Herr, mache mich zu einem Werkzeug deines Friedens; / dass ich liebe, wo man hasst; / dass ich verzeihe, wo man beleidigt; / dass ich verbinde, wo Streit ist.
Sie alle kennen diese Zeilen aus dem Friedensgebet, das Franz von Assisi zugeschrieben wird. In seinem Geist stehen Ihre Friedenstreffen, seitdem Papst Johannes Paul II. zum ersten Mal Vertreter aller Religionen nach Assisi einlud – in die Heimat jenes Franz von Assisi, der sich so sehr für Frieden eingesetzt hat und der bis in unsere Zeit verehrt wird, und das nicht nur von Christen. Ich möchte diese Bitte um Frieden heute bewusst an den Anfang stellen. Sie ist leider so aktuell wie lange nicht.
Ich freue mich sehr, Sie alle hier in Berlin begrüßen zu dürfen! Ich danke Ihnen sehr herzlich für die Einladung zu diesem Treffen! Sie, die Gemeinschaft Sant’Egidio, versammeln auch in diesem Jahr hochrangige Vertreter der Weltreligionen – zum ersten Mal in Berlin –, um gemeinsam im Glauben und im Gebet, im gemeinsamen Gespräch nach Wegen zu suchen, damit die Welt eine friedlichere wird. Sie geben Hoffnung in einer Zeit, die alles andere als friedlich ist. In der es nicht weniger bewaffnete Konflikte und Kriege auf der Welt gibt, sondern mehr: im Südsudan, im Nahen Osten, in Äthiopien und vielen anderen Ländern. Es ist auch eine Zeit, in der für uns Europäer ein Alptraum Wirklichkeit geworden ist: Auf unserem Kontinent tobt zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wieder ein grausamer Angriffskrieg. Seine Folgen bekommen viele Länder auf der Welt zu spüren. Umso wichtiger ist Ihr Friedenstreffen hier in Berlin!
Sie alle, liebe Gäste, Sie alle wissen, welch kostbares Gut der Frieden ist und wie schwer der Weg dorthin meist ist. Sie wissen auch, wie oft in der Geschichte Religion missbraucht wurde, um Gewalt zu rechtfertigen, wie oft verheerende Kriege im Namen der Religion geführt wurden. Aber Sie alle eint die tiefe Überzeugung, dass der Glaube eine große, friedensstiftende Kraft ist und sein muss.
Krieg bringt nicht nur Tod, Leid und Zerstörung. Krieg ist der Vater aller Armut
, das haben Sie schon bei der Gründung Ihrer Gemeinschaft sehr klar gesehen. Mit nie nachlassender Beharrlichkeit haben Sie sich seither für mehr Frieden auf der Welt eingesetzt. Ich möchte nur an den historischen Friedensschluss in Mosambik vor mehr als 30 Jahren erinnern. Und Sie tun das bis heute in vielen Konfliktregionen auf der ganzen Welt.
Getragen hat Sie bei Ihrem Einsatz für den Frieden immer die Kraft, die Sie aus Ihrem Glauben ziehen. Getragen hat Sie immer das Vertrauen auf Gott und das Bewusstsein, ein Werkzeug Gottes zu sein. Oft haben Sie dort vermittelt, wo die Politik gescheitert war oder nicht vorankam. Die Menschen in Krisen- und Kriegsgebieten nahmen und nehmen Sie als unparteiisch und glaubwürdig wahr, sie vertrauen Ihnen – und deshalb können Sie auch Vertrauen zwischen verfeindeten Konfliktparteien aufbauen. So haben Sie die Welt immer wieder zu einem friedlicheren Ort gemacht oder es immer wieder versucht. Dafür möchte ich Ihnen aus ganzem Herzen danken!
Schon in meiner Zeit als Außenminister waren wir einander eng verbunden. Gern erinnere ich mich auch an meinen Besuch bei Ihnen in Rom Jahr 2017, bei dem wir uns intensiv ausgetauscht haben über aktuelle Krisenherde und Konflikte, aber auch über die anderen großen, drängenden Menschheitsfragen: Armut, Migration und Zuwanderung, soziale Ungleichheit und die Bekämpfung des Klimawandels. Lösungen finden wir für diese großen Menschheitsfragen, davon muss ich hier in diesem Saal niemanden überzeugen, wir nur gemeinsam, im Dialog. Nur so wird es uns gelingen, eine friedlichere Welt zu schaffen.
