Ich freue mich, zurück in dem Bundesland zu sein, in dem ich geboren und aufgewachsen bin: hier in Nordrhein-Westfalen. Und ich freue mich noch mehr darüber, dass mich so viele aus Berlin und Bonn hierher begleitet haben. Ich weiß nicht genau, ob das ein neuer Rekord ist, aber 170 Teilnehmer bei unserer gemeinsamen Begegnungsfahrt in die Bundesländer, das ist schon sehr viel. Herr Ministerpräsident, ganz herzlichen Dank für die Gastfreundschaft, die wir an diesem, wie ich finde, wunderbaren Ort, der Zeche Zollverein, genießen dürfen!
Nordrhein-Westfalen, Sie haben es gerade gehört, ist das Bundesland mit der in der Tat größten Bevölkerung in Deutschland. Und es ist in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten, ich könnte auch sagen: in den letzten anderthalb Jahrhunderten zu einem wirklichen Schmelztiegel von unterschiedlichen Nationen geworden. Viele Menschen aus sehr vielen verschiedenen Regionen der Welt sind hier zusammengekommen.
Und das liegt vor allem an dem Teil Nordrhein-Westfalens, den wir heute hauptsächlich besuchen: Das Ruhrgebiet war lange das Zentrum der Schwerindustrie, eine Region, die geprägt war von Kohle und Stahl. Ich selber war dabei, als wir vor viereinhalb Jahren, im Dezember 2018, die letzte Kohlenzeche hier im Ruhrgebiet geschlossen haben. Das war eine der schwierigsten Reden in meinen unterschiedlichen Ämtern – vor weinenden Bergleuten zu stehen und ihnen zu sagen: Dieses Stück Kohle, das ich in Händen halte, das ist das letzte Stück Kohle, das in Deutschland gefördert wurde. Das war – und das war allen klar – das Ende einer Epoche in Deutschland und insbesondere hier im Ruhrgebiet und nicht nur ein Stück Industriegeschichte, das auf diese Weise zu Ende ging. Die schwere Arbeit, vor allem die Arbeit unter Tage, hat die Menschen in dieser Region für Jahre und Jahrzehnte zutiefst geprägt: Für diese Menschen kommt es darauf an, dass man sich aufeinander verlassen kann, dass das gegebene Wort auch tatsächlich gehalten wird.
Wenn Sie sich hier bei anderer Gelegenheit vielleicht etwas umsehen, werden Sie merken: Es sind tatkräftige, nüchterne, pragmatische Menschen, die hier wohnen. Die nicht fragen, woher man kommt oder wie klug man daherreden kann – sondern hier gilt, dass man ordentlich anpackt, seine Arbeit macht und vor allen Dingen sich anstrengt, vernünftig miteinander auszukommen.
Und so ahnen Sie: Der Rückgang der sogenannten Montanindustrie, Kohle und Stahl, bedeutete für das Ruhrgebiet und seine Menschen, für die Wirtschaft, aber auch für das soziale Gefüge hier einen gewaltigen Umbruch. Aber gerade hier, in dieser vielfach von Ende und Abbruch gekennzeichneten Region, entsteht auch viel Neues, werden viele neue Ideen in die Tat umgesetzt. Die große Transformation einer alten Industrielandschaft, die man von hier aus wegen des vielen Grüns kaum noch sieht, die große Transformation also einer Industrielandschaft hin zu einem Wissenschaftsstandort – zu einem Hub, wenn ich das so sagen darf – für Zukunftstechnologien ist in vollem Gange. Wir haben gemeinsam heute Morgen bei Siemens Energy in Mülheim sehen und erleben können, welche hochmodernen, auch KI-getriebenen Energiewendetechnologien inzwischen in dieser Region entwickelt und auch angewendet werden.
Wie stolz die Menschen hier im Ruhrgebiet auf ihre Vergangenheit sind und wie sehr sie die Zeugnisse dieser Geschichte pflegen und gleichzeitig daraus immer wieder Neues entstehen lassen, das sieht man gerade hier, am Ort unseres Mittagessens, auf der ehemaligen Zeche und Kokerei Zollverein. Einst eine der modernsten Anlagen dieser Art in Europa, ist diese Zeche Zollverein heute Museum, Erinnerungsort und Standort für Kultur, für Design, für Veranstaltungen und für neue Technologien. Ein Weltkulturerbe, das nicht nur die Vergangenheit konserviert, sondern die Zukunft fest im Blick hat und an dieser Zukunft baut.
So ökonomisch erfolgreich die Zeit der Montanindustrie war, so schädlich und oft geradezu zerstörerisch war sie für Natur und Umwelt, das wissen wir heute. Die Emscher zum Beispiel, ursprünglich ein stiller kleiner Fluss, wurde viele Jahrzehnte lang als offener Abwasserkanal benutzt, eine Kloake, ökologisch tot, in der Abfälle, auch giftige Abfälle befördert wurden. Nun wurde sie mit einem gewaltigen Aufwand renaturiert. Wir werden nachher das Ergebnis sehen und bewundern können. Im Rahmen eines der größten Infrastrukturprojekte Europas wurde ein ganzer Fluss abwasserfrei und damit wieder Lebensraum für Tiere und Pflanzen. Dass dieses, man darf ruhig sagen: gigantische Projekt nach dreißig Jahren dazu auch noch im Zeitplan verwirklicht werden konnte, ist vielleicht das eigentliche Wunder.
