Eröffnung der Ausstellung „Caspar David Friedrich. Kunst für eine neue Zeit“

Schwerpunktthema: Rede

Hamburg, , 13. Dezember 2023

Der Bundespräsident hat am 13. Dezember die Ausstellung „Caspar David Friedrich. Kunst für eine neue Zeit“ in der Hamburger Kunsthalle mit einer Rede eröffnet.

Ich will Sie ja nicht neidisch machen, aber ich muss gestehen, dass ich eben schon einen kleinen Rundgang durch die Ausstellung machen durfte. Mönch am Meer, Kreidefelsen auf Rügen, Wanderer über dem Nebelmeer: All die bezaubernden Bilder Caspar David Friedrichs an einem Ort versammelt zu sehen, seine ganze Welt vor Augen zu haben, das ist spektakulär, das ist überwältigend, das ist wunderschön – und ich wünsche Ihnen allen, die heute hier sind, und denen, die uns zuschauen, dass Sie später bei einem Rundgang viel Zeit zum Verweilen und Staunen haben.

Ich freue mich sehr, dass wir heute Abend gemeinsam das Festjahr zum 250. Geburtstag von Caspar David Friedrich einläuten können. Wir eröffnen hier in Hamburg die erste von drei aufeinander folgenden Ausstellungen, die sich im kommenden Jahr mit dem berühmtesten deutschen Maler der Romantik beschäftigen werden. Jede von ihnen nähert sich dem Künstler, der 1774 in Greifswald geboren wurde, aus einer anderen Perspektive. Die Werkschau in der Kunsthalle fragt nach der Bedeutung von Friedrichs Kunst in seiner und in unserer heutigen Zeit des Umbruchs. Die Alte Nationalgalerie in Berlin widmet sich der Wiederentdeckung seiner Bilder im Kaiserreich. Und die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden erzählen davon, wie die Stadt, in der Friedrich mehr als vierzig Jahre lebte, sein Werk prägte.

Die Museen in Hamburg, Berlin und Dresden haben in den vergangenen Monaten nicht einfach allein vor sich hin gewerkelt, sondern sich zusammengetan, ihre Ausstellungen aufeinander abgestimmt und ein gemeinsames Webportal entwickelt, auf der sie uns sämtliche Werke aus ihren Friedrich-Sammlungen präsentieren. Ich habe heute Abend schon von mehreren Seiten gehört, wie glücklich alle über diese Zusammenarbeit sind. Und ich finde, das Jubiläums-Programm führt uns ganz, ganz eindrucksvoll vor Augen, wie viel Kompetenz, Leidenschaft und Kreativität in unseren Museen versammelt sind. Ein großes Dankeschön an alle, die dieses Friedrich-Festjahr möglich gemacht haben.

250 Jahre Caspar David Friedrich, das ist ein Ereignis, das sich schon seit Wochen in großem Stil ankündigt. Friedrichs Himmel, Wolken und Meere leuchten uns von Titelseiten und Buchcovern entgegen, begegnen uns auf Litfaßsäulen, im Internet und in den sozialen Netzwerken; seine Gemälde und Zeichnungen werden von Künstlern, Wissenschaftlerinnen und Journalisten im Licht der Zeit immer anders und immer neu interpretiert; manch einer sieht in Friedrich nicht weniger als den Maler der Stunde oder, auch das habe ich gelesen, sogar einen Pionier des Klimaschutzes.

Dass Caspar David Friedrich heute so etwas wie ein Superstar der Kunst ist, das ist eigentlich eine erstaunliche Geschichte. Denn er war ja eher ein Schattengewächs, ein von frühen Verlusten geprägter, schwermütiger, geradezu verschrobener Mensch, getrieben von protestantischem Arbeitseifer und der Sehnsucht nach Erlösung. Sein Freund, der Arzt, Maler und Naturphilosoph Carl Gustav Carus, schrieb über ihn: In Dresden hatte er sich stets sehr abgesondert gehalten […]. Man sah ihn fast nie unter Menschen […]. Die Dämmerung war sein Element, früh im ersten Morgenlicht ein einsamer Spaziergang und ebenso ein zweiter abends bei oder nach Sonnenuntergang […]: das waren seine einzigen Zerstreuungen; übrigens brütete er in seinem stark beschatteten Zimmer fast fortwährend über seinen Kunstschöpfungen.

