Zentrale Veranstaltung zum Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 24. Februar 2023

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die zentrale Veranstaltung zum Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine am 24. Februar in Schloss Bellevue mit einer Ansprache eröffnet: "Es ist Russland, das sein Nachbarland brutal überfallen hat! Es ist Russland, das immer neue Truppen an die Front wirft! Nicht die westliche Verteidigungshilfe verlängert den Krieg – es ist Russland. Nicht die Ukraine und ihre Verbündeten verweigern sich dem Frieden – es ist Russland."

Bundespräsident Steinmeier steht an einem Rednerpult vor einer europäischen, einer ukrainischen und einer deutschen Flagge.

Jahidne ist ein Straßendorf irgendwo zwischen Tschernihiw und Kiew, ein Dorf wie viele andere in der Nordukraine: klein, unauffällig, ohne jede militärische Bedeutung. Ich werde diesen Ort niemals vergessen. Im Oktober war ich dort, und was mir die Menschen über ihr Martyrium erzählt haben, das hat sich auf ewig in mein Gedächtnis eingebrannt.

Wenige Tage nach dem Überfall auf die Ukraine hatten Soldaten der russischen Armee den Ort besetzt. Sie nahmen die Einwohner gefangen und sperrten sie in den Keller der kleinen Dorfschule: mehr als dreihundert Menschen auf engstem Raum, darunter Kranke, ganz Alte, auch zwanzig Kinder, das jüngste gerade mal anderthalb Monate alt. Dort kauerten sie auf dem Boden, in Dunkelheit und Kälte, fast ohne Essen, ohne Toiletten. 28 lange Tage und Nächte. Die ersten der Alten starben, dreizehn von ihnen überlebten den Keller nicht. Aber die Toten nach draußen zu tragen, blieb über Tage verboten, und so mussten die Kinder im Keller zwischen den Leichen der Verstorbenen spielen.

Als mir die Männer des Dorfes diese Geschichte erzählt haben, kamen ihnen die Tränen in Erinnerung an das Leid, an die Demütigungen. Die Frauen konnten gar nicht sprechen über das, was ihnen außerhalb des Kellers angetan worden war.

Das ist nur ein Beispiel, ich weiß es, aber: Es war und ist der Alltag in großen Teilen der Ukraine. Jeden Tag sterben unschuldige Menschen, werden Mütter zu Witwen und Kinder zu Waisen. Jeden Tag trägt Russland unermessliches Leid in die Ukraine hinein. Und auch ein Jahr nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine geht dieser Krieg mit unverminderter Härte weiter.

Es gibt keine Worte für den Schmerz und die Grausamkeit, die Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer erleben. Wenn sie ihre Liebsten betrauern. Wenn sie bei jedem Luftalarm um ihr eigenes Leben fürchten. Wenn sie bei Eis und Schnee in den Schützengräben ausharren.

Heute, am Jahrestag der russischen Invasion, hier bei dieser gemeinsamen Veranstaltung mit der Ukraine sind Menschen unter uns, die Unvorstellbares erlebt haben. Die Hölle, die ich durchgemacht habe, sie kann von niemandem geträumt werden, sagten Sie, liebe Frau Polischuk, nachdem Sie den verzweifelten Kampf um Mariupol und die Belagerung in den Katakomben von Azowstal überlebt hatten. Wir alle erinnern uns an das kurze Video aus den Katakomben, das Sie zeigt, wie Sie dort sitzen, mit so vielen Frauen und Männern, ohne Nahrung und Medikamente und am Ende ohne Munition. Und dann ist da Ihre Stimme, und Sie singen. Sie singen vom Kampf für die Freiheit Ihres Landes.

Viele Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer stellen sich jeden Tag ihren russischen Angreifern entgegen. Ihr aller Mut, der Mut, ihre Freiheit und ihre Unabhängigkeit zu verteidigen, er ist da, und er hat ganz große Kraft. Diese Männer und Frauen bangen täglich um ihr Leben und um ihre Liebsten. Aber sie kämpfen auch täglich für ihr Land und ihre Freiheit.

