Festgala "75 Jahre Komische Oper Berlin"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 23. Dezember 2022

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 23. Dezember bei der Galaveranstaltung zum 75-jährigemn Gründungsjubiläum der Komischen Oper Berlin eine Ansprache gehalten: "Hier ist Musiktheater, hier ist auch die sogenannte Unterhaltung immer mit höchstem Ernst als große Kunst begriffen worden – höchste Qualität war und ist deswegen selbstverständlich. Auch dafür kann man nur dankbar sein."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Festgala "75 Jahre Komische Oper Berlin"

Ein bisschen reibt man sich schon die Augen, wenn man sich kurz vergegenwärtigt, welches Jubiläum die Komische Oper heute feiert. 75 Jahre, das bedeutet: Eröffnet wurde die Neue Komische Oper am 23. Dezember 1947, nur zweieinhalb Jahre nach dem Ende des Krieges, der gerade hier in Berlin, von wo er ausgegangen war, eine Wüste der Zerstörung hinterlassen hatte. Ausgebombte, Vertriebene und Flüchtlinge litten inmitten der Zerstörungen große Not. Kälte, Hunger und Hamsterfahrten bestimmten den Alltag vieler Menschen.

Die zurückliegenden Jahre waren von Diktatur, von Angst und Tod geprägt, die Zukunft war ungewiss; wie es überhaupt weitergehen sollte mit Deutschland, mit den vier Besatzungszonen auch in Berlin, aber vor allem auch im ganz individuellen Leben der Menschen, das war kaum abzusehen.

Und mitten in diesen von Chaos und Unsicherheit geprägten Zuständen eröffnet ein neues Musiktheater – und wurde von Anfang an für so viele in Berlin zu einem Ort der Hoffnung, zu einem Ort, an dem man durchatmen konnte, an dem Schönheit und Witz zu Hause waren, an dem anspruchsvolle Unterhaltung und künstlerische Auseinandersetzung mit der Welt und dem menschlichen Leben die Aufführungen bestimmten.

Das war keine Ausnahme. Überall in Berlin, überall in Deutschland strömten die Menschen in die Kinos, soweit sie spielen konnten, und in die Theater, sobald sie, wie notdürftig auch immer, wieder eröffnet waren.

Was heißt das? Es heißt: Die Menschen können mit dem Unglück, mit dem Leid und der Not, die sie erfahren, umso besser umgehen, je mehr sie immer wieder auch eine Ahnung davon bekommen, dass das Leben auch von ganz anderem bestimmt sein sollte und bestimmt sein könnte: vom Gelingen, vom Guten, von Humor und Musik, von Witz und Leichtigkeit, von Anmut und Würde.

Das ist etwas anderes als bloße Suche nach kurzer Zerstreuung. Hierin drückt sich vielmehr eine tiefe menschliche Sehnsucht aus, die inmitten von Zerstörung und Verwirrung nach Orten und Stunden sucht, in denen Humanität im umfassenden Sinn lebendig ist, in denen das Herz gestärkt, der Verstand erfrischt und der Wille, für sich und für andere an einer besseren Welt zu arbeiten, gestärkt wird.

So etwas kann große Kunst bewirken. Mich erinnert das an eine Bemerkung des früheren Präsidenten des Internationalen Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag, den Italiener Antonio Cassese. Als dieser von dem amerikanischen Journalisten Lawrence Weschler gefragt wurde, wie er es ertragen könne, Tag für Tag mit Gräueltaten von unvorstellbarer Grausamkeit konfrontiert zu sein, ohne verrückt zu werden, sagte er: Ach wissen Sie, ich gehe einfach, sooft es geht, rüber ins Mauritshuis und verbringe dort ein bißchen Zeit mit den Bildern von Vermeer.

In den Bildern von Vermeer, so begreift es der Journalist, steht eine gemalte Person dafür, dass sie ein einzigartiges menschliches Individuum ist, die unsere einzigartige individuelle Reaktion verdient hat. Und das bringt ihn auf den Gedanken, dass das Tribunal in Den Haag und die Bilder von Vermeer eigentlich ein ähnliches Ziel verfolgen: Beiden geht es um eine emphatische Wahrnehmung von Menschen als einzigartige Individuen, beide wenden sich gegen eine entpersönlichende Sichtweise, die das Gegenüber zum bloßen Repräsentanten [...] einer Ethnie, eines Kollektivs degradiert.

Einer solchen Art, Kunst zu begreifen, einer solchen humanen Sichtweise war, wenn ich es recht sehe, die Komische Oper Berlin seit den Zeiten ihres Gründers Walter Felsenstein immer verpflichtet. Und diese Humanität hat auch die Zuschauer berührt und gestärkt.

Übrigens wird seit dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine immer wieder am Ausgang für die Unterstützung von Geflüchteten gesammelt. Und ich weiß, dass dabei jeweils erhebliche Summen zusammenkommen. Auch das ist ein Zeichen für die Humanität der Gäste – und dafür sage ich Ihnen meinen sehr herzlichen Dank.

