Ortszeit Rottweil
– unter dieser Überschrift standen die drei Tage, die ich hier verbracht habe. In denen Rottweil auch Amtssitz des Bundespräsidenten war: Das ist die Idee der Ortszeit. Dass ich nun zum Abschluss Sie alle, engagierte Bürgerinnen und Bürger aus ganz Baden-Württemberg, hier in diesem wunderschönen ehemaligen Kloster auszeichnen darf, das ist mir eine ganz besondere Freude. Ortszeit in Rottweil, das ist eben auch Ordenszeit.
Bevor wir dazu kommen, will ich Danke sagen. Ich bin dankbar für die überwältigende Gastfreundschaft, lieber Herr Oberbürgermeister, lieber Ralf Broß. Es war mir ein Herzensanliegen, hier mit vielen Menschen ins Gespräch zu kommen, zu hören, was sie bewegt. Denn genau darum geht es bei der Ortszeit Deutschland: um Gespräche, um Austausch mit Ihnen, den Bürgerinnen und Bürgern, auch in spontanen, ungeplanten Begegnungen.
Wichtig ist mir, die Perspektive zu wechseln, mir vor Ort ein Bild zu machen und – abseits der Hauptstadtgespräche in Berlin – zu hören, was die Menschen beschäftigt, was sie sorgt und was sie ärgert. Aber auch, was ihre Hoffnungen sind, was sie erwarten von der Politik, was sie sich erträumen. Ich höre dabei ganz Unterschiedliches. Aber eines wird deutlich: Viele Menschen erleben diese Zeit als tiefe Krise. Viele Menschen treiben die gleichen Fragen um – Fragen, die auch mich umtreiben: Wo steht unser Land nach zwei Jahren Pandemie, und wie gelingt es uns, als Gesellschaft wieder miteinander ins Gespräch zu kommen? Wo stehen wir nach mehr als drei Monaten Krieg in Europa, einem brutalen Überfall Russlands auf die Ukraine, der so unendlich viel Leid für die Menschen in der Ukraine bringt? Einem Krieg, der uns alle zutiefst erschüttert und der so viele Gewissheiten der letzten Jahrzehnte schon jetzt hinweggefegt hat. Einem Krieg, dessen Folgen auch die Menschen in unserem Land zu spüren bekommen. Mich interessiert ganz besonders, was die Menschen von Politik erwarten – gerade jetzt. Worauf vertrauen die Menschen? Wenn Vertrauen fehlt: Wie kann es wiederhergestellt werden? Um darüber zu sprechen und zu diskutieren, bin ich hier – durchaus auch kontrovers wie gestern an einer Kaffeetafel. Politik – die großen Fragen im Kleinen – greifbar zu machen, darum geht es bei der Ortszeit. Auch zu erklären, wo die Möglichkeiten der Politik liegen, wo ihre Grenzen.
Ortszeit, das ist auch eine Antwort auf die unterschiedlichen Lebenswelten in unserem Land. Wer wie die meisten von Ihnen in einer ländlichen Region lebt, der hat andere Erfahrungen und andere Erwartungen als die Menschen in den großen Städten. Was in den großen Städten selbstverständlich ist, ist es im ländlichen Raum keineswegs. Für die Menschen im ländlichen Raum ist es existenziell, dass es auch hier eine gute ärztliche Versorgung und einen funktionierenden öffentlichen Nahverkehr gibt, dass die Kinder in die Schule gehen können und die Menschen Arbeit und, auch das sehr wichtig, Zugang zu guter digitaler Infrastruktur haben. Wer das alles vor der Haustür hat, kann schlecht nachvollziehen, wie es denen geht, die auf Facharzttermine drei Monate warten müssen. Ich weiß, so mancher von Ihnen erlebt eine wachsende Entfremdung zwischen Stadt und Land, zwischen der Hauptstadt und der sogenannten Provinz. Ich nehme das sehr ernst.
Mir ist es wichtig, dass wir diese unterschiedlichen Lebenswelten kennen und nicht ignorieren, sondern im Gespräch miteinander bleiben – und auch deshalb bin ich ganz besonders gespannt auf das Gespräch mit Ihnen, Bürgerinnen und Bürgern, die sich seit vielen Jahren für unser Land engagieren. Mir ist wichtig, dass die unterschiedlichen Erfahrungen und Bedürfnisse sich in unseren öffentlichen Debatten besser widerspiegeln. Dass die Menschen sich gehört fühlen.
