Vor gut einer Woche habe ich genau an dieser Stelle, hier in diesem Saal eine Rede zur gegenwärtigen Lage gehalten. Ich habe mich an die Menschen in unserem Land gewandt, weil wir ganz offenbar auf härtere Zeiten zusteuern und weil ich überzeugt bin, dass wir in dieser Krisenzeit mehr tun müssen, um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, auch die Widerstandskraft in unserer Demokratie zu stärken.
Die Jahre der Pandemie, jetzt der brutale russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, Inflation und steigende Energiepreise, nicht zuletzt die Veränderungen, die der Klimawandel uns abverlangt – all das führt auch in unserer Gesellschaft zu Verunsicherung, auch zu Spannungen, die spürbar sind, und zu Konflikten, wie wir hin und wieder sehen.
Wir erleben immer wieder Proteste von Menschen, die sich nicht gesehen, nicht gehört oder verstanden fühlen. Wir hören, dass der Ton in öffentlichen Debatten schärfer wird. Und vor allen Dingen erfahren wir, wie Populisten Sorgen und Ängste von Menschen ausnutzen, um Teile unserer Gesellschaft zunächst gegeneinander und dann auseinanderzutreiben.
In dieser Zeit des Gegenwinds und der Veränderungen müssen wir alles stärken, was uns verbindet! Denn nur gemeinsam können und werden wir unsere Freiheit und unsere Demokratie verteidigen. Nur gemeinsam wird uns der Übergang ins postfossile Zeitalter gelingen. Und nur gemeinsam werden wir es schaffen, unseren Kindern und Enkeln ein gutes Leben auf unserem Planeten zu ermöglichen.
Deshalb wünsche ich mir, dass noch mehr Menschen in unserem Land sich fragen, was sie für das gemeinsame Ganze, was sie für das Gemeinwesen tun können und tun wollen. Und deshalb wünsche ich mir eine breite und ernsthafte Debatte darüber, welche neuen Wege wir einschlagen können, um den Gemeinsinn und das Miteinander der Verschiedenen zu fördern, nicht nur in der Krise, sondern hoffentlich auf Dauer.
Wie stärken wir also, was uns verbindet? Das ist die Frage, die wir heute hier in Bellevue – zunächst auf dem Podium, dann mit Ihnen allen – diskutieren wollen. Hier im Saal sind Frauen und Männer unterschiedlichen Alters, verschiedener Generationen, die ihre Erfahrungen, Gedanken und Vorschläge mitgebracht haben: junge Erwachsene, die einen Freiwilligendienst absolvieren; schon etwas ältere Herren, die – so wie ich – Wehr- oder Zivildienst leisten mussten; Vertreter von Verbänden und Organisationen; Schüler der Ernst-Litfaß-Schule in Wittenau; nicht zuletzt Teilnehmer des Wettbewerbs Jugend debattiert
, die sich mit der Frage beschäftigt haben, ob in Deutschland eine allgemeine Dienstpflicht eingeführt werden soll oder eher nicht. Die Journalistin Anja Maier wird gleich die Moderation übernehmen und uns durch die Diskussion führen.
Ich freue mich sehr, dass Sie heute Vormittag mit dabei sind, entweder hier im Saal oder an den Bildschirmen. Seien Sie uns alle ganz herzlich willkommen hier im Schloss Bellevue!
Millionen Menschen in unserem Land kümmern sich täglich um ihre Kinder, um alte oder kranke Verwandte, um Freunde oder Kollegen. Millionen sind im Ehrenamt oder als freiwillige Helferinnen und Helfer für andere da, und das zumeist neben dem Beruf und der Familie. Wie viel Verantwortungsgefühl, Hilfsbereitschaft und Tatkraft tatsächlich in unserer Gesellschaft stecken, das haben wir zuletzt in der Corona-Krise und nach der Flutkatastrophe im Ahrtal erfahren, und wir erleben es seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine in unserem Land auch im fürsorglichen Umgang mit Flüchtlingen aus der Ukraine.