Diese Kunstschöpfungen, Werke voller Poesie und Melancholie, wurden von den Zeitgenossen zunächst zwar geschätzt, sie kamen aber schon bald aus der Mode und wurden von den Kritikern verrissen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerieten Friedrichs Bilder fast völlig in Vergessenheit, und als sie dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts endlich wiederentdeckt wurden – nicht zuletzt dank Alfred Lichtwark, dem ersten Direktor der Hamburger Kunsthalle –, da wollten viele in ihnen vor allem ein politisches, ein nationalistisches Statement erkennen. Friedrich galt ihnen als ein germanischer, nordischer Künstler, der so etwas wie das deutsche Wesen zum Vorschein gebracht habe.

Wir wissen, die Nationalsozialisten missbrauchten Friedrichs Werk dann vollends für ihren völkisch-rassistischen Wahn. In der DDR galten seine Bilder lange als reaktionär, und in der alten Bundesrepublik mochten viele Achtundsechziger in ihnen nur muffige Deutschtümelei erkennen. Erst 1974, zu seinem 200. Geburtstag, wurden Friedrichs Gemälde wieder in einer großen Retrospektive gezeigt. In der Zeit der Entspannungspolitik fanden die Hamburger Kunsthalle und die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden damals zu einer spektakulären deutsch-deutschen Kooperation zusammen: Friedrichs Bilder wanderten über die innerdeutsche Grenze – Bilder aus Dresden waren in Hamburg zu sehen, Bilder aus Hamburg dann in Dresden und Leipzig.

Heute, ein halbes Jahrhundert später, schauen wir mit den Augen unserer Zeit auf Friedrichs Landschaften. Ich bin vorhin mit dem Zug aus Berlin gekommen, am Hamburger Hauptbahnhof ausgestiegen und dann zu Fuß hier herüber zur Kunsthalle gegangen. Auf dem kurzen Weg hat man den Eindruck, dass dieses Museum wie eine Insel inmitten der Großstadt liegt, umtost von lärmendem Verkehr, umspült von den Menschenmengen, die sich durch die Einkaufsstraßen schieben, gerade jetzt, in der Vorweihnachtszeit.

Wir hetzen durch dieses Gewusel, mit den Gedanken immer schon beim nächsten Termin, den Blick fest aufs Smartphone geheftet. Wir laufen flüchtigen Trends und Moden hinterher, müssen uns ständig zwischen irgendwelchen Optionen entscheiden, werden überflutet mit geposteten Bildern, Kommentaren und Nachrichten. Ich glaube, fast jeder von uns kennt das Gefühl, sich in diesem endlosen Strom äußerer Reize zu verlieren, zumindest unkonzentriert, abgelenkt und überfordert zu sein, mit allen in Kontakt und doch nicht verbunden. Eine Rilke-Variation von Peter Handke bringt das, wie ich finde, sehr schön auf den Punkt: Es ist, als ob es nur noch Aktualitäten gäbe, und hinter tausend Aktualitäten keine Welt.

Und dann kommen wir hier herein in diese Ausstellung. Hinter uns, so fühlt es sich an, fällt eine dick gepolsterte Tür ins Schloss, vor uns öffnet sich ein weiter Raum der Stille, die geheimnisvolle Welt Caspar David Friedrichs: undurchdringliche Wälder, schneebedeckte Tannen, verwitterte Eichen; zerklüftete Felsen, schiefe Gipfelkreuze, verfallene Klosterruinen; in Nebel gehüllte Wiesen und immer wieder das unendliche Meer, der leere Strand, hier und da ein Segelschiff oder ein Fischernetz, und hoch über allem der Himmel, die Wolken, der Mond, von irgendwoher ein unwirkliches, überirdisches Licht. Wenn überhaupt Menschen zu sehen sind, oft allein oder zu zweit, dann haben sie sich meist von uns abgewandt und kehren uns den Rücken zu. Wir betrachten sie dabei, wie sie die Natur betrachten; wir fragen uns, wer sie sind, was sie denken und empfinden; und wir denken über uns selbst nach.

Caspar David Friedrich brach mit den Regeln der zeitgenössischen Kunst. Es ging ihm nicht darum, eine reale Landschaft, einen realen Himmel auf die Leinwand zu kopieren. Er durchstreifte die Natur, zeichnete Skizzen, viele davon sind in der Ausstellung zu sehen, von Felsen und Pflanzen – Figuren konnte er nicht so gut –, zog sich dann in sein Atelier zurück, verdunkelte die Fenster, richtete den Blick nach innen und malte ein Bild, das er vor seinem geistigen Auge sah. Seine Landschaften sind Kompositionen einer imaginierten Wirklichkeit, aus naturgetreuen Fragmenten zusammengesetzt, neu geordnet, fantastisch und realistisch, subjektiv und allgemeingültig zugleich.

