschichte. Und sie endete, das ist die bittere Wahrheit, nicht im Juni vor fünf Jahren.

Sie führt vom Oktoberfestattentat 1980 in München nach Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, nach Solingen, Mölln und Lübeck, sie führt zu den Morden und Anschlägen des so lange nicht erkannten Terrornetzwerkes des NSU. Auch hier in Kassel, wo am 6. April 2006 der 21 Jahre alte Halit Yozgat erschossen wurde. Und sie zieht sich auch seit dem 2. Juni 2019 weiter durch Deutschland – nach Wächtersbach, nach Halle, nach Hanau.

Fünf Jahre nach dem Mord, nach den gerichtlichen Verfahren und dem Untersuchungsausschuss müssen wir festhalten: Wir wissen nicht, ob der Mord an Walter Lübcke hätte verhindert werden können. Aber wir wissen, dass wir im Ergebnis nicht genug getan haben, um die Gefahr abzuwenden.

Die Tat geschah nicht aus dem Nichts, sie hat eine Vorgeschichte. Zu dieser Vorgeschichte gehört das Versäumnis des Staates, die furchtbare Gefahr des Rechtsterrorismus in ihrer ganzen Dimension zu erkennen. Viel zu lange haben wir in unserem Land an der Einschätzung festgehalten, man habe es mit Einzeltätern, mit allenfalls einer kleinen Bande zu tun. Die rechtsextreme Ideologie, die vorhandenen Strukturen und Netzwerke, die Gruppierungen und ihre Kontakte wurden unterschätzt, die von ihnen ausgehende Gefahr verkannt.

Heute, in diesen Tagen, müssen wir erkennen: Rechtsextremismus ist nichts, was einfach wieder verschwindet. Sein Erscheinungsbild mag sich verändert haben. Er ist mitunter salonfähig, ja partyfähig geworden! Aber auch wenn er inzwischen manchmal im feinen Anzug daherkommt oder junge Leute in Champagnerlaune seine Parolen mitgrölen – weniger gefährlich ist er deshalb nicht. Im Gegenteil: Seine Anhänger haben inzwischen viele Vereine, Gruppen, pseudowissenschaftliche Institute gegründet. Sie finden Unterstützung von vermögenden Spendern. Sie nutzen parteipolitische Strukturen und Privilegien, ihr Einfluss reicht bis in die Parlamente. Der Rechtsextremismus hat Netzwerke, zu denen auch die Täter gehörten; Netzwerke, die bis heute nicht vollständig aufgeklärt sind.

Und es gelingt diesen Netzwerken immer wieder und immer öfter, das gesellschaftliche Klima zu beeinflussen, den Raum, in dem wir politische Debatten führen, zu polarisieren und ihn mit Hass zu durchtränken. Es gelingt ihnen, die Grenze des Sagbaren immer mehr ins Unsägliche zu verschieben. Und die sozialen Medien helfen immens bei der Radikalisierung – wohlgemerkt nicht nur der Jugend. Bei allen Veränderungen, etwas bleibt: Extremistische Gewalt – ganz gleich, ob linksextremistische, rechtsextremistische oder islamistische Gewalt – extremistische Gewalt tötet und sie will Demokratie zerstören.

Nichts, was wir tun können, wird Ihnen, liebe Familie Lübcke, Ihren Mann, Vater und Großvater, Ihren Bruder und Onkel zurückbringen. Aber Walter Lübcke und die anderen Opfer des Rechtsterrorismus mahnen uns und geben uns als Gesellschaft Lehren für die Zukunft auf. Sein Tod ist uns Mahnung. Sein Tod ist uns Mahnung, wie Worte zu Hass aufstacheln und wie aus diesem Hass Gewalt werden kann.

Für uns alle – Politik, Medien, Gesellschaft – gilt: Worte können Waffen sein. Der im Nationalsozialismus verfolgte, große Victor Klemperer hat uns seine Erfahrung hinterlassen, wie Sprache unsere Gefühle steuert und unsere Seele zerstören kann. Worte, so schreibt Klemperer, können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.

Den Boden für rechtsextremistische Gewalt haben in der Vergangenheit immer wieder aufgeheizte politische Debatten bereitet. Genau diesen Mechanismus nutzen Extremisten ganz bewusst. Sie versuchen gezielt, Debatten aufzurauen. Sie versuchen, mit Worten einzelne Gruppen zu entmenschlichen, um das Ventil für Hass zu öffnen und auch, um Angst und Terror in diesen Gruppen zu verbreiten.

Worte können enthemmen, sie können Hass entfachen. Das gilt natürlich und besonders im digitalen Raum. Das gilt aber auch in unserem Alltag, bei Freunden, in der Familie, Vereinen, auf der Arbeit. Und es gilt in Parlamenten und Versammlungen, im Wahlkampf, auf der Straße, im Rathaus.