Für die beiden ersten Ortszeiten habe ich bewusst Orte im Osten Deutschlands gewählt, Altenburg in Thüringen und Quedlinburg in Sachsen-Anhalt. Denn ich bin überzeugt: Auch mehr als dreißig Jahre nach Friedlicher Revolution, Mauerfall und Wiedervereinigung wirken die Folgen des Umbruchs von damals im Leben vieler Menschen im Osten Deutschlands nach. Und viele ihrer Geschichten und Biografien sind noch immer nicht ausreichend erzählt.
Die dritte Ortszeit hat mich nun hierher nach Rottweil geführt, in den Südwesten Deutschlands. Eine Region mit einer stolzen, reichen Geschichte, die nicht nur geografisch nah an der Schweiz und an Frankreich liegt, sondern auch historisch und kulturell von dieser Nähe geprägt ist. Berlin ist weit weg und auch die Politik in der Hauptstadt, das habe ich bei dieser Ortszeit immer wieder gehört. Wir werden darauf sicher gleich noch zu sprechen kommen.
In diesen drei Tagen habe ich Kritisches gehört, aber noch mehr gelernt über Rottweil und seine Bürger. Ich habe erlebt und gespürt, wie lebendig in Rottweil Geschichte und Tradition sind, wie stolz die Menschen darauf sind, und das völlig zu Recht. Damit meine ich nicht, dass sie einfach in Tradition, in Geschichte oder gar im Gestern verharren. Im Gegenteil: Mich hat es sehr beeindruckt, wie der Brückenschlag zwischen Tradition und Moderne gelingt, zwischen Bewahren und Aufbruch.
Und noch etwas habe ich in diesen drei Tagen erlebt und gespürt: wie lebendig die Demokratie ist, wie sehr die Stadt Rottweil und die ganze Region geprägt ist von bürgerschaftlichem Engagement, von bürgerschaftlichem Selbstbewusstsein, das sich nicht verschließt vor neuen Herausforderungen der Gegenwart. Die Menschen mischen sich ein, sie wollen beteiligt sein, wollen mitgestalten. So mancher Konflikt konnte durch verschiedene Formen der Bürgerbeteiligung befriedet werden, wie mir Oberbürgermeister Ralf Broß erzählt hat – ich denke dabei an den Neubau der Justizvollzugsanstalt oder den Bau des Testturms –, und auch das hat mich sehr beeindruckt.
Wenn ich von bürgerschaftlichem Engagement spreche, dann meine ich aber vor allem Menschen wie Sie. Menschen, die etwas tun, nicht für sich, sondern für andere. Und deshalb freue ich mich sehr, Sie, vier Frauen und vier Männer, heute mit dem Bundesverdienstkreuz auszuzeichnen. Das gehört zu den schönsten Pflichten des Bundespräsidenten! Oft kann ich diese Auszeichnung gar nicht persönlich aushändigen, denn es sind – und das ist ein großes Glück für unser Land – so viele Menschen, die sich engagieren. Heute aber schon, und ich freue mich, lieber Herr Ministerpräsident, lieber Winfried Kretschmann, dass Sie heute dabei sind!
Liebe künftige Ordensträgerinnen und Ordensträger, es ist ein kostbares Geschenk, das Sie unserem Land machen. Sie engagieren sich, Sie helfen anderen: mit großartigen Ideen, mit Kreativität, Leidenschaft und Beharrlichkeit. Sie haben dafür jahrelang viel Zeit aufgebracht, an langen Abenden und am Wochenende. Und Sie tun das auch jetzt noch, in Ihrem Ruhestand.
Sie alle tragen mit Ihrem Einsatz, mit Ihrem Engagement dazu bei, dass unser Land zu einem besseren wird. Sie stärken den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, und das ist unermesslich wichtig in einer Zeit, die wir als Krise erfahren. Ohne Zusammenhalt kann eine Demokratie nicht funktionieren. Sie braucht Menschen wie Sie! Denn das ist es doch, was eine Demokratie ausmacht: dass Menschen sich beteiligen, sich einsetzen, einmischen, dass sie nicht nur fragen, was ihr Land für sie tut, sondern dass sie etwas für das Land tun. Ohne diesen bürgerschaftlichen Geist von Menschen wie Ihnen wäre unser Land ärmer. Und ich bin überzeugt, dass wir noch sehr viel mehr von diesem Geist brauchen werden, um die riesigen Umwälzungen, vor denen wir in den nächsten Jahren und Jahrzehnten stehen, anzupacken und zu meistern.
Ich möchte Ihnen allen heute aus ganzem Herzen danken für Ihren Einsatz, für Ihr Engagement! Und ich freue mich, dass wir gleich beim Empfang noch miteinander ins Gespräch kommen.