Das ist gut. Aber es gibt eben auch Anzeichen dafür, dass das bürgerschaftliche Engagement, das Rückgrat unseres Gemeinwesens, mancherorts schwächer wird. In unserer alternden Gesellschaft altert eben auch das klassische Ehrenamt, vor allen Dingen das in Vereinen und Organisationen; die Verantwortung verteilt sich auf weniger Schultern. Und in unserer vielfältigen Gesellschaft ziehen sich nicht wenige Menschen in ihre Lebenswelt oder in ihre digitale Social Bubble zurück, so dass sie kaum noch mit denen ins Gespräch kommen, die anders leben oder mit anderen Augen auf die Welt schauen als sie selbst.
Mein Eindruck ist, dass es in unserem Land an Begegnung und Austausch zwischen den Verschiedenen mangelt – zwischen Jungen und Alten, Armen und Reichen, Ost- und Westdeutschen, zwischen Städtern und Landbewohnern, zwischen hier Geborenen und Zugewanderten.
Man bleibt gerne und oft unter sich – im Wohnviertel, in den digitalen Netzwerken, in der Schule, am Arbeitsplatz, auch im Urlaub. Man umgibt sich mit Menschen, die einen ähnlichen Lebensstil pflegen, ähnliche politische oder religiöse Überzeugungen haben, die gleichen Kulturveranstaltungen besuchen, die gleichen Medien nutzen, ähnlichen Inhalten oder gleichen Influencern folgen.
Die Feststellung mag nicht ganz neu sein, das ist wahr. Aber die Entwicklung verschärft sich, wenn es immer weniger milieuüberschreitende Begegnungen und Begegnungsmöglichkeiten gibt. Ich rede gar nicht von den Mauern der so genannten Gated Communities, ich rede von den gläsernen Wänden, die um die relativ geschlossenen Gruppen, um die Lebenswelten gezogen sind. Lebenswelten, die kaum noch miteinander verbunden sind. Meine Sorge: Wenn wir das einfach nur noch zur Kenntnis nehmen, schulterzuckend gar, dann wird die Entfremdung innerhalb ein und derselben Gesellschaft, in der wir leben, zunehmen.
Denn wir wissen doch: Je weniger wir mit Menschen zu tun haben, die anders leben als wir, desto mehr schwinden Aufmerksamkeit, Verständnis und Respekt; desto mehr wachsen Misstrauen, Ängste, Vorurteile, Ressentiments; desto anfälliger werden wir für das Gift des Populismus. Je weniger wir mit Menschen zu tun haben, die anders denken als wir, desto mehr leidet unsere Fähigkeit zur vernünftigen Diskussion, vielleicht auch die Bereitschaft zum Kompromiss. Und je mehr wir uns in unseren Lebenswelten abschotten, desto mehr schwindet auch die Bereitschaft, sich für die Res publica, für das gemeinsame Ganze, für das Gemeinwesen einzusetzen.
Ja, wir wollen, wir brauchen Freiraum für unsere jeweils eigene Art zu leben, und es ist unsere liberale Demokratie, die gerade diesen Freiraum schützt. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir alle aufeinander angewiesen sind, nicht zuletzt als Bürgerinnen und Bürger. Demokratie geht nicht ohne Zusammenhalt, und sie geht nicht ohne unser aller Einsatz für dieses Gemeinwesen, in dem wir leben.
Und das Wichtige ist: Zusammenhalt und Gemeinsinn entstehen nicht einfach von selbst, sondern sie müssen im Miteinander der vielen Verschiedenen tatsächlich eingeübt werden. Deshalb haben wir allen Grund, Brücken zwischen den ganz unterschiedlichen einzelnen Gruppen unserer Gesellschaft zu bauen. Es muss uns vor allem gelingen, auch diejenigen zu erreichen, die ihr engeres soziales Umfeld nicht von sich aus verlassen würden. Menschen, die es schwer haben, ihren Alltag zu bewältigen, die mit manchem in unserer Gesellschaft hadern, die sich einen persönlichen Vorteil davon erhoffen oder es einfach bequemer finden, innerhalb der Grenzen ihres eigenen Milieus zu verbleiben.