Friedrichs Gemälde zeigen uns dabei auf den ersten Blick nichts eigentlich gar nichts Ungewöhnliches oder Spektakuläres: Bäume, Küsten, Menschen in der Natur. Aber wenn wir einen Moment länger hinschauen, dann merken wir, dass da noch etwas anderes ist. Etwas, das uns irritiert, ergreift, innehalten lässt. Friedrich hat uns ausdrücklich dazu ermuntert, auf unser eigenes Herz zu hören und unserem eigenen Verstand zu vertrauen, wenn wir vor seinen Bildkompositionen stehen. Es sei, schrieb er, doch schon ein großes Verdienst und vielleicht das größte eines Künstlers, geistig anzuregen und in dem Beschauer Gedanken, Gefühle und Empfindungen zu erwecken, und wären sie auch nicht die seinen.

Friedrichs Kunst reflektiert die großen Umbrüche seiner Zeit. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert erschütterten Aufklärung und Französische Revolution die alten Ordnungen und alle religiösen Gewissheiten; der naturwissenschaftliche und technische Fortschritt veränderte Lebens- und Arbeitswelten; die Befreiungskriege gegen Napoleon erhitzten die Debatten über Identität, Zugehörigkeit, nationale Einheit. In dieser unruhigen, aufgewühlten Welt ging es für den Einzelnen und die Gesellschaft darum, sich neu zu verorten und zu sich selbst zu finden.

Das kommt uns heute bekannt vor, denn auch wir leben in einer Phase großer Umbrüche und Veränderungen. Klimakrise, Artensterben, Naturkatastrophen; der ökologische Umbau unserer Wirtschaft, neue Konflikte in unserer vielfältigen Gesellschaft; die Verhärtung des öffentlichen Gesprächs, nicht zuletzt Kriege und Terror, die schrecklichen Bilder aus der Ukraine, aus Israel und dem Gazastreifen – all das verunsichert, verwirrt und beunruhigt uns. Und vielleicht hat es mit dieser existenziellen Verunsicherung zu tun, dass uns Friedrichs Kunst gerade heute wieder so nahe geht. Seine Bilder lassen Verlorenheit und Fremdheit in der Welt spüren, manches Aussichtslose, Vergebliche, Absurde unserer Existenz. Aber eben nie nur das, sondern sie wecken auch Hoffnung auf Heimat und Freundschaft, auf Geborgenheit und Verbundenheit, auf ein Leben im Einklang mit der Natur.

Friedrichs Landschaften werfen Fragen auf, ohne Antworten vorzugeben. Sie lassen uns über unsere Beziehung zur Welt nachdenken, über das Verhältnis von Mensch und Natur, darüber, was im Angesicht von Endlichkeit und Unendlichkeit, von Werden und Vergehen wirklich wichtig ist. Sie sind Ruhepunkte in unserer atemlosen Welt, die uns Kraft geben können für die großen Aufgaben, die da draußen auf uns warten – in der Familie, im Beruf, in der Gesellschaft, in der Politik.

Ich wünsche mir, dass viele Menschen aus ganz Deutschland und aus aller Welt in den kommenden Monaten Gelegenheit haben werden, wenigstens eine der drei Ausstellungen zu besuchen. Und ich wünsche allen Besucherinnen und Besuchern, dass Friedrichs Kunst etwas in ihnen auslöst und anklingen lässt, dass sie Neues entdecken oder vielleicht einfach nur für einen Moment die Zeit und ihre Beunruhigung vergessen.

Caspar David Friedrich lässt seine Bilder zu uns sprechen. Von Wortmacherei hielt er nicht viel, und ganz bestimmt war er auch kein Freund langer Eröffnungsreden. Im August 1810 schrieb er an den Jenaer Theologieprofessor Friedrich August Koethe: Sie verlangen zu wissen, was ich jetzt tue und treibe. Das bin ich mit Worten zu sagen nicht imstande, vielleicht ist es mir gelungen, nach Verlauf von einem halben Jahre meine Gedanken auf der Leinewand hingepinselt zu haben, und als dann lade ich Sie und alle so Wohlgefallen daran finden ein: kommet und sehet.

Kommet und sehet – diesem Aufruf des Meisters schließe ich mich gerne an. Und als Schirmherr der drei Jubiläums-Ausstellungen darf ich jetzt sagen: Das Caspar-David-Friedrich-Jahr, es ist eröffnet!