Eröffnung der Konferenz VE:23 – Tag des treuhändischen Unternehmertums

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 27. Oktober 2023

Bundespräsident Steinmeier hat zur Eröffnung der Konferenz VE:23 – Tag des treuhändischen Unternehmertums am 27. Oktober in Berlin eine Rede gehalten: "Jedes Unternehmen, das auch nur etwas von dem ernst nimmt, was wir im weitesten Sinne unter dem Begriff 'Verantwortungseigentum' verstehen können, stärkt die Kraft der Idee der freien und Sozialen Marktwirtschaft, stärkt unsere freiheitliche Ordnung, auch in der globalen Konkurrenz der Systeme."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steht auf dem Podium und hält eine Rede bei der Veranstaltung zur Eröffnung der Konferenz VE:23 – Tag des treuhändischen Unternehmertums im Radialsystem in Berlin

Ganz herzlichen Dank für die Einladung ins Radialsystem – ein wunderbarer Ort mit großer Geschichte und mit lebendiger Gegenwart. Danke für die Einladung, zu Ihnen zu sprechen. Ich bin gerne zu Ihnen gekommen, denn Ihre Konferenzen zum treuhänderischen Unternehmertum versammeln, wie ich weiß, seit fünf Jahren eine stattliche Anzahl sehr interessierter und sehr engagierter Unternehmerinnen und Unternehmer. Sie fühlen sich auf besondere Weise dem nachhaltigen Wirtschaften verpflichtet. Vielleicht kann man, ohne Ihnen zu nahe zu treten, sogar von einer wirtschaftlichen Avantgarde sprechen.

Unternehmerisches Engagement, unternehmerischer Erfolg – oder der Ehrgeiz, diesen Erfolg anzustreben, das vereint Sie alle. Sie vereint aber auch der Wille, diesen unternehmerischen Erfolg und den damit verbundenen Gewinn nicht als die einzige Triebfeder und als das einzige Ziel Ihres Handelns anzusehen. "Eigentum verpflichtet" – diesen kürzesten Satz unseres Grundgesetzes machen Sie groß und erfüllen ihn mit Leben.

Die Idee, Kapital im Unternehmen zu binden, um dessen Substanz zu erhalten und damit dauerhaft dem Unternehmenszweck zu dienen, statt im Quartalstakt maximale Renditeansprüche einiger weniger zu erfüllen, diese Idee mag vielleicht nicht völlig neu sein. Die langfristige und mehrdimensionale Orientierung unternehmerischen Handelns ist im Grunde in unserer Marktwirtschaft angelegt, die sich selbst als eine soziale versteht und bezeichnet. Verinnerlicht und repräsentiert werden diese Grundsätze hierzulande in besonderer Weise in vielen traditionsreichen kleinen und mittelständischen Familienunternehmen, von denen viele nicht zuletzt durch ihre Stetigkeit und Verlässlichkeit ein hohes Renommee und in vielen Fällen bedeutende Anteile auf den Weltmärkten erworben haben. Und dass das Qualitätssiegel
"Made in Germany" heute immer noch einen guten Namen hat, liegt eben auch daran.

Weil das so ist, ist es richtig, solchem langfristig orientierten Unternehmertum immer wieder eine neue, zeitgemäße Form zu geben. Und doch geht es Ihnen, lieber Herr Steuernagel, und Ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern mit Ihrer Initiative für ein treuhänderisches Eigentum um mehr als das. Es geht Ihnen auch darum, unternehmerisches Handeln ganz direkt mit gesellschaftlichen Anliegen zu verbinden, wie etwa Klima- und Umweltschutz, oder mit sozialer Verantwortung zum Beispiel gegenüber Beschäftigten, Kunden oder Lieferanten. Und es geht Ihnen auch darum, unternehmerische Konzepte und Perspektiven über einzelne Personen und Familien hinaus zu entwickeln – eine hochaktuelle Fragestellung angesichts der Tatsache, dass zunehmend mehr Familienunternehmer keine passende Nachfolge finden, die den Betrieb in diesem Sinne weiterführt.

Die "Stiftung Verantwortungseigentum" hat auch Vorschläge vorgelegt, die rechtlichen Möglichkeiten und Voraussetzungen zu schaffen oder zu erleichtern, um zu einer modernen Unternehmenskultur beizutragen. Die politische Debatte über eine solche neue Rechtsform für treuhänderisches Eigentum läuft. Ihr Grundanliegen, verantwortlichem Unternehmertum eine besondere Form zu geben, hat meine Sympathie, und darum bin ich heute hier.

Ich meine aber auch, dass Gemeinwohlorientierung, dass Verantwortung für das Ganze der Gesellschaft eine Verpflichtung für jedes Unternehmen bedeutet, unabhängig von seiner Rechtsform. Gemeinwohlorientierung aber müsste über diese besondere Initiative eigentlich hinausgehen.

