Wandelkonzert „100 Jahre Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin“

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 29. September 2023

Bundespräsident Steinmeier hat am 29. September das Wandelkonzert "100 Jahre Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin" in Schloss Bellevue mit einer Rede eröffnet: "Um große Kunst wirklich aufnehmen zu können, müssen wir uns auch selber bewegen, zumindest innerlich. Wir müssen uns öffnen für etwas, das wir nicht aus uns selber heraus produzieren können, sondern das uns – und unseren geöffneten Ohren und Herzen – von anderen geschenkt werden muss."

Bundespräsident Steinmeier steht am Rednerpult und hält eine Ansprache

Die Musik ist die Hauptsache des heutigen Abends. Und deswegen sollen diese Begrüßungsworte auf keinen Fall länger dauern als eine der kürzesten Sinfonien der Musikgeschichte, die wir gleich im Anschluss hören werden: Prokofjews "Symphonie Classique". Ihr Witz, ihre Verbindung aus Ironie, aus dankbarer Verbeugung vor der Wiener Klassik und gekonnter Beherrschung der Form soll die passende Ouvertüre für diesen Abend sein. Unterhaltsam soll er sein, dieser Abend, schön und, wenn es geht, sogar ein bisschen heiter.

Und die andere Hauptsache heute Abend ist natürlich ein Dank und eine Gratulation. Ich beglückwünsche das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin zu seinem 100. Geburtstag – ein bisschen vor dem eigentlichen Jubiläumstag, aber dafür hier, in Schloss Bellevue, am Sitz des Bundespräsidenten.

Ich habe mir das ganz bewusst so gewünscht. Denn das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin ist schon etwas ganz Besonderes. Sicher, es gibt einige Orchester auf der Welt, die noch älter sind, auch in Deutschland und auch in Berlin. Aber das Rundfunk-Sinfonieorchester hat eben eine ganz besondere Geschichte: Es kam fast gleichzeitig mit dem Rundfunk, dem damals modernsten Massenmedium auf die Welt. Das Radio steckte damals noch in den Kinderschuhen, sollte aber bald die Kommunikation grundlegend revolutionieren. Und Sie wissen: Nicht immer zum Guten. Das lehrt uns die Geschichte des sogenannten Volksempfängers: neben leichter Unterhaltung und anspruchsvoller Musik, neben Bildungsvorträgen und dem täglichen Wetterbericht eben auch ein bis dahin noch nie dagewesenes Instrument der staatlichen oder politischen Propaganda.

Musik im Radio, also Musik zu Hause oder später auch unterwegs, mit Transistor oder Autoradio, das bedeutete im Lauf der Zeit auch eine noch nie dagewesene Demokratisierung des Zugangs zur sogenannten höheren Kunst. Ein Geschenk der Partizipation, dessen wir uns nur selten wirklich bewusst sind. Und wenn wir heute ein Orchester feiern, das seine Ursprünge und seine Gründung dem Massenmedium Rundfunk verdankt, dann können wir auch ein bisschen dankbar dafür sein, dass uns allen heute ein leichter und, wenn Sie so wollen, barrierefreier Zugang zu großer Kunst möglich ist.

Ein Zugang, der in all der Zeit davor – und da sind dann hundert Jahre doch relativ kurz –, der vor dieser Erfindung nur sehr wenigen möglich war. Dank des Rundfunks, später auch der Tonträger und noch später des Streamings ist es heute jedem von uns möglich, die Neunte Beethovens oder die Matthäus-Passion Bachs viel öfter – vielleicht auch viel intensiver und genauer – zu hören, als es je einem Zeitgenossen der Meister möglich war. Einschließlich der Komponisten selber übrigens. Sicher hat jeder von uns manche Komposition Beethovens öfter gehört als Beethoven selbst, und das nicht nur wegen seiner Taubheit.

Das Konzert heute Abend aber ist einmalig und live – und es ist ein Wandelkonzert. Das heißt, wir konterkarieren ein bisschen dieses massenmediale Liefern der Musik frei Haus. Wir bewegen uns selber von Saal zu Saal, wir gehen, ganz praktisch und sinnlich erfahrbar, der Musik nach oder der Musik entgegen.

