Stadtverordnetenversammlung zum Thema „17. Juni 1953“

Schwerpunktthema: Rede

Senftenberg, , 10. Mai 2023

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 10. Mai in Senftenberg in der Lausitz an einer Stadtverordnetenversammlung teilgenommen, die den 17. Juni 1953 zum Thema hatte. In seiner Ansprache am Ende der Debatte sagte er: "Wie wir mit unserer Vergangenheit umgehen, was wir verdrängen, vergessen und woran wir uns erinnern werden, das hat auch etwas damit zu tun, wie wir in der Gegenwart leben. Was uns wichtig, was uns wertvoll ist."

Bundespräsident Steinmeier spricht vor der Stadtverordnetenversammlung in Senftenberg

Danke, dass ich hier sein darf. Ich habe mit Neugier, Spannung, an manchen Stellen auch mit Erstaunen diese Debatte verfolgt – und die meisten wissen es inzwischen: Ich bin gerne unterwegs und mache das regelmäßig und gehe dorthin, wo Politik ganz nah am Bürger gemacht wird. Mir ist es wichtig, bei meinen Reisen zu all den "Ortszeiten" – das ist jetzt die siebte innerhalb eines Jahres – die Arbeit und die Bedingungen der Politik gerade fern der Hauptstädte zu sehen, zu verstehen, kennenzulernen. Und deshalb bin ich sehr dankbar, dass ich heute als Gast bei Ihnen sein darf und einige Worte an Sie richten darf.

Demokratie wird – wie die Geschichte und die Erinnerung daran – von Menschen gemacht. Geschichte ist eben nicht nur das, was passiert ist – sondern sie ist auch das, woran wir uns erinnern. Und wie wir uns daran erinnern. Ereignisse können ganz vom Vergessen verschluckt werden, die Erinnerung an sie kann auch brutal unterdrückt werden. Oder sie kann ideologisch aufgeladen werden, so dass Zwischentöne ganz überhört werden, der differenzierende Blick, der notwendig ist, unterbleibt oder Unterschiede ebenso wie Gemeinsamkeiten verschwimmen.

Der 17. Juni 1953 kann uns im wiedervereinten Deutschland vielleicht – neben vielem anderen – auch diese Lektion lehren: dass es für uns wichtig ist, das Ob und das Wie des Erinnerns immer wieder neu zu überprüfen und so, wie Sie es tun, auch zu erforschen. An diesem Datum können wir, wenn wir genauer hinschauen, eben auch lernen, wie unterschiedlich im geteilten Deutschland mit der Geschichte dieses Tages umgegangen worden ist.

In der DDR, wo sich die mutigen Bürgerinnen und Bürger in jenen Tagen gegen die kommunistische Diktatur erhoben haben, wo sie – wie hier in Senftenberg und in Lauchhammer – protestierten, demonstrierten und Streiks organisierten, durfte die Geschichte vom Bürgermut und dessen Niederschlagung nicht erzählt werden. Was zum Anknüpfungs- und Identifikationspunkt für die Protestbewegung des Jahres 1989 hätte werden können, geriet so für viele frühzeitig in Vergessenheit.

In der Bundesrepublik, wo man mit Entsetzen die Bilder der Panzer in Ost-Berlin sah, die gegen die Menschen dort eingesetzt wurden, war die Solidarität so groß wie das Erschrecken. Aber auch wenn man den 17. Juni schnell zu einem Feier- und Gedenktag machte und ihn mit dem Wunsch nach der Deutschen Einheit verband, so war tatsächlich das Wissen um die Ereignisse – und erst recht um die Ereignisse außerhalb Berlins – gering und schwand mit den Jahren noch weiter. Und wohl für die meisten war der freie Tag im Frühsommer dann vor allem eine willkommene Gelegenheit für einen Tagesausflug.

Hier in Senftenberg, so viel ist bekannt, demonstrierten vor siebzig Jahren Hunderte, viele Senftenberger werden auch zu den Streikenden von Lauchhammer gehört haben. Ob auch Senftenberger Schülerinnen und Schüler protestierten – und, wie anderswo, zum Beispiel Englischunterricht forderten –, das kann man, und das könnte vielleicht auch eine Aufgabe des Kinder- und Jugendparlaments sein, vielleicht noch herausfinden. Denn noch leben Zeitzeugen, die damals dabei waren. Einige sind hier. Geschichte ist das, was passiert. Aber sie passiert eben nicht einfach, sie wird von Menschen gemacht. Und deshalb ist die Beschäftigung mit diesen Menschen, die dabei waren, die sich erinnern, mit ihren Ideen, ihren Taten, ihrem Leben so wichtig.