Zwei Beispiele: Der soziale Zusammenhalt in einer Gesellschaft, die in einer historisch völlig neuartigen Weise von Zuwanderung geprägt ist, muss von jedem Unternehmen als Aufgabe begriffen werden. Schon um der Zukunftsfähigkeit des eigenen Unternehmens willen. In den nächsten zehn Jahren werden wir eine Anzahl von Menschen im erwerbsfähigen Alter in Millionenhöhe verlieren. War vor zwanzig Jahren noch Arbeitslosigkeit unser Problem, so gibt es schon jetzt einen Mangel an Arbeitskräften, der im nächsten Jahrzehnt dramatisch werden dürfte. Wir erleben gleichsam ein Erdbeben in Zeitlupe. Vor diesem Hintergrund brauchen wir – neben exzellenter Bildung und Ausbildung – Zuwanderung; wir müssen sie allerdings organisieren und steuern. Dazu gehört einerseits die Eindämmung illegaler Migration, andererseits gehören dazu legale Zugangswege mit koordinierter und umsichtiger Integrationspolitik. Arbeitsmigration ist nicht neu in Deutschland. Seit Ende der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts haben viele Menschen aus Italien, Griechenland, Spanien, Portugal, später vor allem aus der Türkei hier eine neue Heimat gefunden. Überdies zeigen viele Migranten in unserem Land eigenverantwortliche unternehmerische Initiative, ihre Gründungsaktivitäten liegen höher als bei Menschen ohne Einwanderungsgeschichte.

Wäre dies unser einziges Thema, um das wir uns zu kümmern hätten, es wäre schon herausfordernd genug. Aber kein gesellschaftlicher Bereich, keine Gruppe wird die elementare Bedrohung globalen Ausmaßes, die der Klimawandel bedeutet, einfach in interesseloser Neutralität geschehen lassen können. Die immer dichtere Abfolge von Extremwetterereignissen, die wir auch in Deutschland spüren, zeigt und mahnt uns: Es geht hier ums Ganze, und es geht uns alle an. Der Kampf gegen die Folgen der Klimaveränderung verlangt von Politik und Gesellschaft und eben auch von Unternehmen umfassende Konzepte und Maßnahmen, um möglichst schnell und effektiv zu dekarbonisieren und gleichzeitig unsere industrielle Basis zu erhalten. Er verlangt von der Wirtschaft, aber natürlich ebenso von uns allen als Konsumenten eine konsequente Selbstverpflichtung zu Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung und Kreislaufwirtschaft.

Wir erleben heute, wem sage ich das, eine Zeit tiefer Umbrüche. Die demographische Entwicklung, der ambitionierte, aber notwendige Weg zur Klimaneutralität und die massiven geopolitischen Veränderungen, nicht nur mit Blick auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine und der Hamas gegen Israel, und nicht nur mit Blick auf die wirtschaftlichen Schwergewichte, die sich in Richtung Asien verlagern, nach Indien und China: All das erfordert von uns allen Bereitschaft zur Transformation. Oder besser: die Bereitschaft, sich der längst im Gang befindlichen Transformation offen zu stellen und sie aktiv und zum Guten aller zu gestalten. Dass wir das können, haben wir in den zurückliegenden Strukturbrüchen bewiesen.

Wir machen, weil das für unser menschliches Begriffsvermögen leichter nachvollziehbar ist, Umbrüche oft an bestimmten Daten und Ereignissen fest, an denen sich anscheinend alles ändert. Dabei wissen wir aus der Geschichte: Alle, gerade die tiefsten, Veränderungen geschehen über lange und längere Zeiträume, wenige von heute auf morgen. Nur ein mir unvergessliches Beispiel: Als ich am 21. Dezember 2018 auf Prosper-Haniel in Bottrop die letzte Schicht begleitet und das letzte in Deutschland geförderte Stück Steinkohle entgegengenommen habe, da war das ein höchst emotionaler Moment. Viele im Saal, vor allem die Bergleute, hatten Tränen in den Augen. Es endete damit wahrhaftig eine ganze historische Epoche, die Wohlstand und Wachstum für unser Land gebracht hat. Aber diesem einen Moment war eine lange Geschichte von langsamen, aber eindeutigen Veränderungen vorausgegangen: Schon Jahrzehnte vor dem Dezember 2018 war "Strukturwandel" im Ruhrgebiet zu einem vertrauten Begriff geworden, gleichzeitig gefördert und gefürchtet, aber vor allem: unvermeidlich.

Heute stehen wir vor dem Aufbruch ins Wasserstoffzeitalter. Und KI wird Bildung, Arbeit, Wirtschaft und auch Ihre Unternehmen verändern. Solche Veränderungen in den Blick zu nehmen und zu gestalten, dazu erscheint mir eine schon nach ihren Statuten langfristig orientierte Unternehmensführung geradezu prädestiniert. Die Früherkennung kommender Herausforderungen und Möglichkeiten ist eine wichtige Voraussetzung nachhaltigen Erfolgs, und sie liegt in der Verantwortung der Unternehmen, auch gegenüber den Beschäftigten, die wiederum selbst gefordert sind, sich diesem unvermeidlichen Wandel zu stellen.