Es ist ja auch nicht immer nur ein Vergnügen, aus der eigenen Lebenswelt, aus dem eigenen Milieu herauszutreten, eine Lebenswelt, in der man sich irgendwie eingerichtet hat. Es ist auch eine Zumutung, sich auf Menschen einzulassen, die anders sind als man selbst. Es kostet Überwindung. Es ist zuweilen anstrengend. Es verlangt uns ab, Konflikte auszutragen, Widersprüche auszuhalten, uns vielleicht sogar auch selbst in Frage zu stellen. Aber wer die Schwelle einmal überschritten hat, der merkt eben auch, dass Begegnungen und Beziehungen uns bereichern und beleben, dass andere Geschichten, Erfahrungen, Blickwinkel uns auch persönlich weiterbringen. Und der lernt vor allem, dass wir in der Demokratie Wir sagen können, ohne dabei unser Ich aufgeben zu müssen.
Deshalb bin ich überzeugt: Wir müssen öffentliche Räume verteidigen, Spiel- und Sportplätze, Museen, Bibliotheken, Theater und Konzertsäle, Orte der Allgemeinheit, nicht nur in den Städten, auch auf dem Land, an denen sich die Verschiedenen mischen, an denen sie sich im täglichen Miteinander oder im gemeinsamen Tun als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger unserer Republik erfahren.
Wir müssen Institutionen und Einrichtungen stärken, die Menschen aus verschiedenen sozialen Gruppen zusammenbringen: Kitas und Schulen, Hochschulen und Ausbildungsbetriebe, Vereine und Parteien, sozial gemischte Stadtteile oder Baugemeinschaften, in denen Respekt und Gemeinsinn eingeübt werden können.
Und wir müssen neue Wege finden, um Entfremdung entgegenzuwirken. Wir brauchen Ideen, wie es gelingen kann, dass mehr Frauen und Männer mindestens einmal in ihrem Leben eine Zeit lang aus ihrem gewohnten Umfeld herauskommen und sich den Sorgen ganz anderer Menschen widmen.
Vor einigen Monaten, Sie wissen das, habe ich eine Debatte über eine soziale Pflichtzeit angeregt. Eine solche Pflichtzeit braucht kein ganzes Jahr zu dauern, sie kann auch kürzer sein oder auf mehrere Lebensabschnitte verteilt werden. Man könnte den Dienst in sozialen Einrichtungen, in der Flüchtlingshilfe, in der Umwelt- und Klimaarbeit, im Katastrophenschutz oder auch bei der Bundeswehr leisten.
Mir war sehr, sehr klar von vornherein, dass dieser Vorschlag nicht nur Begeisterung hervorrufen würde. Aber mir ist wichtig, dass wir die Debatte über unser Engagement für das gemeinsame Ganze nicht nur beginnen, sondern fortsetzen. Und mir ist vor allen Dingen wichtig, dass diese Debatte jetzt nicht wieder im Nichts endet.
Deshalb wollen wir heute hier in Bellevue diskutieren, was für, was gegen eine soziale Pflichtzeit spricht, wir wollen aber auch über andere Vorschläge zur Stärkung des Gemeinsinns in unserem Land sprechen. Wie können wir zum Beispiel mehr Unternehmen dazu bewegen, mit gemeinnützigen Organisationen zu kooperieren und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hin und wieder ein soziales Sabbatical, eine Auszeit zu ermöglichen? Wie können wir junge Menschen für das klassische Ehrenamt – das wir brauchen! – gewinnen, für das Engagement in Vereinen, Parteien und Verbänden, auch auf der kommunalen Ebene, in Stadt- und Gemeindeparlamenten?
Ich bin überzeugt: Wir können an vielen Stellen ansetzen, um zu stärken, was uns verbindet. Und wir müssen dabei nicht bei null anfangen, weil es in unserem Land so viele Ideen und Erfahrungen gibt, so viele Menschen, die für andere da sind – und ich weiß, die meisten von Ihnen sind es und tun es.
Ich freue mich darüber, dass Sie hier sind, herzlich willkommen Ihnen allen, und vor allen Dingen freue ich mich auf das Gespräch, das Frau Maier jetzt übernimmt. Danke schön!