Wie wir mit unserer Vergangenheit umgehen, was wir verdrängen, vergessen und woran wir uns erinnern werden, das hat auch etwas damit zu tun, wie wir in der Gegenwart leben. Was uns wichtig, was uns wertvoll ist. Der Umgang mit dem 17. Juni 1953 ist dafür ein gutes Beispiel.

Der Volksaufstand vom 17. Juni ist ebenso wie die Friedliche Revolution 1989, wie ich finde, ein ganz herausragendes Ereignis der deutschen Freiheits- und Demokratiegeschichte. Gerade die Menschen in Ostdeutschland können mit Stolz, können mit Selbstbewusstsein darauf zurückblicken. Ich freue mich deshalb sehr, dass Sie hier, so wie Sie es gerade beschlossen haben, hier in Senftenberg den siebzigsten Jahrestag zum Anlass nehmen, der Geschichte des 17. Juni in Ihrer Stadt, Ihrer Region noch einmal neu auf den Grund zu gehen.

Ich sagte es schon, es ist mir jedes Mal eine Freude, die Kommunalpolitik vor Ort erleben zu können. Stadtverordnetenversammlungen, Gemeinderäte, Ortschaftsräte, Kreistage, das ist so etwas wie die Herzkammer unserer Demokratie. Was in ihnen geleistet wird, ist Arbeit an der Basis der Demokratie. Sie sind es auch und gerade dann, wenn ihre Arbeit nicht die ganz großen Schlagzeilen macht und nicht die ganz große überregionale öffentliche Aufmerksamkeit findet. Die Demokratie funktioniert im Alltag, sie funktioniert nur durch Menschen, die sie zu ihrer Sache machen: die mitarbeiten, anpacken, sich einsetzen. Sie, die gewählten Vertreter, sind oft die ersten Ansprechpartner für die Bürgerinnen und Bürger. Oft genug müssen Sie die Entscheidungen der sogenannten "großen Politik" ganz konkret umsetzen und konstruktive Lösungen finden. Mit Ihrem Engagement, Ihrer Arbeit und ja, auch mit Ihrer Geduld und Ihrer Zivilcourage übernehmen Sie Verantwortung auch für die Zukunft unserer Demokratie – und damit nicht nur für sich selbst, sondern für die Zukunft unserer Kinder. Und ich weiß, nicht wenige von Ihnen erleben auch Anfeindungen, die für manche bis zur konkreten Bedrohung gehen. Ich kenne die Beispiele, und Sie sind wie ich in Sorge, wenn einige von denen, die kommunale Verantwortung tragen oder getragen haben, resignieren. Das ist bedauerlich. Und trotzdem engagieren Sie sich weiter und geben mit Ihrem Einsatz anderen ein Beispiel, ermutigen sie, sich ebenfalls zu engagieren.

Dafür bin ich Ihnen von Herzen dankbar – auch und besonders für Ihren ungebrochenen Einsatz in den vergangenen Jahren, in denen wir alle eine Zeit sich überlagernder Krisen erleben, eine Zeit, in der die Kommunen wirklich oft über sich selbst hinauswachsen mussten. Gerade hofften wir, die Pandemie bald überwunden zu haben, da wurden wir mit einer neuen, grundstürzenden Lage konfrontiert: Russland hat am 24. Februar 2022 die Ukraine überfallen, Grenzen missachtet, Landraub begangen, millionenfaches Leid und tausendfachen Tod über die Menschen gebracht. Und hat so zerstört, woran Generationen von Politikern seit der Schlussakte von Helsinki gearbeitet hatten: eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung – nicht gegen Russland, sondern mit Russland. Und offenbar war diese Arbeit vergeblich! Wir erleben im Augenblick so etwas wie einen Epochenbruch, und wir müssen seitdem auf so vielen Ebenen, auch auf der kommunalen, anders denken, anders handeln.