Sie, lieber Professor Riccardi, haben einmal gesagt, der Dialog sei in den Genen von Sant’Egidio verankert. Und es ist genau diese DNA, die Sie zu einer international respektierten Instanz hat werden lassen. Ich brauche mich ja nur umzusehen in diesem Saal. Eine Instanz, die das Gespräch zwischen den Religionen, aber auch das Gespräch der Religionsgemeinschaften mit der Politik und der Zivilgesellschaft sucht und fördert. Wie wichtig ist dieser Dialog gerade in dieser Zeit, in der unsere liberalen Demokratien stärker angefochten werden; in der auch in unseren Gesellschaften sich neue und tiefe Gräben auftun und die Bereitschaft zum Gespräch kleiner wird. Und deshalb brauchen wir Sie, die Religionsgemeinschaften, umso mehr Verantwortung kommt Ihnen aber auch zu!
Es ist nun schon Ihr zweites Friedenstreffen seit dem 24. Februar 2022, seit dem russischen Überfall auf die Ukraine. Jeder einzelne Tag hat seither Leid, Zerstörung und Tod über die Ukrainerinnen und Ukrainer gebracht. Sie wehren und behaupten sich und kämpfen mit bewundernswertem Mut für ihre Freiheit.
Aber dieser Krieg stellt auch uns vor große Fragen, nicht nur uns Christinnen und Christen, sondern alle Menschen, die glauben: Wie ist es mit dem Glauben vereinbar, Waffen in ein Kriegsgebiet zu liefern. Wie passt das zum Friedensgebot? Verlängern wir damit nicht das Leiden? Und ist es nicht unsere Verantwortung, alles dafür zu tun, damit so schnell wie möglich die Waffen ruhen? Andererseits: Dürfen wir den Opfern dieses grausamen Angriffskrieges Hilfe verweigern? Gebietet uns nicht die Solidarität, die Menschlichkeit, den Angegriffenen beizustehen? All das sind Fragen, die viele Gläubige, viele Christinnen und Christen als tiefes Dilemma erleben. Sie treiben auch mich als bekennenden Christen um.
Ja, es ist der Frieden, der zu den größten und tiefsten Versprechen aller Religionen auf der Welt gehört, sei es im Islam, im Judentum, im Hinduismus und Buddhismus oder im Christentum.
Ja, es ist der Frieden, zu dem die Religionen gemeinsam beitragen können und müssen – das ist es, was Sie auch in diesem Jahr hier in Berlin zusammenbringt.
Ja, es sind die Religionen, die als Förderer des Friedens und als Kraft der Versöhnung einen großen, einen unverzichtbaren Dienst leisten können – für die Menschen. Aber eines will ich auch hier ganz klar sagen: Wer sich im Namen der Religion auf die Seite eines aggressiven Kriegsherren stellt, der ein friedliches demokratisches Nachbarland mit Gewalt unterwerfen will; wer es als Führung einer christlichen Kirche unterstützt, dass unvorstellbare Gräuel an den Menschen in diesem Land, ja, an den eigenen Schwestern und Brüdern im Glauben begangen werden; wer so handelt, verstößt fundamental gegen das Friedensgebot des Glaubens!
Wir mögen unterschiedlich sein in unserem Glauben. Aber einig müssen wir darin sein: Religion darf niemals Rechtfertigung von Hass und Gewalt sein. Das ist unser aller Verantwortung als Gläubige!
Den Frieden wagen: Unter diesem Motto steht Ihr Treffen in diesem Jahr. Den Frieden wagen: drei Worte nur. Drei kleine und zugleich so große Worte. Sie führen mitten hinein in unsere Zeit. Den Frieden wagen, da denken wir Deutsche an Willy Brandt, an seine Aufforderung an uns, mehr Demokratie zu wagen. Die Amerikaner denken dabei an Barack Obamas Hoffnung wagen
. Den Frieden wagen, da sind wir vor allem bei Dietrich Bonhoeffer und seiner Rede in Fanö im Jahr 1934. Der große Theologe ahnte bereits, wie gefährdet der Friede 1934 war durch das, was in Deutschland geschah. Umso drängender war sein Appell, beim Wagnis des Friedens auf Gott zu vertrauen.
