Die Macht und die Kraft des Buches, die große Bedeutung der Schrift, der formulierten Gedanken, die buchstäblich weltbewegenden Möglichkeiten, die in aufgeschriebenen Erfahrungen stecken, in Erzählungen und Beschreibungen, in Dramen und Gedichten, die Debatten und Diskussionen, die kritische Essays, politische Analysen, philosophische Erörterungen auslösen können – wo wird all das deutlicher als auf einer Buchmesse?
Ohne Zweifel: Die Frankfurter Buchmesse ist ein bedeutendes kulturelles, aber auch soziales und politisches Ereignis, ohne das unser Land, unsere Kulturnation Deutschland im Grunde kaum zu denken ist.
Aber diese Buchmesse ist nicht nur ein Ereignis für unser eigenes Land. Sie strahlt weit darüber hinaus und hat sich in den vielen Jahrzehnten einen großen internationalen Ruf erworben. Hier finden auch nicht nur bedeutende Geschäfte statt, werden Lizenzen vereinbart und Verträge abgeschlossen. Hier treffen sich vor allem Autorinnen und Autoren, Verleger und Agentinnen, aber auch Leserinnen und Journalisten aus allen Sprachen und allen Kulturen. Hier werden internationale Beziehungen geknüpft, und wer öfter hier ist, der weiß: auf eine sehr persönliche, individuelle Art und Weise.
Für die Besucherinnen und Besucher der Frankfurter Buchmesse sind Worte wie Weltliteratur
oder Begegnung der Kulturen
oder interkulturelle Debatten
keine abstrakten Begriffe, sondern persönlich erlebte Wirklichkeit, verbunden hier in Frankfurt mit einzelnen Namen und Geschichten.
In jedem Jahr stellt sich auf der Buchmesse ein Gastland mit seiner Literatur besonders vor. Das ist keine Nebensächlichkeit, nicht bloß höfliche Zierde. Viele deutsche Leserinnen und Leser, aber natürlich auch Verlage und Vermittler sind eben jedes Jahr sehr neugierig auf die Entdeckungen, die man gerade dadurch hier machen kann.
In diesem Jahr nun ist Spanien das Gastland. Und wer weiß, was sich daraus für neue Entdeckungen, für neue Erfolge oder Überraschungen entwickeln? Ich ahne, dass mit einem solchen Auftritt auf der Buchmesse immer große Hoffnungen und Erwartungen verbunden sind. Eines kann ich all unseren Gästen aus Spanien auf jeden Fall versichern, weil das die Erfahrung lehrt: Das deutsche Publikum ist gespannt, das Leseland Deutschland ist auf die Erfahrungen neugierig, die spanische Autorinnen und Autoren in ihren Büchern vermitteln.
Wie sieht die Welt in Spanien aus, wie ist die soziale und politische, die kulturelle und geistige Stimmung, die Gemütslage, welche Lebensformen werden probiert, welche Reflexionen auf Individuen und Gesellschaft sind in Spanien gerade lebendig? Und, das ist eine andere, nicht weniger interessante Frage: Wie wird die Welt, wie werden die globalen und internationalen Fragen von Spanien aus gesehen? Welche Sichtweisen auf die Welt, von Spanien aus betrachtet, können uns bereichern, können uns und unseren eigenen Blick auf die Welt in Frage stellen, uns eine neue Sichtweise ermöglichen?
Dass sich der Beginn der Buchmesse mit dem Staatsbesuch von König Felipe und Königin Letizia verbindet, zeigt die Bedeutung der Buchmesse als internationale kulturelle Plattform. Was hier geschieht, was man hier sehen und hören kann, was hier an Begegnung und Austausch geschieht, das hat eine so große Bedeutung, dass Ihre Majestäten uns die Ehre geben und heute dabei sind. Und dafür danken wir alle ihnen sehr!
Mit Spanien als Gastland haben wir einerseits die reichhaltige spanische Kultur selbst zu Gast, wo neben dem kastilischen Spanisch auch großartige und selbstbewusste katalanische, baskische und galicische Literatur geschrieben wird. Aber auch die weltweite spanischsprachige Literatur rückt für uns neu in den Blick. Gerade viele süd- und mittelamerikanische Autorinnen und Autoren haben ja bei uns in Deutschland auch schon eine große und treue Lesegemeinde gefunden.
Spätestens seit Cervantes vor weit mehr als vierhundert Jahren der Welt seinen Don Quijote geschenkt hat, dieses klassische Meisterwerk, das bis heute seine Leser fasziniert, findet die spanische Literatur auf der ganzen Welt Beachtung. Ich werde jetzt keine weiteren großen Namen aus der ruhmreichen Vergangenheit aufzählen, sondern, wie es sich für die Aktualität einer gegenwärtigen Messe gehört, direkt in die Gegenwart springen.
Ich freue mich, dass ich gerade die Gelegenheit hatte, mit den beiden Autoren zu sprechen, die gleich hier für ihre Literatur das Wort ergreifen werden: Irene Vallejo und Antonio Muñoz Molina. Bei Irene Vallejo fügt es sich besonders gut, dass sie ein faszinierendes, bis jetzt schon sehr erfolgreiches Buch über die Bedeutung des Buches und gleichzeitig eine Liebeserklärung an die Bibliotheken geschrieben hat. Auf Deutsch heißt es Papyrus: Die Geschichte der Welt in Büchern
.