Vom realen, individuellen Menschen zu erzählen, vom Menschen, wie er ist, mit all seinem Glück und seinem Scheitern, mit seinen Irrtümern und seinem Suchen, mit seinem Zorn, mit seiner Angst, mit seiner Hoffnung und mit seiner Liebe, das war und das ist sozusagen das beständige Leitmotiv der Inszenierungen hier. Das ist manchmal zum Lachen, manchmal zum Weinen, das lässt aber nie kalt. Das geht uns Zuschauer an, wir sind getroffen, und wir finden etwas Verschüttetes, Verborgenes neu in uns selber wieder.

Ich denke, dass dieses Motiv auch der Hintergrund dafür war, dass hier das Musiktheater eine revolutionäre, die Welt der Oper für immer verändernde Neuerung erlebte. Hier standen eben nicht singende Puppen auf der Bühne, die die Partitur bestmöglich zu bewältigen hatten. Hier wurde auch die Oper zum lebendigen Theater, in dem die Personen wirklich miteinander spielen, in dem sie interagieren, wie wir so schön auf Deutsch sagen. Hier wurde auch die Oper zum Drama des Menschen und seines Lebens – und das ist so bis heute. Und das hat, man kann es ruhig noch einmal betonen, das Musiktheater, das Verständnis von Oper und davon, wie man sie auf die Bühne bringen kann, insgesamt verändert.

Die Komische Oper wurde und wird geliebt. Viele haben im Laufe der Jahrzehnte dieses Haus als eine besondere Spielstätte entdeckt und ihr dann die Treue gehalten, oft sehr lange. Sie haben das Ensemble geliebt, sie haben die großen Intendanten und Künstlerischen Leiter – Harry Kupfer, den Unvergessenen, muss ich wenigstens noch an dieser Stelle nennen –, sie haben die Dirigenten und die Regisseure in ihr Herz geschlossen. Und sie sind auch neue Wege mitgegangen, wenn sie gespürt haben: Auch diese neuen Wege sind von Geist dieses Hauses inspiriert, von seiner Humanität, von seiner Menschenfreundlichkeit. Vom Spaß am Spiel, an der Überraschung, an der Verzauberung und nicht zuletzt auch vom Spaß am Unsinn, hinter dem sich ein neuer Sinn oft genug erst zeigen kann.

Große Erfolge gab es immer wieder. Manche Inszenierungen gingen um die Welt und wurden als Visitenkarte einer überraschend neuen deutschen Kultur international bestaunt. Das war schon zu DDR-Zeiten so – und so konnte man sich hier auch Freiheiten nehmen, die anderswo vielleicht so nicht möglich waren. Ich weiß, dass auch darum viele Musiktheaterfreunde aus Ostberlin und der ganzen DDR dieses Haus besonders ins Herz geschlossen hatten und haben. Und viele aus dem Westen sind wieder und wieder hierhergekommen. Wir sind alle zusammen stolz auf dieses Haus, und wir sind glücklich über dieses Haus, und das sagen wir heute zum Jubiläum ganz deutlich und herzlich und mit großem Dank!

Vom Spaß am Unsinn, hinter dem sich oft ein verborgener Sinn versteckt: Das war auch ein Gütezeichen der letzten Intendanz von Barrie Kosky, dem wir als besonderen und noch einmal neuen Aspekt die Wiederentdeckung der Jazz-Operette und vor allem von großen Werken der teilweise komplett vergessenen jüdischen Tradition des Vorkriegs-Berlin verdanken. Diese neue Farbe hat dem Haus auch noch einmal ganz neue Freunde und Liebhaber beschert, nicht zuletzt, weil das Wort Farbe in einem sehr buchstäblichen Sinn zu nehmen ist – in den oft in verrückter Buntheit glänzenden Inszenierungen. Was hat uns das allen großen Spaß gemacht und oft sehr angerührt!

Zugänglichkeit zeichnet die Komische Oper aus – schon Walter Felsenstein hat zum Beispiel Wert darauf gelegt, dass alle Inszenierungen in deutscher Sprache ausgeführt werden sollten. Inzwischen gibt es unter anderem auch türkische Untertitel. Aber Zugänglichkeit meinte nie billiges Anbiedern. Im Gegenteil, hier ist Musiktheater, hier ist auch die sogenannte Unterhaltung immer mit höchstem Ernst als große Kunst begriffen worden – höchste Qualität war und ist deswegen selbstverständlich. Auch dafür kann man nur dankbar sein.

Die Komische Oper Berlin erlebt, Sie wissen es, eine doppelte Zäsur: Nach der erfolgreichen Intendanz von Barrie Kosky haben nun Susanne Moser und Philip Bröking den Stab übernommen. Wir wünschen Ihnen beiden von Herzen ein gutes Gelingen, ein neugieriges Publikum und Begeisterung auf den Rängen!

Und dann beginnt jetzt bald die große Renovierung und damit der vorübergehende Umzug ins Schillertheater. Ich hoffe und wünsche, dass alle Liebhaber Ihnen beiden und dem ganzen Ensemble auch dort die Treue halten – und dass die Komische Oper noch einmal ein neues Publikum erreichen und neue Freunde erreichen kann, tief im Westen sozusagen.

Nun aber genug der Vorrede. Ich sage noch einmal allen, die hier an der Komischen Oper hochklassiges Musiktheater ermöglichten und ermöglichen, meinen Dank für 75 wunderbare Jahre und wünsche uns jetzt allen eine Gala voll von Erinnerung, aber auch voll von Zuversicht.