Und noch eines: Das Ruhrgebiet wäre nicht die Region, die es ist, ohne den Fußball. Weniges bewegt die Menschen hier am Wochenende so sehr wie die Frage: Hat mein Verein gewonnen oder verloren? Und besonders gehen die Leidenschaften hoch, wenn es gegen den Verein in der Nachbarschaft geht. Auch wenn nun seit Jahren ein Verein aus dem Süden Deutschlands die nationale Meisterschaft gewinnt: Das Fußballherz Deutschlands, so sagen wenigstens die Menschen hier, das schlägt im Ruhrgebiet mit seinen vielen Traditionsvereinen mit ihren in allem Auf und Ab unverbrüchlich treuen Fans. Deswegen steht das deutsche Fußballmuseum auch nicht irgendwo in Deutschland, sondern hier im Ruhrgebiet, im "Revier", wie wir sagen, und deswegen kann diese Reise nicht stattfinden, ohne dass wir es nachher in Dortmund gemeinsam besuchen.
Noch etwas sehr Ernstes steckt den Menschen hier im Revier, und nicht nur den älteren, sozusagen in den Knochen. Ich spreche vom Krieg. Einerseits war das Ruhrgebiet in beiden Weltkriegen, die von Deutschland ausgingen, natürlich auch eine große Rüstungsproduktionsstätte. Andererseits hat es wie kaum eine andere Region in Deutschland durch das intensive Bombardement im Zweiten Weltkrieg auch Angst, riesige Zerstörung und tausendfachen Tod erlebt. Was Krieg ist, das wissen die Menschen hier, auch die nachfolgenden Generationen.
Und weil das die Menschen hier wissen, weil ihnen hier das Nie wieder!
tief eingebrannt ist in Köpfe und Herzen, liegt im Ruhrgebiet auch eine Keimzelle der europäischen Einigung. Aus der Montanunion für Stahl und Kohle, die die ehemaligen Schwerindustrien der Kriegsmaschine in zivile und friedenssichernde Industrien umwandeln sollte, wurde nach und nach eine immer größere politische, ökonomische und gesellschaftliche Zusammenarbeit – und schließlich das große Friedens- und Freiheitswerk der heutigen Europäischen Union.
Gerade die Geschichte dieser Region bewahrt also das kostbare Wissen, dass Zusammenarbeit zwischen den Völkern und Nationen tausendmal besser ist als Krieg und Konfrontation. Und dass Wachstum und Wohlstand nicht in Feindschaft entstehen, sondern in Zusammenarbeit, gegründet auf gemeinsame Regeln und Prinzipien.
Deshalb sind wir Deutsche auch froh und stolz, dass wir in diesem Jahr 50 Jahre Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen feiern können. Die Prinzipien des Völkerrechts, die die damals noch beiden deutschen Staaten durch ihren Beitritt anerkannten, die gelten für alle, die diesen Vereinten Nationen angehören. Nur die Anerkennung des Völkerrechts, die Anerkennung der Charta der Vereinten Nationen und das wirkliche und tatsächliche Handeln nach den Prinzipien dieser Charta garantieren den Völkern Frieden, Freiheit und Wohlergehen. Auf der Grundlage dieser Prinzipien reichen wir allen hier vertretenen Staaten die Hand zur Zusammenarbeit.
Es hat natürlich einen Grund, weshalb ich das sage: Der russische Angriff auf die Ukraine ist ein Bruch mit allem, wofür die Vereinten Nationen stehen, wofür auch Europa und Deutschland stehen. Die Unverletzlichkeit von Grenzen, Souveränität und Selbstbestimmung eines Landes, Menschenwürde und Frieden – all das, wir erleben es täglich, bedeutet Putin nichts. Ich danke heute allen, die die russische Aggression auf internationaler Ebene verurteilen und verurteilt haben. Der Angriff auf ein souveränes Nachbarland, die Verletzung von Grenzen, Landraub, millionenfache Vertreibung von Menschen, das dürfen wir nicht akzeptieren. Das darf die Völkergemeinschaft nicht akzeptieren. Und diese Völkergemeinschaft, die gemeinsamen Regeln, die sich diese Völkergemeinschaft gibt, die brauchen wir dringend – nicht nur jetzt, sondern für die neuen Herausforderungen dieses Jahrhunderts, die allesamt noch vor uns liegen.
Kein Land, das ist doch unsere gemeinsame Erfahrung, kein Land kann für sich allein eine humane Zukunft sichern. Wir alle sind auf Partnerschaft und Zusammenarbeit angewiesen, vor allem in unseren gemeinsamen Anstrengungen im Kampf gegen den Klimawandel. Deswegen sind wir, deswegen ist die deutsche und europäische Politik darum bemüht, bestehende Partnerschaften zu vertiefen und neue, faire und zum allseitigen Vorteil beitragende Partnerschaften und Allianzen zu gründen. Lassen Sie mich das ganz klar sagen: Wir brauchen keine De-Globalisierung. Was wir brauchen, ist aus meiner Sicht eher eine noch engere Vernetzung mit dem Ziel, die Welt zu einem besseren Ort zu machen! Denn die globalen Herausforderungen werden wir nur gemeinsam bestehen.
Ich wünsche Ihnen und uns weiterhin einen erlebnis- und erkenntnisreichen, einen schönen Tag, hoffentlich voll guter Begegnungen – und ganz am Ende werden wir heute Abend auch noch ein wirklich glanzvolles Stück Nordrhein-Westfalen erleben, das Sie überraschen wird. Hier nennt man es das Versailles von Westfalen, das wir sehen werden. Ich darf nur sagen: Seien Sie gespannt!