Einige von Ihnen werden jetzt fragen: Müssen wir den Frieden nicht gerade jetzt wagen? Muss der Krieg in der Ukraine nicht so schnell wie möglich beendet werden?
Aber: Der 24. Februar 2022 hat viel verändert, vielleicht alles verändert. Mit seinem Vernichtungsfeldzug will Putin die Prinzipien vernichten, auf denen unser gemeinsames Europa gründet: die Gültigkeit des Völkerrechts, die Anerkennung von Grenzen, das friedliche Zusammenleben aller Menschen in Freiheit auf diesem Kontinent.
Ich meine: Sich dagegenzustellen, das ist für uns Europäer eine der Lehren aus der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges. Diese Lehre heißt: Nie wieder!
Wie sehr haben Sie, die Kirchen und Religionsgemeinschaften, wie sehr haben wir alle gehofft und dafür gearbeitet, dass solch ein Krieg nicht noch einmal stattfindet. Dass unser Kontinent nicht noch einmal zurückfällt in eine Zeit der Aggression, des Hasses, des Leids. Aber genau das ist geschehen.
Ja, wir alle wollen ein Ende des Schreckens. Ja, wir alle wollen ein Ende des Krieges. Wir wollen Frieden. Vor allem die geschundenen Menschen in der Ukraine wollen das.
Aber der Frieden muss ein gerechter Frieden sein. Ein gerechter Frieden, das ist mehr als nur die Abwesenheit von Krieg. Es muss ein langfristiger Frieden sein und nicht nur eine Gefechtspause, die Russland erlaubt, neue Truppen an die Front zu bringen.
Die Ukraine kämpft um ihre territoriale Einheit, um ihre Freiheit, um ihre demokratische Zukunft, um ihre Unabhängigkeit. Sie kämpft um ihr Überleben. Die Menschen dort lehnen sich auf gegen Landraub und Unterjochung, gegen furchtbares Unrecht, gegen Verbrechen an wehrlosen Kindern, Frauen, Alten, gegen Bombenterror und Zerstörung. Kurzum: Die Ukraine kämpft für das, was jedes Land auf der Welt für sich in Anspruch nimmt – und was Voraussetzung ist für einen gerechten Frieden, der die Chance hat, dauerhaft zu sein.
Nicht die Ukraine oder die Länder, die sie unterstützen, verweigern sich dem Frieden. Es ist Russland, das sich dem Frieden verweigert. Putin hat es in der Hand: Wenn er seine Armee zurückzieht, ist das das Ende des Krieges. Wenn die Ukraine aufhört sich zu verteidigen, dann ist das das Ende der Ukraine. Das ist der Grund, warum wir Europäer und auch wir Deutsche die Ukraine unterstützen – auch mit Waffen.
Wann Frieden gewagt werden kann, diese Entscheidung liegt bei der Ukraine. Und deshalb ist es wichtig, dass auf politischer Ebene gemeinsam mit der Ukraine darüber nachgedacht wird, wie eine Friedenslösung aussehen könnte. Die Gespräche in Kopenhagen und Dschidda haben gezeigt, wie breit die Unterstützung für die Suche nach einer Friedenslösung ist. Sie waren ein erster wichtiger Schritt. Jeder noch so kleine Fortschritt auf dem Weg hin zu einem gerechten Frieden gibt den Ukrainerinnen und Ukrainern Hoffnung. Jeder noch so kleine Fortschritt gibt uns, gibt der Welt Hoffnung!
Sich in Zeiten des Krieges den Frieden vorzustellen, ist das Schwerste unter allen Dingen, die unvorstellbar sind, haben Sie, verehrter Andrea Riccardi, einmal gesagt. Sich das Unvorstellbare vorzustellen, das bedeutet: Auch in Zeiten des Krieges dürfen wir den Frieden nie aus den Augen verlieren. Die Perspektive auf Frieden zu bewahren, selbst wenn sich der Weg dahin noch nicht zeigt, darum geht es. Gerade für uns Europäer ist und bleibt das eine besondere Verantwortung, nicht nur vor unserer Geschichte, sondern vor allem für unsere gemeinsame Zukunft. Eine Zukunft, die auf den Prinzipien gründet, von denen ich bereits sprach: das friedliche Zusammenleben aller Menschen in Würde, Freiheit und Demokratie. Auch deshalb: Die Hoffnung auf Frieden, das Streben nach Frieden dürfen wir nicht aufgeben! Niemals.