Das gilt im Kanzleramt genauso wie in jedem Rathaus und im Schulamt jeder deutschen Gemeinde, die nun schauen muss – und ich weiß, wie schwer das ist –, wie sie die geflüchteten Kinder versorgt, Kinder, die nach allem, was wir befürchten müssen, für eine ganze Weile nicht nach Hause können. Wir alle hier können vermutlich nicht einmal erahnen, welchen Schmerz, welches Grauen die Geflüchteten in sich tragen. Etwas davon war gestern bei der Aufführung von Andriy Bondarenkos Stück "Was man im Dunkeln hört" auf der Neuen Bühne zu sehen und vielleicht noch mehr zu fühlen.

Die Hilfsbereitschaft, die Solidarität in unserem Land mit den Menschen in der Ukraine, auch hier in Senftenberg, ist überwältigend – auch dafür bin ich dankbar. Diese so gezeigte Solidarität gehört zu den wichtigsten Zeichen, die wir in dieser Krise als europäische Gemeinschaft, als Land, aber auch aus jeder Kommune senden können: Die Demokratie ist stark. Es wird keinem diktatorischen System gelingen, uns zu spalten.

Ich will damit überhaupt nicht kleinreden, was das Versprechen der Solidarität im praktischen Alltag der Kommunen bedeutet – und vor allem will ich es ganz konkret wissen. Der Besuch morgen etwa in der Regenbogen-Grundschule ist mir deshalb ein ganz besonders wichtiger Teil dieser drei Tage.

Viel zu oft vergessen wir, welche Kraft, welches hohe persönliche Engagement auch Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer an jedem einzelnen Tag für die Kinder und Jugendlichen an den Tag legen. Ich meine: Dieses Engagement – und auch dieses Vorleben von Zivilcourage, das Aufstehen gegen Hass und Hetze – ist in dieser Zeit genauso wichtig wie Mathematik oder Biologie. Unsere Schülerinnen und Schüler brauchen für ihr Aufwachsen als mündige Bürger solche Beispiele, Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. Und ich bin allen Lehrerinnen und Lehrern dankbar, die Kinder und Jugendliche zur Verantwortung für sich und aber auch zur Verantwortung für andere erziehen – Respekt vor anderen zu bewahren, auch vor denen, die anders denken und anders leben.

Aber ich bin nicht nur gekommen, um Danke zu sagen. "Ortszeit" heißt für mich: raus aus Berlin. Nicht nur raus aus dem Flugzeug, Rede halten, wieder rein ins Flugzeug – sondern Zeit mitbringen. Das ist jetzt meine siebte "Ortszeit"; nach Altenburg, Quedlinburg, Rottweil, Neustrelitz, Freiberg und Völklingen jetzt Senftenberg. Keine Stippvisite, sondern, wie Sie es in den vergangenen anderthalb Tagen erlebt haben, viel Gelegenheit, genauer hinzuhören, hinzuschauen: Was läuft? Was läuft schlecht, was läuft möglicherweise gar nicht? Zentral auch die Frage: Was hier ist wichtig, was in Berlin möglicherweise unwichtig erscheint? Was fehlt an Themen auf der Berliner Bühne, die hier vor Ort Sorgen machen?

Aber mich interessiert auch: Wie sind die Unterschiede zwischen den Städten und Regionen? Welche Ideen, welche Lösungen werden in der Kommunalpolitik, welche Lösungen entwickelt die Stadtgesellschaft für die Fragen, die sich nicht nur in Senftenberg, sondern an ganz vielen Orten in unserem Land stellen?

Auf das, was hier passiert, versuche ich mit meinen Reisen jedenfalls die notwendige Aufmerksamkeit über den Ort hinaus, den ich besuche, zu lenken. Eine Aufmerksamkeit gerade auch derjenigen, die sonst notwendigerweise den Fokus fast nur auf Berlin richten. Deutschland ist mehr als Berlin, und Deutschland ist auch mehr als die Hauptstädte der Länder! Und das geht eben oft unter im täglichen Politikbetrieb und, ich befürchte, auch ein bisschen in der Berichterstattung darüber. Den Blick zu weiten, der Region eine Stimme zu geben, die gehört wird, auch darum geht es bei diesen "Ortszeiten", auch der hier in Senftenberg.