Denn auch das bleibt, bei aller noch so leicht möglichen Zugänglichkeit, wahr: Um große Kunst wirklich aufnehmen zu können, müssen wir uns auch selber bewegen, zumindest innerlich. Wir müssen uns öffnen für etwas, das wir nicht aus uns selber heraus produzieren können, sondern das uns – und unseren geöffneten Ohren und Herzen – von anderen geschenkt werden muss.

Von anderen: Das sind die Musikerinnen und Musiker, die aus den merkwürdigen Köpfchen in einer alten Partitur, mit oder ohne Hälse, in einer immer wieder neuen Gegenwart ein musikalisches Erlebnis schaffen. Musik live zu spielen und zu hören, das ist das Glück des Augenblicks, ein Trost oder ein Triumph oder beseligende Trauer. Immer wieder eine Erinnerung an Vergänglichkeit. Ein gerade noch gespielter oder gehörter Ton ist im nächsten Augenblick schon wieder verklungen.

Geschenkt wird uns die Musik aber natürlich vor allem von den Komponisten. Und das Programm spiegelt ein bisschen die Geschichte des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin. Kurt Weill, Paul Hindemith und Sergei Prokofjew haben eben nicht nur komponiert, sondern auch dirigiert – und sie haben alle einmal am Dirigentenpult dieses Orchesters gestanden. Beethoven, Sie ahnen es, natürlich noch nicht, aber seine erste Sinfonie, die wir gleich hören werden, eröffnet den Reigen seiner neun Meisterstücke, die für immer eine Art Goldstandard sinfonischer Dichtung bleiben.

Und dazu kommt der Jazz. Die Kombination heute Abend zeigt noch einmal, dass die inzwischen reichlich verstaubte deutsche Unterscheidung zwischen U- und E-Musik unsinnig ist. Das Rundfunk-Sinfonieorchester hat das immer gewusst und es seinem Publikum oft genug zeigen können. Ich glaube, das wird auch heute Abend der Fall sein.

Das Orchester hat in vier deutschen Staatsformen musiziert: in der ersten deutschen Republik, auch im sogenannten Dritten Reich, in der DDR und jetzt im wiedervereinigten Deutschland. Paul Hindemith und Kurt Weill mussten im "Dritten Reich" emigrieren. Weill ist in Amerika geblieben, wo er nicht nur am Broadway große Erfolge feierte; er kam nicht zurück, er ist in New York gestorben. Und der richtige, der von den afroamerikanischen Musikern erfundene Jazz – der kam dann nach dem Ende des Nationalsozialismus wieder zurück mit den Befreiern aus Amerika.

Am Schluss hören wir gemeinsam die Kleine Dreigroschenmusik mit den musikalischen Themen aus dem berühmtesten Stück, das Brecht und Weill zusammen geschrieben haben. Ernst Bloch, der große deutsche jüdische Philosoph, war dabei, als die Dreigroschenoper zum ersten Mal auf die Bühne kam und ganz Berlin faszinierte. In einem hinreißenden Aufsatz deutete er das Lied der Seeräuber-Jenny als säkulares Adventslied, als Utopie der Befreiung: Und das Schiff mit acht Segeln / Und mit fünfzig Kanonen / Wird entschwinden mit mir. Über diesen Aufsatz setzte Bloch ein Zitat aus Figaros Hochzeit von Mozart: Noch leuchtet nicht des Mondes Silberfackel – und zeigte so, dass alle große Kunst, alle große Musik über die Zeiten hinweg zusammengehört.

Dass sie heute Abend leuchte, des Mondes Silberfackel, dieses utopische Zeichen einer besseren Welt, das wünsche ich Ihnen und uns allen – und dass alle Musik unser Leben etwas heiterer, etwas heller macht.

Herzlichen Glückwunsch noch einmal dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, seinem Künstlerischen Leiter und Dirigenten, Maestro Vladimir Jurowski, und auf viele weitere gute Jahre!