Tamanna Anigutilarmijuq
sagen die Inuit, wenn sich um einen herum alles verändert; wenn die Herausforderungen wachsen und das Leben immer schwerer zu werden scheint. Ich habe diese Worte aus einem Essay von Sheila Watt-Cloutier, die die meisten von Ihnen sehr gut kennen.
Es geht in diesem Essay um den harten Alltag im hohen Norden, in der Arktis von Quebec, aus der auch Sie, verehrte Mary Simon, kommen. Es geht um die Veränderungen der Natur und die Bedrohung der eigenen Lebenswelt. Aber so wie ich diese Worte verstanden habe – Tamanna Anigutilarmijuq
–, steckt darin auch ein sehr zuversichtlicher Gedanke: Dass man nämlich, wenn man zusammensteht und zusammenhält und geduldig die als richtig erkannten Ziele verfolgt, dass man dann auch die schwersten Zeiten, die größten Herausforderungen bestehen kann.
Liebe Mary Simon, ich fühle mich wirklich geehrt, zu Gast bei Ihnen in Kanada zu sein. Und ich fühle mich umso mehr geehrt, weil Ihr erster Auslandsbesuch Sie 2021 ja auch schon nach Deutschland geführt hatte. Beide Besuche und auch die intensiven Gespräche, die wir zusammen geführt haben, zeigen die tiefe politische, aber auch die persönliche Verbindung zwischen unseren Ländern.
Ich bin dankbar und froh, dass mein Besuch trotz der Streiks in Ihrem Land stattfindet. Arbeitsverhandlungen gehören zum demokratischen Alltag, und Streik ist ein Grundrecht und legitimes Mittel im Kampf um gute Arbeitsbedingungen. Freunde und Partner wie wir, wie Kanada und Deutschland, gehen damit auch freundschaftlich und flexibel um.
Kanada und Deutschland teilen gemeinsame Werte und Überzeugungen. Wir stehen für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Wir teilen das Ziel einer gerechteren und inklusiveren Gesellschaft, in der jeder Mensch die gleichen Chancen hat, unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Glauben.
Gleichzeitig sind unsere liberalen Demokratien, sind unsere beiden Länder heute auch herausgefordert wie lange nicht: Die Rückkehr des Krieges nach Europa und der offensichtliche Versuch einer geopolitischen Neuordnung nach alten Mustern; die Konfrontation mit zunehmend aggressiv auftretenden Autokratien; dazu die weltweit wachsende Sehnsucht nach einer starken Hand und nach nationalistischer Abschottung: All das macht den gewaltigen Umbruch aus, den wir gegenwärtig erleben.
Tamanna Anigutilarmijuq
, ich habe es vorhin gesagt, bedeutet auch zuversichtlich zu sein, selbst in schwierigen, herausfordernden Zeiten. Und ich finde, dass Kanada und Deutschland, dass unsere liberalen Gesellschaften allen Grund zur Zuversicht haben. Wir haben es doch in den vergangenen Monaten gesehen: Unsere Demokratien sind stark, viel stärker als Putin zu meinen glaubte.
Wir helfen der Ukraine in einer nie dagewesenen Weise und unterstützen die Angegriffenen militärisch, finanziell und humanitär. Russland mag darauf gesetzt haben, dass diese Unterstützung irgendwann weniger wird, dass unsere Bürgerinnen und Bürger irgendwann müde werden und der Krieg und das Leid der Menschen in der Ukraine sie abstumpfen und wegschauen lassen. Aber so ist es nicht gekommen.
Ja, unsere Geschlossenheit und auch unsere Entschlossenheit werden auf die Probe gestellt, nicht nur durch Russland. Auch China hat sich verändert, und die vorübergehende Festnahme zweier kanadischer Staatsbürger, aber auch die Hinweise auf eine chinesische Wahlbeeinflussung in Kanada zeigen doch, was das für unsere liberalen Demokratien bedeutet: Wir müssen uns schützen. Wir müssen verhindern, politisch und wirtschaftlich verwundbar zu sein. Auch unsere Demokratie ist kritische Infrastruktur. Bewahren und beschützen wir sie gegen Angriffe von innen und außen!
Chinas wirtschaftlicher und politischer Machtanspruch wird die Zukunft der internationalen Beziehungen auf lange Sicht prägen. Und als pazifische Nation, wie Kanada sich selbst nennt, spielen Sie eine wichtige Rolle in den Bemühungen aller westlicher Staaten, dem wachsenden Einfluss Chinas im Indopazifik etwas entgegenzusetzen. Ihr Land und mein Land haben auch hier ein gemeinsames Ziel: Wir wollen unsere Vernetzung mit den Staaten der Region ausbauen, um einseitige Abhängigkeiten von China abzubauen.
Kanada und Deutschland stehen zusammen und arbeiten immer enger zusammen – und auch das macht uns stark. Nicht zuletzt dank des Freihandelsabkommens CETA sind die bilateralen Investitionen und der Handel zwischen unseren Ländern noch einmal gewachsen.
Ajuinata
ist ein anderes Wort der Inuit, das ich bei der Vorbereitung auf diese Reise gelernt habe: Auch wenn es hart ist, geh weiter, gib nicht auf. Ich bin sehr froh, dass Sie, liebe Mary Simon, mir übermorgen im hohen Norden Kanadas Ihre Heimat zeigen werden – und ich bin schon neugierig darauf, was wir beim Kampf gegen den Klimawandel von den Inuit lernen können. Ja, die kommenden Jahre werden eine enorme Kraftanstrengung erfordern, unsere Gesellschaften stehen vor großen Veränderungen. Aber wenn wir hartnäckig und gleichzeitig geduldig sind; wenn wir – wie uns Ajuinata
, diese Redewendung der Inuit, lehrt – nicht aufgeben, sondern weitergehen, dann werden wir auch beim Kampf gegen den Klimawandel erfolgreich sein.
Liebe Mary Simon, als kanadische Generalgouverneurin haben Sie sich dem Kampf für die Rechte der First Nations verschrieben. Sie sind eine Versöhnerin. Ich höre aber auch, dass es frauenfeindliche und rassistische Beleidigungen gibt, die Ihnen in den sozialen Medien begegnen. Dennoch schweigen Sie nicht, sondern haben stattdessen eine öffentliche Debatte zum Hass im Internet begonnen. Hass und Gewalt gegen Menschen, die Verantwortung tragen, gibt es auch in Deutschland, auch in vielen anderen demokratischen Ländern. Und auch hier gilt, dass wir uns gegenseitig helfen, gegenseitig stärken können: Lassen Sie uns gemeinsam für die Meinungsfreiheit einstehen – aber gegen die Feinde der Demokratie zusammenstehen.
Ich danke Ihnen für den wunderbaren Empfang in Ihrem Land, für Ihre Gastfreundschaft und Herzlichkeit. Sie wissen es ja: Für sehr viele Deutsche ist Kanada ein Sehnsuchtsort, und so war es und wird es immer sein. Auch unsere politischen Beziehungen waren immer freundlich, manchmal vielleicht ein wenig unverbindlich. Das hat sich geändert: Deutschland und Kanada sind heute enger verbunden denn je. Wir wissen, was wir aneinander haben – und wie sehr wir uns brauchen.
Und nun bitte ich Sie, mit mir das Glas zu erheben – auf Generalgouverneurin Simon, auf Ihren Mann, und auf die Zukunft der kanadisch-deutschen Beziehungen!