Kurz vor meiner Ankunft habe ich gelesen, dass man sich in Senftenberg fragt, wieso ich ausgerechnet hierherkomme. Die Frage lässt sich eigentlich ganz leicht beantworten. Ihre Stadt steht beispielhaft für die Region und andere Städte des ostdeutschen Bergbaus, die früher wichtige Industriezentren waren und seit der Wiedervereinigung mit den Schockwellen des wirtschaftlichen Umbruchs zu kämpfen haben. Senftenberg ist eine Stadt, die sich mit viel Kraft, engagierten Bürgerinnen und Bürgern eine Zukunftsperspektive aufbaut.

Der Tourismus mit der Idee einer neu entstehenden Seenlandschaft war eine Vision, die schon lange vor der Wiedervereinigung entstanden ist und deren Umsetzung bereits 1973 mit der Flutung des Senftenberger Sees begonnen hat. Inzwischen leben Sie hier an der größten künstlichen Wasserlandschaft Europas. Nach mehr als 150 Jahren der Bergbautradition, die die Menschen und ihre Identität über die Jahre und Jahrzehnte hinweg geprägt hat, kann man die Größenordnung, die Bedeutung dieses Umbruchs gar nicht überschätzen. Er erfordert immer wieder Zuversicht und viel Mut zum Wandel, und ich sage Ihnen ganz ehrlich, in den ganzen Gesprächen, die ich hier vor Ort hatte, hat mich am meisten beeindruckt, dieses Engagement, diese Bereitschaft, sich neue Zukunftsperspektiven zu bauen, immer wieder zu spüren.

Ich sehe hier in Senftenberg, wie sich Ihre Stadt neue Perspektiven erarbeitet, und eben nicht nur im Tourismus – und sehe auch, wie die Menschen zusammenhalten. Zusammenzuhalten, das darf man nicht missverstehen, zusammenhalten heißt nicht einfach stillschweigen und alles dulden, Zusammenhalt bedeutet nicht von vornherein Konsens über alles. Nein: Über den richtigen Weg kann man verschiedener Meinung sein. Austausch, Kontroverse, konstruktiver Streit – das alles gehört natürlich zur Demokratie. Die Demokratie würde ärmer, wenn es das nicht gäbe. Und es ist gut, die Kontroverse auszutragen, klar in der Sache und hoffentlich respektvoll im Umgang. Und im Umgang miteinander, das stelle ich fest, da ist uns möglicherweise in den letzten zwei Jahren während und nach der Pandemie ein bisschen etwas verloren gegangen. Genau deshalb lade ich regelmäßig bei jeder "Ortszeit" zur sogenannten "Kaffeetafel kontrovers", von der der Bürgermeister und ich gerade kommen, ein.

Es wäre ja auch unrealistisch anzunehmen, dass man bei den schwierigen Themen unserer Zeit, die uns alle bewegen, einfach einer Meinung sein könnte. Die Rückkehr des Krieges nach Europa, die Folgen von Migration und Inflation, der Kampf gegen den Klimawandel: Ich weiß doch, dass all das die Menschen bewegt, und natürlich wissen wir miteinander, dass es sich lohnt, darüber auch zu diskutieren. Offene Worte sind wichtig; damit wir miteinander ins Gespräch kommen und dieses Gespräch voranbringen, braucht vor allen Dingen das Gegenüber auch immer ein offenes Ohr.

Mir jedenfalls geben solche Diskussionen, wie ich sie hier in Senftenberg an verschiedenen Stellen erlebt habe, jede Menge neuer Einsichten, Anregungen und Stoff zum Nachdenken. Was ich Ihnen verspreche: Das, was ich mitnehme aus diesen Diskussionen, das wird Eingang finden in die Gespräche, die ich ab Freitag und nächste Woche im politischen Berlin wieder führe.

Deshalb, und gerade deshalb danke ich Ihnen für die Einladung hierher ins Kreishaus, für die Gelegenheit, Ihren Diskussionen in der Stadtverordnetenversammlung zuzuhören, ich danke allen Bürgerinnen und Bürgern für die Gastfreundschaft in Ihrer Stadt. Heute liegt noch ein Abend mit Senftenberger Jugendlichen vor mir, und morgen freue ich mich auf einen spannenden letzten Tag meiner "Ortszeit" in Senftenberg. Vielen Dank!