Wir Deutsche bewundern den Mut, die Kraft und den Willen der Menschen in der Ukraine, und wir stehen in Solidarität an ihrer Seite. Wir helfen ihnen, sich zu verteidigen, wir nehmen Anteil an ihrem millionenfachen Leid, und wir trauern um ihre Toten.

Liebe Gäste, ich möchte Sie bitten, gemeinsam mit mir einen Moment innezuhalten, um der Opfer des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zu gedenken. Dazu möchte ich Sie bitten, sich zu erheben.

[Schweigeminute]

Vielen Dank.

Meine Damen und Herren, der Krieg ist zurück in Europa! Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg findet mitten in Europa wieder ein Eroberungsfeldzug statt. Russland spricht der Ukraine das Existenzrecht ab, will die Ukraine als eigenständige Nation vernichten. Die Unverletzlichkeit von Grenzen, die Souveränität und Selbstbestimmung eines Landes, Menschenwürde und Frieden, die Einhaltung von Regeln und Recht – das bedeutet Putin nichts. Alles, worauf unser Zusammenleben in Europa aufgebaut ist, zählt für ihn nicht.

Es zählt aber für uns.

Deutschland ist nicht im Krieg, aber dieser Krieg geht uns an. Der russische Überfall hat uns in eine überwunden geglaubte Zeit gestürzt. Russlands Angriffskrieg hat die europäische Sicherheitsordnung in Schutt und Asche gelegt. Er ist ein Angriff auf alle Lehren, die die Welt aus zwei Weltkriegen gezogen hat. Er ist ein Angriff auf all das, für das auch wir stehen. Und das macht den Epochenbruch aus, den wir gegenwärtig erleben.

Die neue Zeit stellt neue Fragen. Und nicht alle Antworten finden wir in der Vergangenheit, nicht in den Routinen der letzten Jahrzehnte. Für uns, für die Länder der Europäischen Union, waren dies Jahrzehnte von Stabilität und Wachstum. Und davon war unser Denken und war unser Handeln geprägt. Heute müssen wir anders denken und anders handeln.

Es versteht sich von selbst, dass wir finanzielle und wirtschaftliche Hilfe leisten für das überfallene Land. Dass mehr als eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer bei uns Zuflucht gefunden haben. Ich bin allen Deutschen, allen Menschen in unserem Land dankbar, dass sie sich in so großer Zahl für die Opfer dieses Krieges einsetzen, Flüchtlinge aus der Ukraine unterstützen, Partnergemeinden in der Ukraine helfen – und das auch weiterhin tun werden.

Anders zu denken und anders zu handeln in dieser neuen Zeit bedeutet, dass wir jetzt auch Entscheidungen treffen, die wir vor ein, zwei Jahren vielleicht noch für unvorstellbar gehalten hätten. Wir liefern Waffen in ein Kriegsgebiet, schwere Waffen, und wir unterstützen die Ukraine in einem militärisch nie dagewesenen Ausmaß, mit großer Anstrengung und mit großem Ernst.

Natürlich ist jede Entscheidung begleitet von großen, auch emotionalen Debatten. Von Sorge vor Eskalation bei den einen, von Ungeduld bei den anderen. Eines weiß ich: Die politischen Verantwortungsträger, die hier vor mir sitzen, in Regierung wie in Opposition, sie sind sich der großen Tragweite jeder einzelnen Entscheidung sehr bewusst. Sie bewerten und entscheiden in Verantwortung für unser Land, für unser Bündnis und für die Ukraine. Ich meine: Dafür verdienen sie Respekt und Vertrauen.

Deutschland ist heute, auch militärisch, der größte Unterstützer der Ukraine auf dem europäischen Kontinent. Und bei allen kontroversen, manchmal schrillen Debatten bin ich sicher, wir werden das auch weiterhin sein. Deshalb sage ich, auch mit Blick auf das, was noch vor uns liegt: Auf Deutschland ist Verlass. Nimechchyna nadiynyy soyuznyk!

Wir haben es im letzten Jahr gesehen: Unsere Demokratie ist stark – viel stärker, als Putin sich vorgestellt hat. Und stärker auch, als wir vielleicht manchmal selbst geglaubt haben. Putin setzt darauf, dass die Verbündeten der Ukraine irgendwann müde werden, dass wir abstumpfen und wegschauen werden angesichts des Schreckens, ja, eines Schreckens, der auch für uns schwer auszuhalten ist.