Darum ist es auch gut – und das ist für mich gar keine Nebensache –, wenn sich verantwortungsvolle Unternehmerinnen und Unternehmer nicht nur um Wandel im Unternehmen, sondern auch um den Kulturwandel etwa durch die Förderung und Auseinandersetzung mit Kunst kümmern. Ich meine damit nicht den Ankauf von am Markt längst eingeführten Blockbustern für die Vorstandsetage, sondern wirkliche Begegnung mit und Förderung von junger zeitgenössischer Kunst. Oft sind junge Künstler die besten Seismographen für die schleichenden, oft kaum merklichen tektonischen Verschiebungen kultureller oder sozialer Verhältnisse, die später erst in allen Folgen sichtbar werden.

Zu meinen größten Sorgen gehört allerdings noch etwas anderes: Zu den von uns allen verspürten Veränderungen, die sich wohl auch schon länger angebahnt haben, gehört eine zunehmende Krise des Vertrauens in unsere freiheitlich-demokratische Ordnung – mit der zu ihr gehörenden Sozialen Marktwirtschaft. Die immer öfter auch offen artikulierte Sehnsucht nach autoritären Strukturen, die wachsende Zustimmung zu radikalen, oft auch extremistischen Kräften und ihr wachsender Erfolg bei Wahlen sind dafür unübersehbare und beunruhigende Symptome. Symptome für eine Legitimationskrise der freiheitlichen Ordnung, der wir jahrzehntelange Freiheit und Sicherheit, inneren Frieden und – durch einen stabilen Rahmen für unternehmerisches Handeln – auch Wohlstand zu verdanken haben.

In dieser Situation kommt auch der Wirtschaft, kommt auch Unternehmen noch einmal eine besondere Verantwortung zu. Denn wo sich Wirtschaft der Verantwortung für das Gemeinwesen und die Umwelt entzieht, wo sich Gewinnmaximierung in Reinform, wo sich rücksichtslose Ausbeutung von Menschen und Ressourcen zeigen, wo Gehälter jede Vorstellungskraft von normalen Menschen übersteigen, da setzt sich notwendigerweise die Vertrauenskrise fort, die spätestens 2008 mit der großen Bankenpleite und den großen Rettungsschirmen aus Steuergeldern massiv begonnen hat.

Unternehmen sind heute in einem ganz neuen Sinn "systemrelevant" für das ganze Gemeinwesen. Wenn in ihrem Wirken sozial und ökologisch verantwortungsvolles Wirtschaften sichtbar wird, dann stärkt das unsere freiheitliche und demokratische Ordnung insgesamt.

So wie die Gesellschaft von der Wirtschaft verantwortungsvolles Handeln erwartet, so kann allerdings auch die Wirtschaft erwarten, dass solches verantwortungsvolles Handeln von Staat und Gesellschaft erkannt und anerkannt wird. Unternehmertum, wenn es verantwortungsgeleitet ist, ist nichts Fragwürdiges, sondern für unseren Wohlstand höchst erstrebenswert und, wegen des oft persönlichen Risikos, auch aller Anerkennung wert. Das kommt mir in den Debatten, die wir häufig sehr allgemein über "die Wirtschaft" führen, immer etwas zu kurz. Und auch bei der Diskussion über die ganz handfesten Parameter eines wettbewerbsfähigen Wirtschaftens, wie etwa Fragen der Besteuerung, der Bürokratie oder Regulierung, ist es ratsam, nicht überall gleich ungehemmten Lobbyismus zu wittern, wenn wirtschaftliche Interessen deutlich artikuliert werden, sondern, das scheint mir eher notwendig, sich die tatsächlichen Bedingungen vorurteilsfrei anzuschauen.

Konkurrenz belebt das Geschäft, das ist die älteste Binsenweisheit der Wirtschaft überhaupt. Wir leben jetzt aber in Zeiten, wo es nicht nur um Produktkonkurrenz oder um Leistungs- oder Absatzkonkurrenz geht. Es geht auch um die Konkurrenz von Ideen und um die Attraktivität von Gesellschafts- und Wirtschaftssystemen. Jedes Unternehmen, das auch nur etwas von dem ernst nimmt, was wir im weitesten Sinne unter dem Begriff "Verantwortungseigentum" verstehen können, stärkt die Kraft der Idee der freien und Sozialen Marktwirtschaft, stärkt unsere freiheitliche Ordnung, auch in der globalen Konkurrenz der Systeme.

So kann ich Sie alle nur ermutigen, weiter innovativ zu denken, ungewöhnliche Ideen zu entwickeln und Ihre Verantwortung so wahrzunehmen, dass Ihr Unternehmen und sein Weg uns allen zugutekommt. Und ich wünsche Ihnen, dass Sie mit Ihren innovativen Ideen und Konzepten Gehör finden in der Politik und in der Öffentlichkeit.