Jeden Tag sehen wir den Versuch, mit Worten die Skala des Anstands, den Konsens unserer Werte zu verschieben. Und oft, zu oft wie ich finde, gelingt dieser Versuch. Die furchtbare Folge davon ist Gewalt. Gerade jetzt, in diesen Tagen lesen und hören wir fast täglich, dass politisch Engagierte und Mandatsträger körperlich angegriffen werden. Und die Hemmschwelle, so scheint es, sinkt von Tag zu Tag. Aber wir dürfen uns an Gewalt in der politischen Auseinandersetzung nicht gewöhnen! Niemals!

Denn Gewalt sät Angst und sie lässt ausgerechnet die Menschen verstummen, die eine Demokratie braucht. Wer Angst haben muss um sich, Angst haben muss um seine Familie, der bewirbt sich nicht um politische Verantwortung. Und wenn unserem Land, wenn unseren Städten und Gemeinden die Menschen fehlen, die Verantwortung übernehmen, dann verdorrt unsere Demokratie an ihren Wurzeln, dann trocknet sie von unten aus! Und deshalb dürfen wir Gewalt keinen Raum lassen!

Diejenigen, die sich für unseren Staat engagieren, die damit auch ein höheres Risiko tragen, Opfer von rechtsextremer Gewalt zu werden, verdienen den möglichen Schutz – und sie brauchen eine breite gesellschaftliche Unterstützung. Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen wie Walter Lübcke, die sich für unser Gemeinwesen und unsere Demokratie einsetzen, ihre Arbeit angstfrei und geschützt tun können. Dazu brauchen wir gute politische Bildung; wir brauchen einen wachen, reaktionsschnellen Rechtsstaat; wir brauchen den Zusammenhalt der demokratischen Parteien und wir brauchen Zusammenhalt in der Zivilgesellschaft.

Eines ist mir aber besonders wichtig: Wir alle zusammen stehen den Versuchen einer radikalen Minderheit, die Demokratie zu untergraben, nicht ohnmächtig gegenüber. Im Gegenteil! Jede und jeder Einzelne von uns hat es in der Hand, diese Versuche zu vereiteln.

Jeder hat die Möglichkeit, andere Worte zu finden, auch mal innezuhalten, verbal abzurüsten. Jede und jeder hat eine Verantwortung, die er wahrnehmen kann. Es kommt in der Tat auf jeden von uns an. Jede und jeder Einzelne kann etwas geben. Dazu gehören zum Beispiel Friedfertigkeit im Umgang miteinander, auch Solidarität mit jenen, die bedroht werden.

Und: Es ist immer möglich, auch Nein zu sagen. Es war möglich, den verzerrenden Videoausschnitt der Bürgerversammlung von Lohfelden nicht in den sozialen Netzwerken zu teilen. Es ist möglich, nicht mitzusingen, wenn einer rassistische Gesänge anstimmt. Es ist möglich, nicht mitzulachen, wenn einer einen menschenfeindlichen Witz macht.

Wo Hass verbreitet wird, ist unser Widerspruch gefragt. Keiner, der Hass verbreitet, darf unter dem Eindruck leben, für eine angeblich schweigende Mehrheit zu sprechen.

Denn ich bin und bleibe überzeugt: Die Mehrheit steht in unserem Land hinter unseren demokratischen Werten! Sie will Differenzierung, sie will Offenheit, sie zeigt Bereitschaft zu Kompromiss! Und ich bin froh und freue mich darüber, dass sie es immer öfter laut und deutlich zeigt!

Ich habe in den vergangenen Monaten oft an Walter Lübcke gedacht und denken müssen. Er kam mir immer wieder in den Sinn, als wir alle die Recherchen zu den Vertreibungsphantasien bei jenem Geheimtreffen in der Potsdamer Villa gelesen haben. Ich glaube, Walter Lübcke hätte sich gefreut zu sehen, wie hunderttausende Menschen im ganzen Land – auch hier in Kassel und in Hessen überhaupt – gemeinsam auf die Straße gegangen sind, um den Rechtsextremen entgegenzutreten. Man muss für Werte eintreten – er wäre dabei gewesen. Er hätte sich gefreut über die vielen gemeinsamen Initiativen auch von Unternehmen und Betriebsräten gegen Extremismus. Und ich bin sicher, er hätte diejenigen ermutigt und unterstützt, die jetzt klar Position beziehen!

Liebe Frau Braun-Lübcke, Sie haben vor einiger Zeit einen Appell an die Schülerinnen und Schüler der nach Ihrem Mann benannten Schule gerichtet. Einen Appell, aus dem ich gerne zitieren möchte: Jeder von uns ist aufgefordert, demokratische Werte zu leben und zu verteidigen, so haben Sie gesagt. Und weiter: Bitte seien Sie ein Teil davon. Diesem Aufruf möchte ich mich gerne anschließen.

Walter Lübcke war ein Mensch, der als Christ und Demokrat die Verantwortung übernommen hat, sich diesen Angriffen auf unsere Gesellschaft entgegenzustellen.

Wir bräuchten ihn jetzt hier unter uns. Nehmen wir ihn uns zum Vorbild als einen Menschen, der mutig für die Würde des Einzelnen einstand, der zugewandt und offen war, der das Richtige tat. Wir werden ihn nie vergessen!