Diesen Gefallen werden wir ihm nicht tun, diesen Gefallen werden wir Putin nicht tun!

Ja, unsere Entschlossenheit und unsere Geschlossenheit werden noch auf lange Zeit gefordert sein. Wir unterstützen die Ukraine auf dem Weg in die Europäische Union – ein Weg, der eng verbunden ist mit dem Wiederaufbau des geschundenen Landes –, und wir wissen, dass die Ukraine auf lange Sicht, auch nach diesem Krieg, auf eine starke Verteidigung und wirksame Sicherheitsgarantien angewiesen sein wird. Auch dafür stehen wir an Ihrer Seite, verehrter Herr Makeiev!

Die Ukraine kämpft um ihr Land, ihre Freiheit, ihre Zukunft in Europa. Sie kämpft gegen Landraub und Besatzung. Sie kämpft für das, was jedes Land dieser Welt für sich in Anspruch nimmt. Für das, mit anderen Worten, was Voraussetzung für einen gerechten und dauerhaften Frieden ist.

Den Frieden ersehnen sich viele Menschen in diesen Tagen – in unserem Land, weltweit, aber nirgends so sehr wie in der Ukraine selbst. Doch ein Scheinfriede, der nur Putins Landraub besiegelt und die Menschen der Willkür der Besatzer überlässt, so ein Friede wird kein Friede sein.

Eine überwältigende Mehrheit der Staaten in den Vereinten Nationen hat gestern bekräftigt: Wenn Friede einkehren soll, dann muss es ein gerechter und dauerhafter Friede sein. Jeder konstruktive Vorschlag, der uns dem Weg zum gerechten Frieden näherbringt, ist hochwillkommen. Ob die Weltmacht China eine solche konstruktive Rolle spielen will, ist noch fraglich.

Wenn dem so ist, dann sollte China jedenfalls nicht nur mit Moskau sprechen, sondern auch mit Kiew. Wenn dem so ist, dann sollte China sich der überwältigenden Mehrheit der Staaten anschließen und unter dem Dach der Vereinten Nationen für Frieden eintreten. Wenn dem so ist, dann müssen wir gemeinsam die Prinzipien der Vereinten Nationen, dort behaupten, wo sie Tag für Tag gebrochen werden: Es ist Russland, das sein Nachbarland brutal überfallen hat! Es ist Russland, das immer neue Truppen an die Front wirft! Nicht die westliche Verteidigungshilfe verlängert den Krieg – es ist Russland. Nicht die Ukraine und ihre Verbündeten verweigern sich dem Frieden – es ist Russland.

Putin weiß sehr genau, was zu tun ist, wenn er ernsthaft ein Ende des Krieges wollte: Erst, wenn sich russische Truppen zurückziehen, öffnet das den Weg zu Verhandlungen. So fordert es die Resolution der Vereinten Nationen gestern.

Russland muss unmissverständlich klar werden: Es kann keinen Sieg geben in seinem verbrecherischen Krieg. Putin will siegen, mit aller Macht – aber die Wahrheit ist: Wer morden und töten lässt, wer die Ukraine kaputtbomben, Städte zerstören und Kinder verschleppen lässt, wer selbst die eigenen Soldaten Tag um Tag sinnlos verbluten lässt, der wird vor der Geschichte niemals als Sieger dastehen, der hat schon verloren!

Meine Damen und Herren, Sie alle haben vorhin beim Hereinkommen in diesen Raum die Fotografien in der Galerie unten gesehen: die Trümmer einer Wohnung in Charkiw, die Trümmer eines Hauses im Donbass, das einmal das Zuhause seiner Bewohner war; ein kleiner Junge am Grab seiner Mutter in Butscha. Und Sie haben das letzte, zentrale Foto in dieser Ausstellung gesehen: Es zeigt einen Soldaten in einem Dorf vor Cherson, in seinen Armen eine Frau. Die beiden sind einfach froh, einander am Leben zu sehen, erschöpft, aber befreit. Der Frieden, hier blitzt er für einen Augenblick auf.

Ich wünsche mir, dass wir noch viele Bilder wie dieses sehen.