Es beginnt mit der Bibliothek von Alexandrien, dem Weltwunder des Weltwissens, von der wir, da sie komplett zerstört wurde, nur noch aus Erzählungen und Berichten und eben jetzt aus dem Buch von Irene Vallejo wissen. Die Bücher flüstern einander in einem ewigen Dialog zu, wie in der berühmten Szene in der Berliner Staatsbibliothek aus Wim Wenders‘ Film Der Himmel über Berlin
. Sie, die Bücher, bewahren und beschützen das große Wissen von allem, wie es auch der auf Spanisch schreibende, unendlich gelehrte Autor und Bibliothekar Jorge Luis Borges immer wieder gezeigt hat. Seine Erzählung Die Bibliothek von Babel
, schreibt Irene Vallejo, führt uns in eine wundersame Bücherwelt, das vollständige Labyrinth der Träume und Wörter
. Und er wiederum, Jorge Luis Borges, war das Vorbild für den blinden Bibliothekar Jorge von Burgos in Umberto Ecos Der Name der Rose
. Eine Bibliothek, so lernen wir dort allerdings, kann nicht nur der Ort unendlichen Wissens sein, sondern manchmal auch ein Ort für Mord und Niedertracht und Unterdrückung von Wissen.
Ja, es sind gewiss die Bücher, die uns die Welt beschreiben, die uns die Welt erklären, die uns die Welt verständlich werden lassen. Und es sind die Bücher, die uns die Welt und ihren jeweiligen Zustand kritisch sehen lassen, die uns dialog- und diskutierfähig machen, die uns den immer großen Unterschied deutlich machen zwischen der Welt, wie sie ist – und der Welt, wie sie sein könnte oder sein sollte.
Aber wir wissen: Bücher befördern nicht immer nur das Gute. Es ist nicht immer so, wie ein optimistisches Motto der diesjährigen Messe verkündet: Worte verbinden Welten.
Es gibt schlimme und verlogene Bücher, es gibt zum Bösen, zur Feindschaft, zur Unmenschlichkeit verführende Schriften. Kein Krieg, das erleben wir ja auch jetzt wieder, ohne Pamphlete, ohne selbstrechtfertigende Reden, ohne Kampfschriften und leider auch nicht ohne hasserfüllte Bücher und Artikel.
Und ganz bewusst möchte ich an dieser Stelle einfügen: Die Zerstörung von Bibliotheken, von Verlagen, die schweren Folgen, die der Krieg für das gesamte Buch- und Verlagswesen in der Ukraine hat, das darf uns nicht nur empören, sondern muss uns alle zur Hilfe und Unterstützung motivieren. Ich bin mir sicher: Auch hier auf der Buchmesse werden sich unter den Ausstellern nicht wenige finden, denen die Hilfe für den Wiederaufbau von Buch- und Verlagswesen in der Ukraine selbstverständlich ist. Ich danke Ihnen allen, die dazu bereit sind, schon jetzt. Diese materielle Hilfe, die dort dringend gebraucht wird, ist in einem sehr tiefen Sinn auch ein Dienst an der Wahrheit: ein Akt im Kampf gegen die mörderische Lüge und im Kampf für die Aufklärung.
Auch der Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan, dem am Sonntag in der Paulskirche der diesjährige Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wird, hat seit der Besetzung der Krim im Jahre 2014 auf bewundernswerte Weise soziales und kulturelles Engagement in der Ostukraine vorgelebt und dies mit Beginn des brutalen russischen Angriffskrieges noch einmal verstärkt, auch unter großen persönlichen Risiken. Von hier aus sage ich ihm dafür meinen Dank und meinen herzlichen Glückwunsch zum Friedenspreis!
Ohne Bücher gibt es keine Aufklärung. Die Geschichte der großen europäischen Bibliotheken ist untrennbar mit der Geschichte der Aufklärung verknüpft. Gerade vor einem halben Jahr war ich in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, einer der bedeutendsten deutschen Bibliotheken, die 450 Jahre alt wurde. Einer ihrer Bibliothekare war der große Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing.
Der Philosoph Hans Blumenberg hat einen seiner geistesgeschichtlichen Problemkrimis Die Lesbarkeit der Welt
genannt. Dieser wunderbare Titel beschreibt auch die eigentliche Verheißung der Bibliotheken, ja eigentlich jedes guten Buches: dass die Welt nämlich lesbar
ist, dass sie verständlich und erklärbar, dass sie der Vernunft zugänglich ist. Die Bücher sind nicht bloß eine Metapher für diese Lesbarkeit der Welt
– sie sind das unverzichtbare Mittel genau dafür, die Welt, unser Leben, unsere Gesellschaft, kurzum: uns selbst verstehen zu können.
Niemand kann alle Bücher in ihrer jeweiligen Sprache lesen. Darum ist die Arbeit der Übersetzerinnen und Übersetzer so unersetzlich. Ich freue mich deswegen, dass die diesjährige Buchmesse auf das Übersetzen, auf seine große Kunst und sein Handwerk auf eine besondere Weise aufmerksam macht durch das eigens eingerichtete Internationale Zentrum für Übersetzung. Einen herzlichen Dank an alle Übersetzerinnen und Übersetzer!
Das mehrdeutige Motto, unter dem diese Aktion steht, kann für den Geist der Buchmesse insgesamt stehen: Translate. Transfer. Transform.
Indem wir nämlich übersetzen, transferieren wir andere Gedanken, andere Lebensweisen, andere Reflektionen in unser eigenes Denken und in unser eigenes Leben. Und so geschieht immer wieder Veränderung.
Ich wünsche uns und Ihnen allen, dass die Frankfurter Buchmesse 2022 ein Lichtblick ist in verdunkelter Gegenwart. Und ich freue mich auf den Stapel neuer spanischer Literatur, der in meinem Wintergarten angewachsen ist, auf das Knistern beim Umschlagen der ersten Seiten eines neuen Buches, auf das Eintauchen in die Welt des antiken Alexandria, das gemeinsame Warten auf Cecilia, auf den Flug mit Aramburus Mauersegler und auf so vieles mehr.